Namenlos?

Die Geschichte einer Flucht und des Kampfes darum, ankommen zu dürfen

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    Ich treffe sie, die lieber anonym bleiben möchte und die ich von nun an Mia nennen werde, in einem Garten in Biel. Ihr Sohn, der neben uns spielt, und ihr Mann, der noch bei der Arbeit ist, sind schon seit einiger Zeit offiziell Teil der Schweiz, «legal» wie mache zu sagen pflegen. Mia musste hingegen bis vor kurzem auf die Entscheidung warten, ob sie Asyl erhält und bleiben darf. Mehr als 10 Jahre nachdem sie in die Schweiz gekommen ist.
     

    Fliehen

    Ihre Geschichte begann in Äthiopien in einem kleinen Dorf auf dem Land. Die gesellschaftlichen Bedingungen sind dort alles andere als vorteilhaft für junge Mädchen: Kaum Chancen, eine Ausbildung abzulegen und die Erwartung, sehr jung zu heiraten und eine Familie zu gründen. Auch sexuelle Gewalt ist leider keine Seltenheit. Und so spricht auch Mia davon, wie sie «Probleme» mit Männern, insbesondere ihrem Onkel hatte. Und das im Alter zwischen 12 und 13 Jahren, ohne dass ihr ihre Familie helfen wollte. 
    Diese Erlebnisse sexueller Gewalt, die sie bis heute prägen, und die Perspektivlosigkeit des Lebens als Frau waren dann auch der ausschlaggebende Grund für ihre Flucht. Zuerst auf dem Landweg innerhalb von Äthiopien: von ihrem Dorf in eine nahegelegene Stadt und von dort in die Hauptstadt Addis Abeba – oder kurz: Addis.
    In Addis konnte Mia sich für eine gewisse Zeit als Aushilfe bei einer Familie durchschlagen. Aber auch wenn die Bedingungen dort nicht gleich schlecht waren wie auf dem Land, bot die Stadt doch keine ausreichenden Perspektiven für junge Menschen, vor allem nicht für Frauen. So begab sie sich auf eine erste Reise ausser Landes: nach Dubai.
    In Dubai, wo sie sich auch mit vermutlich schlecht bezahlter und unter miserablen Bedingungen stattgefundener Arbeit über Wasser hielt, vermochte sie nicht lange zu bleiben. Nach einem Jahr fand sich Mia zurück in Addis wieder. Und stand vor den gleichen Problemen wie zuvor.
    Sie entschloss sich zu einem zweiten Fluchtversuch. Und dieses Mal sollte es für immer sein. Ihr Ziel: In Europa ein neues Leben zu beginnen und endgültig den Zwängen ihrer Heimat zu entkommen.
    Das Erreichen dieses Ziels war es ihr wert, sich auf den gefährlichen Weg durch Libyen und über das Mittelmeer nach Europa zu begeben.
    Den ersten Teil ihrer Reise legte sie in einem Pick-up Truck zurück, quer durch die Wüste des Sudans, mit etwa 25 Personen auf der Ladefläche. Nicht alle überlebten das. Vier Personen fielen der Hitze, dem Hunger, dem Durst und der Erschöpfung zum Opfer, die sie alle auf der Flucht begleiteten.
    Mia möchte nicht von allen Teilen ihrer Reise gleich detailliert erzählen. Insbesondere über ihre Zeit in Libyen schweigt sie sich, bis auf einige Hinweise, dass es auch dort «Probleme» mit Männern gegeben hätte, aus. Zu traumatisierend seien die Erfahrungen, die flüchtende Frauen dort machen müssen. Die Spuren, welche sie davontragen, reichen von schweren psychischen Erkrankungen bis HIV und Aids.
    Von Libyen aus nahm sie ein Boot über das Mittelmeer. Nach der beschwerlichen und gefährlichen zweitägigen Überquerung erreicht Mia Italien, wo sie sich zwei Monate lang aufhielt. Mit Hilfe des Geldes, welches sie trotz der widrigen Umstände mitzunehmen vermochte, konnte sie bei einem Schlepper ein Ticket zur Weiterreise ergattern. Dass sie der Weg weiter in die Schweiz führen würde, wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das entschied der Schlepper.
     

    Ankommen

    Nach einer solch langwierigen und erschütternden Flucht, könnte man annehmen, dass sie mit der Ankunft in der Schweiz ihr Ziel erreicht hat. Doch dies war weit gefehlt. Die Odyssee hatte gerade begonnen und führte weitere 10 Jahre lang durch die Mühlen der Schweizer Bürokratie, bis endlich klar war, dass Mia in der hierbleiben darf.
    Die erste Station in der Schweiz war Basel. Hier hielt sich Mia einen Monat lang in einem Auffangzentrum gemeinsam mit einer Freundin auf, die sie in Libyen kennen gelernt hatte und die, wie sie aus Äthiopien stammte. Von Personen, die sie in Basel kennen lernten, wurde ihnen geraten, sich als Schwestern auszugeben und zu behaupten, dass sie aus Eritrea stammen würden. Dies würde ihre Chancen bei den Schweizer Migrationsbehörden erhöhen, so der Ratschlag. Mia setzte diese Idee um, gab den Nachnahmen ihrer Freundin als ihren eigenen an und behauptete gegenüber dem Staatssekretariat für Migration (SEM), gemeinsam mit ihr aus Eritrea geflüchtet gewesen zu sein.
    Während ihr Antrag geprüft wurde, verlegte das SEM sie aus dem Auffanglager in Basel in ein Durchgangszentrum, oder auch Verfahrenszentrum genannt, in der Nähe von Thun. Dort hielt sie sich zwei Jahre lang gemeinsam mit ihrer «Schwester» auf.
    Die Lebensbedingungen waren eine Herausforderung. Zu fünft teilten sie sich ein Zimmer. Alles Frauen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und traumatisierenden Fluchterlenbissen. Spannungen zwischen den Bewohnerinnen waren an der Tagesordnung. Und es kam sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mia und einer anderen Bewohnerin.
    Wegen der Spannungen mit anderen Bewohner*innen wurde sie gemeinsam mit ihrer Schwester in ein anderes Camp verlagert. Dieses Mal in der Nähe von Interlaken. Die Bedingungen waren wiederum ähnlich: Viele Menschen auf sehr engem Raum. Auch hier hielt sie sich zwei Jahre lang auf.
    In dieser Zeit verschlechterte sich ihre psychische Gesundheit. Gefühle von Einsamkeit und Hilflosigkeit wurden allgegenwärtig. Sie musste anfangen Medikamente zu nehmen, um mit ihren Depressionen zurecht zu kommen.
    Insgesamt sechs Jahre lang war sie in psychologischer Behandlung. Diese wurden von den Schweizer Behörden zur Verfügung gestellt und trotz anderer Widrigkeiten, war dies eine wichtige Möglichkeit für Mia, um ihre Erlebnisse verarbeiten zu können.
    Nach dem Aufenthalt in Interlaken, kam sie zum ersten Mal gemeinsam mit anderen Geflüchteten und ihrer «Schwester» in einem normalen Haus in Därstetten in der Nähe von Reichenburg und Spiez unter. Hier blieb sie ein Jahr. Das Haus war zwar angenehmer als das Lager, in dem sie zu vor gewesen war. Allerdings war es auch sehr abgeschieden. Und es fiel Mia schwer, irgendwelche Kontakte zu knüpfen.
     

    Zurück müssen?

    An diesem Ort erhielt sie einen negativen Entscheid vom SEM: Sie darf nicht bleiben.
    Mia versuchte noch einmal Asyl zu beantragen. Bekannte ihrer «Schwester» aus Basel stellten ihnen ein Dokument aus, welches angeblich aus Eritrea stammte und welches sie dem SEM als Beleg für ihre Geschichte zuschicken sollten. Bei dem Dokument handelte es sich allerdings um eine in der Schweiz fabrizierte Fälschung. Das SEM lehnte erneut ab und die beiden Frauen kamen zurück nach Interlaken in ein Rückführungszentrum.
    Im Rückkehrzentrum stiegen die Spannungen zwischen den beiden Frauen. Die Schwester schrieb einen Brief ans SEM, in welchem sie erklärte, dass Mia nicht wirklich ihre Schwester sei und dass die Geschichte, die sie erzählt hatten, erfunden gewesen war. Die «Schwester» erhielt daraufhin eine Busse von 1500 Schweizer Franken als Strafe für die gefälschten Angaben und Dokumente. Mia löste sich darauf hin und auch aus weiteren Gründen von ihrer vormaligen Freundin und begann selbständig mit dem SEM Kontakt aufzunehmen. Sie teilte ihnen ihren eigentlichen Namen mit und auch, dass sie aus Äthiopien, nicht Eritrea, geflohen war.
    Das SEM hielt allerdings an seinem Entscheid fest: kein Asyl. Es wollte einen äthiopischen Pass als Bestätigung für die Geschichte. Die äthiopische Geburtsurkunde, die Mia vorlegen konnte, reichte nicht als Beleg aus. Selbst der falsch eingetragene Name, wurde nicht angepasst und Mia war offiziell weiterhin unter dem Nachnahmen ihrer vormaligen Freundin registriert.
    Ihren Pass hatte sie allerdings in Libyen verloren. Und ohne Kontakt zu ihrer Familie und einem Krieg, der in der Zwischenzeit in Äthiopien ausgebrochen war, konnte sie auch nicht darauf hoffen, bald einen neuen zu beschaffen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als im Rückkehrzentrum zu bleiben.
    Mias Gesundheitszustand nahm in dieser Zeit rapide ab. Die psychische Belastung war zu viel für sie. Immer öfter hatte sie Suizidgedanken und war bereit, alles zu tun, um der Situation zu entfliehen, in welcher sie sich befand. Eine Freundin, eine der wenigen Menschen, zu welchem sie noch Kontakt pflegte, riet ihr, sich nach Biel transferieren zu lassen. Ein neuer Ort würde ihr vielleicht guttun. Mit der Hilfe ihrer Psychiaterin, die ihre Probleme genauestens kannte, gelang es Mia, sich nach Biel transferieren zu lassen.
    In Biel wurde Mia zuerst im «Schlüssel» untergebracht – einem zentral gelegenen Asylzentrum, das in einem alten ehemaligen Hotel eingerichtet worden war. Das Gebäude war brandgefährdet, eng und klein. Wiederum muss sie ihr Zimmer mit anderen teilen. Das war für sie besonders hart, da sie aufgrund ihrer Depressionen kaum mit Menschen in Kontakt treten wollte oder konnte.
    Nach einer Revision der Asylgesetzgebung wurde der «Schlüssel» aufgelöst und die Behörden ein neues Lager gründeten: das Container-Camp Biel Bözingen.
     

    Aufatmen

    Mia wurde ebenfalls dorthin verlegt. Durch den Einsatz ihrer vom Staat zugeteilten Psychiaterin gelang es, dass sie allein in einem eigenen Container unterkommen konnte. Ein wichtiger Schritt für sie. Doch trotz dieser Verbesserung bleib ihr Gesundheitszustand auf einem ähnlichen Niveau wie zuvor. Sie erzählt beispielsweise davon, wie sie nachts ihren Container verliess und sich wünschte, ihr Leben zu beenden.
    Einen wichtigen Lichtblick gab es allerdings während ihrem Aufenthalt in Bözingen: Sie lernte dort ihren jetzigen Mann kennen – ich werde ihn Manuel nennen. Auch er stammte aus Äthiopien, von wo er wegen politischer Verfolgung geflohen war. Auch er bedurfte psychologischer Betreuung. Drei Jahre lang nahm er Medikamente, bis es ihm besser ging. Beim psychologischen Dienst trafen sie sich zum ersten Mal.
    In der Folgezeit konnte Manuel Mia weiterhelfen: Er nahm sie mit nach draussen, konnte sie davon überzeugen, wieder mehr Kontakt zu anderen Menschen aufzubauen. Und er half ihr auch, weiter um Asyl zu kämpfen.
    Da Manuel im Vergleich zu Mia schnell einen positiven Entscheid vom SEM erhielt, weil er direkt vom äthiopischen Staat bedroht worden war, konnte er das Camp verlassen und in eine eigene Wohnung ziehen. Er versuchte Mia davon zu überzeugen, ihm zu folgen und bei ihm einzuziehen. Nach einem anfänglichen Zögern entschloss sie sich, einzuwilligen. Was nicht bedeutete, dass sie einfach so aus Bözingen ausziehen konnte. Sie musste jeden Tag in das Camp zurückkehren und ihre Unterschrift geben, um nicht in Schwierigkeiten mit der Polizei zu geraten.
    Während dieser Zeit verbesserter sich ihre Situation leicht. Aber die Depressionen blieben. Erst als sie mit ihrem Sohn schwanger wurde, schöpfte sie neue Hoffnung und konnte sich, zumindest etwas mehr, aus den Fängen ihrer Krankheit befreien.
    Auch fand sie zusätzliche Unterstützung beim Verein «Alle Menschen» in Biel. Durch diesen hatte sie Zugang zu Deutschkuren und Transportgutscheinen. Auch halfen die Mitglieder beim Asylverfahren und unterstützen sie bei der Geburt ihres Sohnes.
     

    Bleiben

    Damit waren Mias Probleme allerdings noch lange nicht gelöst. Noch immer war nicht klar, ob sie in der Schweiz bleiben dadurfte. Und noch immer war sie offiziell unter dem falschen Namen gemeldet, den sie bei ihrer Ankunft in Basel zu Protokoll gegeben hatte.
    Wie hartnäckig diese Information haften blieb, zeigte beispielsweise diese Anekdote: Als ihr Sohn zur Welt kam, trug er zuerst ihren falschen Nachnamen und wurde als Bürger ihres falsch angegebenen Ursprungslandes betrachtet. Und das, obwohl der Vater des Kindes zu diesem Zeitpunkt bereits eine Aufenthaltsbewilligung erhalten hatte. Die ihnen zu wenig geläufigen administrativen Verfahren der Schweizer Zivilbehörden  führten zu einem Fehler, der verhinderte, dass eine noch während der Schwangerschaft eingereichte Vaterschaftsanerkennung ihre Wirkung entfalten konnte.
    In einem zweiten Anlauf hatten sie mehr Erfolg: Ihr gemeinsamer Sohn wurde offiziell anerkannt und erhielt die Erlaubnis, in der Schweiz zu bleiben. Nun fehlte nur noch Mia selbst.
    Um erneut eine Anfrage beim SEM einzureichen, versuchte Mia doch noch einen Pass aus Äthiopien zu beschaffen. Was sich allerdings als schwierig gestaltete: Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Und selbst als sie über dritte Personen versuchte, ihren Vater zu kontaktieren, musste sie feststellen, dass ihre Familie nicht mehr am gleichen Ort lebte wie zuvor. Der Krieg, der mittlerweile in Äthiopien wütete, hatte sie vertrieben.
    Über einen Kontakt in Genf, gelang es ihr, nach langem hin und her, dann doch, eine Verbindung zu den Behörden in Addis herzustellen. Da sie bei ihrer ersten Ausreise bereits einen Pass beantragt hatte, war sie im offiziellen System der Regierung gespeichert. Und nach mehrmaligem Versuch, das nötige Schmiergeld zu bezahlen, damit die Behörden aktiv werden, insgesamt gut 500 Franken, wurde ein Pass auf ihren Namen ausgestellt und in die Schweiz geschickt.
    Der Pass wurde an die Adresse ihres Mannes geschickt. Offiziell existierte in der Schweiz ja keine Frau mit ihrem Geburtsnamen. Da aber Manuels richtiger Vor- und Nachnahme in seinem Heimatland weit verbreitet ist, gibt es auch einen gesuchten Kriegsverbrecher, der denselben Namen trägt. Und dies führte zu weiteren Komplikationen: Zuerst wollte die DHL das Packet nicht zustellen, da sie Manuel verdächtigten, eben jener Kriegsverbrecher zu sein. Er musste ein Foto von sich selbst and die DHL Stelle in Addis schicken, um zu bestätigen, dass er jemand anderes ist.
    Dann wurde das Paket an der Schweizer Grenze noch einmal aufgehalten. Der Grund war wiederum derselbe. Anstelle, dass es an Manuel weitergeleitet wurde, landete es direkt beim SEM. Welches den Pass bei sich behielt und Mia eine Kopie zusante, wie es gängige Praxis beim SEM im Umgang mit Geflüchteten ist: Diese dürfen ihren ursprünglichen Pass nicht behalten und müssen eine Spezialbewilligung beantragen, wenn sie ins Ausland reisen möchten – eine ohne diplomatischen Schutz durch die Schweiz, sollte ihnen etwas zustossen. Damit soll unter anderem verhindert werden, dass Personen, die Asyl beantragen, in ihr Heimatland zurückkehren können, da dies in den Augen des SEM dem Status des Flüchtlings widersprechen würde.
    Dieser Pass reichte aus: Auch sie erhielt nun nach 10 Jahren Leben in verschiedenen Lagern die Bewilligung, sich legal in der Schweiz aufzuhalten und bei ihrer Familie zu bleiben.
     

    Eine weitere Geschichte erzählen

    Während wir über Mias Geschichte sprechen, stösst auch noch Manuel hinzu. Er kommt gerade von seiner neuen Arbeitsstelle zurück. Spontan erklärt er sich ebenfalls dazu bereit, kurz zu erzählen, wie und warum er aus Äthiopien geflohen ist.
    Manuel war in Äthiopien an Schüler*innenprotesten beteiligt. Die Polizei ging hart gegen die Protestierenden vor und verhaftete viele. Als Manuel und andere gegen diese Verhaftungen protestierten, wurde auch er verhaftet und in ein abgelegenes Gefängnis gebracht. Da er untertage festgehalten wurde, weiss er bis heute nicht, wie lange ihn die Polizei dort festhielt. Immer wieder wurde er und seine Kammeraden geschlagen und gefoltert. Die Polizisten wollten wissen, wer hinter den Protesten steckte, wer der «grosse Chef» sei. Da es eine solche Figur nicht gab und sich die Schüler*innen spontan zusammengefunden hatten, um zu protestieren, konnte Manuel auch nicht mit den Informationen herausrücken, die von ihm verlangt wurden.
    Seinem Vater gelang es mit der Hilfe eines Anwalts, ihn aus dem Gefängnis zu holen, in dem sie darlegten, dass Manuel noch minderjährig, 16 Jahre, alt war, und eine hohe Kaution bezahlten. Noch am selben Abend schickte sein Vater ihn über die Grenze.  Seinem Vater  war klar, dass sie wieder nach ihm suchen würden. Und er hatte recht: Kurz darauf kamen Männer zu seinem ihm und fragten ihn, ob Manuel bei ihm sei. Sie hatten einen gerichtlichen Befehl dabei, Manuel zu verhaften oder zu töten, sollte er sich widersetzten.
    Manuel floh von Äthiopien aus nach Ägypten, wo er sich eine gewisse Zeit lang aufhielt. Dies war eine schwierige Zeit für ihn, denn Teile der ägyptischen Bevölkerung hätten keinen Respekt gegenüber Geflüchteten. Immer wieder kam es zu Diebstählen, gewalttätigen Auseinandersetzungen und auch sexuellen Übergriffen gegenüber Frauen. Am schlimmsten sei es, wenn man aus Äthiopien stamme: Da Äthiopien einen Damm am Bauen gewesen ist, als Manuel sich dort aufhielt, der die Wasserzufuhr nach Ägypten einschränken würde, wurden Geflüchtete aus Äthiopien, wie Manuel, immer wieder mit dem Tod bedroht. Er und andere aus Äthiopien begannen sich als Menschen aus Somalia auszugeben, wenn sie gefragt wurden, wo sie herkommen.
    Von Ägypten aus trat Manuel seine achttägige Schiffsreise Reise nach Europa an. Zuerst nach Libyen dann von dort nach Italien. Vier oder fünfmal mussten sie das Boot wechseln – ganz genau weiss er es nicht mehr. Am Schluss befand er sich auf einem etwas grösseren, mit 450 Personen aber heillos überfüllten Schiff wieder. Vor der italienischen Küste entschied sich der Kapitän dazu, die Steuerung des Schiffes zu zerstören, damit sie ein ankommendes Schiff retten muss und sie nicht zurückgeschickt werden können. Das erste Schiff, dass sie sah, fuhr allerdings an ihnen vorbei. Und es kam der Verdacht auf, dass in den nächsten Tagen ein Sturm aufziehen würde, den sie wohl nicht überlebt hätten. Ein Rettungsschiff erreicht sie allerdings noch rechtzeitig und bringt sie nach Italien.
    In der Schweiz angekommen erhielt Manuel vergleichsweise schnell eine Aufenthaltsbestätigung. Seinem Vater war es möglich, ihm die Anordnung zukommen zu lassen, die seine Verfolgung verlangte. Daraus war klar ersichtlich, dass Manuel vom äthiopischen Staat verfolgt wurde und deshalb Anspruch auf Asyl erheben durfte.

     
    Angekommen

    Heute teilen sie sich ein Haus mit einer Schweizer Familie. Manuel hat vor kurzem seine Lehre abgeschlossen. Und Mia möchte ebenfalls eine Ausbildung beginnen oder einen Job in Angriff nehmen. Auch wenn dies sicherlich eine Verbesserung ihrer Lage darstellt, so sind sie weiterhin mit vielen Hürden konfrontiert, bis sie wirklich eigenständig leben können. Es stellt für sie eine Herausforderung dar, sich auf das Leben in der Schweiz einzustellen, dass mit viel administrativem Aufwand verbunden ist. So endet unser Gespräch auch mit einer Diskussion darüber, was als nächstes unternommen werden sollte. Manuel etwa empfindet die Sozialhilfe, die er gegenwärtig empfängt als eine Zumutung und möchte sich so schnell wie möglich daraus befreien. Eine Person aus der Schweizer Familie, mit der er zusammenlebt, hält dagegen und argumentiert, dass er sich alleine kein Leben in der Schweiz leisten kann. Sie weisst darauf hin, dass etwa die Kita von seinem Sohn und die Lehre, die er machen konnte, vom Staat unterstützt wurde und dass sie auch in Zukunft auf diese Unterstützung angewiesen sind. Mia scheint eine Position zwischen ihnen einzunehmen – noch nicht ganz sicher, wie sie ihr neues. Leben gestalten soll.  Und so bleibt es unklar, was die Zukunft ihnen bringen mag. Zu hoffen ist, dass sie das Schlimmste überstanden haben.


    Anmerkung zum Text

    Der Text basiert auf einem langen Gespräch mit «Mia» und «Manuel», so wie Ergänzungen durch Bekannte und Unterstützer*innen, die die Beiden seit ihrer Ankunft in der Schweiz begleitet haben und ihre Geschichte ebenfalls gut kennen. Zudem durfte ich einige der Dokumente, welche Schlüsselstellen der Geschichte untermauern, einsehen. Allerdings ist es nicht mein Ziel, in diesem Text zu urteilen, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht. Ich bin zwar davon überzeugt, dass sie mir ihre Geschichten so erzählt haben, wie sie sie erlebt haben und es gibt genügend ausgezeichnete Literatur dazu, dass solche Schicksale zuhauf vorkommen. Der Hauptanspruch des Textes ist es aber, Erfahrungen wiederzugeben: Die Realität zu erzählen, mit der Menschen in ihrer Wahrnehmung leben müssen.
    Eine zentrale Schwierigkeit bei diesem Text bestand darin, dass das Gespräch auf welchem er basiert, von verschiedenen Personen strukturiert wurde, die alle ein anderes Verständnis davon haben, wie die Geschichte zu beurteilen ist. Ich selbst bin sicherlich durch meine Arbeit bei Fluchtgeschichten vorbelastet, Mias Geschichte in einer Bestimmten weise zu verstehen. Dann sieht Mia selbst ihre Geschichte in einem bestimmten Licht. Das Gleiche gilt für die Personen, die mich zusätzlich unterstützt haben und die einige der Fragen während dem Gespräch stellten oder spätere Anmerkungen anbrachten. Für alle steht ein anderer Aspekt der Geschichte im Zentrum oder sollte noch mehr bekräftigt werden. Auch kann in einem Text nicht alles gesagt werden: Man muss eine Auswahl treffen.  Dies ist insbesondere dann schwierig, wenn eine Beurteilung stattfindet. So kam es etwa bei einer Nachbesprechung des Textes zur Frage, ob ich mit den Schweizer Behörden nicht zu hart ins Gericht gehen würde.  Diese hätten «im Rahmen des Möglichen» Mia geholfen. Dies mag sein und ich habe einige Passagen deshalb angepasst. Mir persönlich scheint es zwar, dass sich die Asylbehörden mehr tun könnten, als dass sie aktuell tun und ich glaube auch, dass dies in der Geschichte hervortritt, ist es doch wichtig nicht zu viel Interpretation vorzugeben.