Fluchtgeschichten

Das Projekt „Fluchtgeschichten“ sammelt und publiziert Reflexionen geflüchteter Menschen in der Schweiz

Einleitung zum Projekt

Philosophische Gedanken entstehen nicht nur in den Seminarräumen der Universität. Verschiedene Bereiche der sogenannten ‘alltäglichen Welt’ sind von Reflexionen philosophischer Art durchdrungen. Diese werden allerdings nur selten aufgezeichnet oder gar publiziert. Im Besonderen trifft dies auch auf die Überlegungen von und über Menschen zu, die aus ihrem Heimatland in die Schweiz flüchten mussten. Das Projekt „Fluchtgeschichten“ versucht dem entgegenzuwirken, indem Reflexionen geflüchteter Menschen und ihnen Nahestehende zu diversen Themen – beispielsweise Freiheit, Heimat, Gleichstellung, ihrer Situation in der Schweiz – gesammelt und publiziert werden.

Das Projekt verfolgt dabei zwei Hauptziele: Zum einen möchte es Personen, die sonst wenig Gehör in den öffentlichen und philosophischen Diskussionen der Schweiz erhalten, eine Plattform bieten. Zum anderen soll mit einer Form des Philosophierens experimentiert werden, welche Probleme der praktischen und politischen Philosophie kooperativ und unter Berücksichtigung ausserakademischer Standpunkte behandelt. 

Im Rahmen dieses Projekts veröffentlichen wir deshalb Texte von Menschen, die selbst geflüchtet sind und/oder in engem Kontakt zu Geflüchteten stehen, sei es durch Freiwilligenarbeit, ihren Job oder aus Freundschaft. Neben den Erfahrungsberichten und Reflexionen werden auch vereinzelt akademische Beiträge zum Thema Flucht und Migration veröffentlicht.

Auf dieser Seite werden zuerst einige Grundgedanken und Erklärungen zum Projekt dargelegt. Weiter unten auf der Seite finden Sie dann einen Überblick über alle Texte, die im Rahmen von "Fluchtgeschichten" veröffentlicht wurden und alle laufenden Workshops.

 

Grundgedanken 

Als ich dieses Projekt im Januar 2023 übernehmen konnte, habe ich mich einerseits gefreut, andererseits fühlte ich mich ratlos. Wie bei allem, mit dem man sich lange und genau beschäftigt, ist mir in den letzten Jahren das Wort "Geflüchtete:r" zwischen den Fingern zerronnen. Was heisst das, geflüchtet zu sein? Ein, wie es oft heisst, "Flüchtling" zu sein? Was verbindet Geflüchtete ausser eben dies, dass sie flüchten mussten? Reicht das für eine Identität? Ein Teil der Identität? Eine Zugeschriebene? Eine Freiwillige?

Darüber hinaus fühlt es sich schnell anmassend an, als nicht-geflüchtete Person Geflüchteten “eine Plattform” anzubieten. Worin liegt meine Rolle in diesem Projekt? Was kann ich beitragen, ohne in einer Art und Weise über andere Menschen zu sprechen, in der sie sich selbst nicht wiedererkennen? Um auf diese Fragen einzugehen, werde ich zuerst über meine eigenen Erfahrungen sprechen, in der Hoffnung, dass sie eine Brücke bilden, auf der sich die Geschichten anderer Menschen begegnen können.  

In den letzten Jahren habe ich als Mitglied des Vereins Pfasyl viele Menschen kennengelernt, die aus ihren Heimatländern flüchten mussten. Eine Gruppe junger Menschen und ich gingen jeden zweiten Sonntag ins städtische Durchgangszentrum; das sind Zentren in denen Familien, Paare und Einzelpersonen wohnen und auf den Entscheid der Migrationsbehörde warten, ob Sie zurückgeschickt, vorläufig oder definitiv in der Schweiz aufgenommen werden. Meine Freund:innen und ich organisierten jeweils ein Nachmittagsprogramm für die Kinder, unternahmen etwas mit den Familien oder tobten einfach auf dem nahegelegenen Spielplatz herum. Je mehr Familien und Einzelpersonen ich kennen lernte, desto klarer wurde mir, wie unterschiedlich ihre Geschichten sind. Das mag für die einen banal klingen, und doch hatte ich, wie wahrscheinlich viele andere auch, Bilder und Stereotype im Kopf von "Syrerinnen", von "Afghanen", "Eritreerinnen".  Aber durch zahlreiche Gespräche, in denen ich auch mit meinen eigenen Vorurteilen konfrontiert wurde, zerfielen diese Bilder. Das Wegfallen dieser gefärbten Brille hat mir ironischerweise die Sicht freigegeben auf Gemeinsamkeiten der Erfahrung, geflüchtet zu sein. Beispielsweise seine Heimat verlassen zu müssen, vielleicht sogar seine Familie, sich tagtäglich durch all die Unterschiede zu wühlen, sich ein neues Land, eine neue Sprache, neue Selbstverständlichkeiten erschliessen zu müssen, oft auch diskriminierende Erfahrungen zu machen. Viele teilten aber auch scheinbar banale, alltägliche Erfahrungen, beispielsweise zu lernen, dass "Tee" in der Schweiz meistens Kräutertee meint statt Schwarztee. Es heisst auch, Erfahrungen der Flucht gemacht zu haben, die für andere schwer zu verstehen sind. 

Sichtbar wurden in diesen Momenten auch so viele Gemeinsamkeiten zwischen mir und einzelnen geflüchteten Personen. Beispielsweise die gemeinsame Vorliebe für Schokolade und Abneigung gegenüber Koriander; die Angewohnheit, sich nach der Schule oder Arbeit im nächstgelegenen Freibad an die Sonne zu legen; der Wunsch, weniger Zeit am Smartphone zu verbringen…

In der Komplexität der persönlichen und geteilten Erfahrungen lässt sich auch das paradox scheinende Ziel von "Fluchtgeschichten" verstehen: Dadurch, dass "den Geflüchteten" eine Plattform für ihre Geschichten und Überlegungen gegeben wird, zu merken, dass es "die Geflüchteten" als Gruppe nicht gibt. Denn was das alles für eine Einzelperson bedeutet, kann sich stark voneinander unterscheiden. Auch ist Geflüchtet-Sein vielmehr ein Teil eines Menschen und dieser Teil oder diese Rolle ist mal relevant und mal nicht. 

Das Projekt versucht deshalb mit Labels und Kategorien umgekehrt umzugehen: Anstatt Menschen an sich anhand von Merkmalen zu gruppieren (“Die Männer”, “Die Geflüchteten”) sammelt “Fluchtgeschichten” Texte von Menschen, die neben anderen Erfahrungen auch Fluchterfahrungen gemacht haben. Das heisst in der Konsequenz, dass ein einzelner Erfahrungsbericht nicht die Ansicht “der Geflüchteten” wiedergibt, sondern die Ansicht eines Menschen, mit vielen Erfahrungen, die man selber teilt oder nicht, mit einer Persönlichkeit, die einem vielleicht sympathisch ist oder nicht, mit einer Meinungen, derer man vielleicht zustimmt oder nicht. Das ist wichtig für einen offenen Dialog. Um genau zuzuhören, muss für einen Moment der Drang beiseitegelassen werden, zu gruppieren und nach der “allgemeinen Erfahrung” eines Geflüchteten zu suchen. 

Für Menschen mit Fluchterfahrung bietet diese Plattform hoffentlich eine Möglichkeit, Erfahrungen und Gedanken mitzuteilen und auszutauschen.

 


 

Beiträge

Die Beiträge zum Projekt “Fluchtgeschichten” orientieren sich an philosophischen Fragen oder erzählen frei. Sie werden anonym oder mit Namen veröffentlicht. 

 

AG Nothilfe Bern

Durch eine Zusammenarbeit mit der Aktionsgruppe Nothilfe Bern wurde es möglich, erste Beiträge zu sammeln. Diese Beträge wurden zuerst auf der Website der Gruppe veröffentlicht und ich durfte Sie hier erneut publizieren.

Die Aktionsgruppe setzt sich in erster Linie für die Verbesserung der Situation von Menschen in Nothilfe ein. Nothilfe betrifft Asylsuchende, deren Antrag abgelehnt wurde, die aber aus verschiedenen Gründen von der Schweiz nicht gezwungen werden können, in ihr Heimatland zurückzukehren. Sie leben in engen Rückkehrzentren von gerade mal acht Franken am Tag, ohne dass es ihnen erlaubt ist, zu arbeiten. Ihre Bewegungsfreiheit wird massiv eingeschränkt durch ständige Kontrollen. Verschiedene Helfer:innen sprechen von einem Regime seitens der Migrationsbehörden, das den Menschen ihren Aufenthalt so unangenehm machen möchte, dass sie freiwillig dorthin zurückkehren, wohin sie die Schweiz nicht abschieben darf. Welche kafkaesken Zustände dies annehmen kann, berichtet eine Unterstützerin in einem Beitrag.

Für die Menschen, die unter diesen Umständen leben müssen, ist dies äussert schwer. Dolma, die bereits seit sieben Jahren in der Schweiz lebt, berichtet von den Schwierigkeiten, den Alltag in einer völlig neuen Umgebung zu bestreiten; den Problemen in ihrem Heimatland und ihrer prekären Situation in der Schweiz:

“Wir dürfen nicht arbeiten.

Wir dürfen keine Schule besuchen.

Wir dürfen nicht reisen.

Wir sind Menschen ohne Zukunft.”

In einem anderen Beitrag schildert Tingle Gyltsen, wie er sich in der Schweiz an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlt; wie die Behandlung durch die Behörden kaum mehr menschlich ist; und wie der Nachweis der eigenen Identität enorm schwierig sein kann. Neben den persönlichen Geschichten und Erfahrungen, die in diesen Beiträgen auch immer eine zentrale Rolle spielen, zeigt sich vor allem auch, dass diese Menschen klar artikulierte politische Positionen bezüglich ihrer Situation in der Schweiz beziehen. Ein Brief von Bewohner:innen des Rückkehrzentrums Biel-Bözingen zeigt dies auf eindrückliche Weise. In all diesen Beträgen findet eine Reflexion menschlicher Grundbedürfnisse und deren konkrete politische Konsequenzen im schweizerischen Migrationssystem statt, die gehört werden sollte.

 

Schreibwerkstatt Sentitreff

Im Sentitreff einem Quertiertreffpunkt an der Baslerstrasse in Luzern fand am 28.01.2022 eine Schreibwerkstatt statt, in welcher die Teilnehmenden selbständige Texte darüber schrieben konnten, wie sie die Schweiz wahrnehmen, was für Erfahrungen sie hier gesammelt haben und welche Vorstellungen zu möglichen Veränderung und Verbesserungen sie sehen. Die Schreibwerkstatt war die erste dieser Art, die ich gleitet habe, und sie wäre ohne die Mithilfe des Sentitreffs nie zu Stande gekommen, wofür ich sehr dankbar bin.

Die Schreibwerkstatt gestaltete sich so, das wir einen Morgen lang zusammen Texte schrieben, wobei ich versucht habe, nur am Rande gewisse Ideen vorzuschlagen. Den Teilnehmenden war es frei gestellt in ihrer Muttersprache oder auf Deutsch die Texte zu fassen. Ungefähr die Hälfte der Texte entstanden auf Deutsch, die anderen wurden in verschiedensten Sprachen – Amharisch, Türkisch, Farsi – geschrieben und ich habe sie dann mit der Hilfe Freiwilliger versucht zu übersetzen.

Die Texte befassen sich mit unterschiedlichen Dingen. Als Vorschläge wurden Fragen vorgegeben, welche die Teilnehmenden beantworten konnte. „Was möchte ich der Schweiz sagen?“, „Was bedeutet Freiheit für mich?“, „Was bedeutet für mich Integration“ und „Was ist meine Geschichte?“. Manche der Teilnehmenden haben sich dazu entschieden alle Fragen zu beantworten, mache nur einen Teil. Wieder andere haben einen der angesprochenen Aspekte weiterentwickelt und ihn kritisch beleuchte. So auch der Text, welcher im Moment noch fehlt, der sich kritisch mit der Integration in der Schweiz auseinander Gesetz hat.

Die Texte konnten auch anonym oder nur unter dem Vornamen publiziert werden. Die Titel der Texte wurden mehrheitlich von mir im Nachhinein hinzugefügt und sind sehr allgemein gehalten, um nicht eine bestimmte Lesart vorzugeben.

Ich möchte mich an diese Stelle noch einmal herzlich bei allen Autor:innen und Helfer:innen bedanken, die dieser Schreibwerkstatt möglich gemacht haben. Die Texte und Gespräche haben sicherlich meine Sicht auf die Schweiz verändert und ich hoffe, dass die hier versammelten Texte dies auch bei anderen bewirken können.       

 

Kooperationen und verwandte Projekte

  • Der Verein Alle Menschen in Biel bietet Hilfestellungen für abgewiesenen Asylsuchende. Dessen Mitglieder haben das Projekt "Fluchtgeschichten" in der Anfangs- und Planungsphase massgeblich unterstützt haben.
  • Die Aktionsgruppe Nothilfe Bern hat bei der Planung des Projekts geholfen. Ein teil der Texte stammt aus einem Workshop 
  • Der Sentitreff ist ein Quartiertreff in Luzern und hat für Fluchtgeschichten einen Schreibworkshop mitorganisiert.

 

Siehe auch

 

Literatur

  • Carolin Emcke: Kollektive Identitäten, Campus Verlag (2000)
  • Bundeszentrale für politische Bildung "Kollektive Identitäten"