Was es braucht, um fliegen zu können

Die Geschichte einer jungen Frau aus dem Iran, die Pilotin werden will

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    Yaras Geschichte, die ich in einem Kaffee in Biel gemeinsam mit ihrer Familie treffe und die in Wirklichkeit anders heisst, begann Ende 2015 im Iran. Ihre Familie gehört der kurdischen Minderheit im Iran an, was sie immer wieder politischen Repressalien aussetzte. Als sich diese zuspitzen und nicht mehr auszuhalten waren, beschlossen sie die gemeinsame Flucht nach Europa. 


    Ihre erste Etappe führte sie vom Iran in die Türkei. Diesen Abschnitt bestritten sie noch als offizielle Reise, gestattet vom iranischen Regime. In der Türkei angekommen, zerstörten sie ihre Pässe, weil sie befürchten mussten, dass die Behörden sie zurück in Ihre Heimat abschieben würden. Von nun an gaben sie sich als Flüchtende aus Syrien aus. Basierend auf Informationen von anderen Geflüchteten gingen sie davon aus, dass dies ihre Chancen erhöhen würde, die Grenzen Europass passieren zu können. 


    Nach einem 10-tägigen Aufenthalt in Istanbul gelang es ihnen einen Platz auf einem Boot zu ergattern, welches nach Griechenland übersetzte. Zusammen mit 60 anderen Menschen teilten sie sich das kleine Gummiboot. Yara erzählt, wie sie die ganze Überfahrt lang unter zwei andren Frauen begraben war. Mitten in der Nacht fiel auch noch der Motor aus. Alle glaubten, dass für sie die Reise an ein endgültiges Ende gelangt war. Doch sie hatten Glück. der Motor sprang wieder an und sie erreichten Griechenland, völlig durchnässt und vor Kälte zitternd. 


    Die Überfahrt wurde zusätzlich dadurch erschwer, dass Yara und ihre Familie durch die Schlepper beraubt wurden. Alle Wertgegenstände, die sie auf sich führten, wurden ihnen weggenommen. Der Rest, den die Schlepper nicht verwenden konnten und als zu schwer für die Überfahrt einschätzen, warfen sie ins Meer. Darunter Bilder, die die Familie als Erinnerung an früher mitgenommen hatte. 
    Heute kann die Familie kaum mehr glauben, dass sie das alles durchgestanden haben, ohne dass sie die Angst völlig übermannte. Der Stresse und das Adrenalin, ausgelöst durch ihre Flucht, musste ihre Empfindung unglaublich gedämpft haben. Zurückblicken können sie sich kaum vorstellen, so etwas ein zweites Mal anzugehen. 


    In Griechenland angekommen wurde die Familie von lokalen Helfer*innen in Empfang genommen, welche ihnen trocken Kleider zur Verfügung stellten. Gelandet waren sie auf einer Insel, vermutlich Lesbos.
    Von der Insel aus, nahmen sie ein Schiff nach Athen. Da dieses heillos überfüllt war mit anderen Geflüchteten, musste die Familie draussen auf dem Deck übernachten. Ende Oktober ist das bitterkalt. 
    In Athen blieben sie vier Tage lang. Davon mussten sie zwei Nächte lang in einer Schlange anstehen, um ein Dokument zu erhalten, dass es ihnen erlaubte, ihre Flucht vorzusetzen. Da die Mutter glücklicherweise einen Teil ihres Geldes vor den Schleppern verstecken konnte, war es der Familie möglich, eine Nacht im Hotel zu übernachten, bevor sie weiterziehen mussten. 


    Athen verliessens sie zu Fuss und machten sich dann über die berüchtigte Balkanroute auf den Weg nach Nordeuropa. In Erinnerung bleib ihnen zwei Tage und Nächte, die sie ohne Essen verbringen mussten. Und der Regen, der die ganze Zeit auf sie niederprasselte. 
    Yara war zu dieser Zeit knapp vor der Volljährigkeit, ihre Schwester zehn und ihr Bruder gerade mal zweieinhalb Jahre alt. Insbesondere den Jüngsten strengte der Fussmarsch durch die Kälte und Nässe an. Die Mutter berichtet, wie er erkrankt war und ständig weinen musste. 
    Trotz der Widrigkeiten kamen sie gut voran. Damals waren die Grenzen noch offen und sie mussten keine Repressalien von übereifrigen Grenzbeamt*innen fürchten. Sogar ein paar wenige glückliche Erinnerungen bleiben zurück. Sie erzählen mir beispielsweise davon, wie sie sich gefreut haben, als Menschen in Österreich ihnen Äpfel verteilt haben. 


    Von Österreich aus, bis wo sie sich durchschlagen konnten, entscheiden sie sich in die Schweiz weiter zu reisen. Ursprünglich wollten sie eigentlich nach Deutschland. Da aber der Bruder der Mutter bereits viele Jahre in der Schweiz, genauer: in Biel, lebte, war es für sie naheliegend, ebenfalls dorthin zu gehen. Andere Verwandte lebten in Norwegen und Schweden. Zu weit weg für die strapazierten Reisenden. 
    Insgesamt waren sie einen Monat unterwegs, bis sie die Grenzen der Schweiz passierten. Und es würden viele Jahre vergehen, bis klar war, dass sie auch hierbleiben dürfen. 
    Ihre erste Destination in der Schweiz war Zürich. Von hier aus wollten sie so schnell wie möglich nach Biel weiterreisen. Sie kauften sich sogar ein Ticket. Begangen allerdings den Fehler, sich in der falschen Wagenklasse niederzulassen. Der Kontrolleur, der ihre Billette inspizierte, wollte neben den Tickets auch noch ihre Ausweise sehen. Sie vermuten heute, dass sei wegen ihres Erscheinungsbildes gewesen, nach einem Monat auf der Flucht. Da sie diese nicht vorweisen konnten, hatten sie sie ja in der Türkei zerstört, wurden sie angewiesen, eine Bestimmte Adresse aufzusuchen – ein Asylzentrum, wie sich herausstellte. 


    Den Instruktionen folgend, die sie von dem Kontrolleur erhalten hatten, suchten sie das Zentrum in Kreuzlingen auf und baten um Asyl in der Schweiz. 
    Das Zentrum war zu diesem Zeitpunkt völlig überfüllt mit Geflüchteten aus Syrien. Die erste Nacht mussten sie auf dem Boden schlafen, da es schlicht keinen Platz mehr gab für sie. Danach wurden sie in kleine Zimmer untergebracht, Frauen und Männer getrennt. Sie durften nur eine Stunde am Tag nach draussen und das Essen war sehr schlecht. Alles erinnerte mehr an ein Gefängnis als ein Zufluchtsort für Hilfesuchende. 


    Nach zwei Wochen wurden sie verlegt in ein Zentrum in Moutier, welches in einer alten Malerei untergebracht war. In dem Zentrum, das heute nicht mehr existiert, hielten sie sich 40 Tage lang auf. Danach wurden sie abermals versetzt, in das Zentrum „Zieglerspital“ bei Bern. Dort bleiben sie 5 Monate. Anschliessend gelang es ihnen eine Wohnung zu erhalten, in welche sie als Familie einziehen konnten. Von März 2016 bis März 2019 hielten sie sich dort auf. 
    Während dieser Zeit erhielten sie zwei negative Entscheide vom Staatssekretariat für Migration (SEM): Sie dürfen nicht bleiben. Und das nach all den Strapazen, die sie auf sich genommen haben und der ganzen Zeit, die sie nun schon in der Schweiz verbracht hatten. 


    Von März 2019 bis Oktober 2020 kamen sie daraufhin wieder in ein Asylzentrum. Dieses Mal in Aarwangen. Für Yara war dies eine sehr anstrengende Zeit. Um mit ihrer iranischen Matura eine weiterführende Ausbildung antreten zu können, musste sie jeden Tag nach Zürich reisen, um dort einen Vorbereitungskurs zu absolvieren. Diese Reise hätte sie mit den 50 Franken finanzieren sollen, die sie pro Woche erhielt. Ohne die Hilfe eines befreundeten schweizer Lehrers, den sie während ihres Jahres am Gymnasium kennengelernt hatte, wäre das nie möglich gewesen.
    Erschwerend kam hinzu, dass eine Person des Aufsichtspersonals, bei der sie sich jeden Morgen melden musste, bevor sie das Zentrum verlassen konnte, ihr versuchte, zusätzliche Steine in den Weg zu legen. Die Familie ist sich einig, dass diese Person Geflüchtete nicht ausstehen konnte. Von Personen, die Geflüchtete unterstützen, erfuhr ich zusätzlich, dass es in Aarwangen häufig zu Beschwerden gegen das Personal gekommen war, welches herablassen und überfordert zur gleichen Zeit gewesen sein soll. 


    Ein Beispiel hierfür war der Umgang des Personals mit der Covid-19 Pandemie. Yara war die erste Person in Aarwangen, die an Corona erkrankte. Da das Zentrum zu diesem Zeitpunkt noch immer zu stark belegt war, wurde sie kurzerhand in den Keller, eine ehemalige Zivilschutzanlage, gesteckt. Ganz allein in einem riesigen Raum und gefühlt unendlich weit von den Toiletten entfernt. Yara erzählt, wie sie die ganze Nacht nicht schlafen konnte, weil sie allein eingesperrt in diesem Raum zu viel Angst hatte. Zwei Wochen lang musste sie dortbleiben.
     Da Yara mit ihrer Situation nicht mehr zu Rande kam und befürchten musste, bald abgeschoben zu werden, begann sie sich zu wehren. Ein Cousin ihres Vaters arbeitete bei einer Menschenrechtsorganisation in Genf und knüpfte für sie Kontakte zu verschiedenen schweizerischen und iranischen Medien. Heute, sagt sie, würde sie so etwas nicht mehr machen. Eigentlich steht sie nicht gerne vor der Kamera. Aber in diesem Moment ging es ihr so schlecht, dass sie jede Möglichkeit nutzen wollte, um ihre Situation in irgendeiner Weise zu verändern. 


    Kurz darauf verbesserte sich ihre Situation tatsächlich. Zuerst bekam sie die Erlaubnis privat bei ihrem Cousin, der ebenfalls in Biel lebt, unterzukommen. Drei Wochen später erhielt sie den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts: sie darf bleiben. In einem späteren Interview zeigte sie sich davon überzeugt, dass ihre Medienauftritte Wirkung gezeigt hatten: Eine kurdische Iranerin, die sich politisch exponiert, konnte nicht abgeschoben werden, ohne eine gewalttätige Reaktion des Regimes zu provozieren. 
    Yara war zu diesem Zeitpunkt, im Oktober 2020, die einzige ihrer Familie, die eine Aufenthaltsbewilligung erhalten hatte. Der Rest musste im Asylzentrum bleiben, zuerst in Aarwangen, dann in Biel Bözingen. Dorthin wurden sie transferiert, da Aarwangen, wie bereits angesprochen, mit der Bewältigung der Covid-19 Pandemie überfordert war. Bözingen war eine kleine Verbesserung, da sie im Camp einen eigenen Container bewohnen durften und nicht mehr mit vielen anderen Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht waren. 8 Monate lang hielten sie sich dort auf. 


    Yara mietete eine Wohnung in der Nähe, damit ihre Familie sie dort besuchen kommen konnte. Im Februar 2022 stellten sie ein Gesuch, dass die Familie bei ihr als Private Unterbringung unterkommen konnte. Damit wollten sie einen erneuten drohenden Zwangsumzug der Familie vorbeugen. 
    Der erste Antrag wurde abgelehnt, da die zuständige Stelle nicht akzeptierte, dass die Tochter finanziell durch einen Verein unterstützt wurde. Eine Beschwerde hatte mehr Erfolg: die höher gelegene Stelle sah es gar als einen Vorteil an, wenn Yara auf Geld von Dritten Zugriff hatte, was eine potenzielle Abhängigkeit von Staatsgeldern reduzierte. 
    Und wie bei Yara selbst: einen Monat nach dem der Rest der Familie bei ihr einziehen durfte erhielten auch sie die Bewilligung in der Schweiz zu bleiben. Das war im Sommer 2022. Sieben Jahre nach ihrer Flucht.


    Heute leben sie alle in Biel. Yara studiert Aviatik an der Fachhochschule in Zürich. Nebenbei lässt sie sich zur Pilotin ausbilden. Sie erzählt mir, wie sie, bevor wir uns getroffen haben, eine Fluglektion hatte. Und wie teuer die Landungsgebühren auf dem kleinen Privatflughafen in Saalen gewesen seien, wo sie mit ihrem Fluglehrer einen Zwischenhalt machte. Ihre kleine Schwester hat eine Ausbildung zur FAG begonnen. Wie ihre Schwester träumt aber auch sie davon, in die Lüfte zu kommen und denkt bereits über eine weitere Ausbildung zur Flugbegleiterin nach. 
    Auch wenn dies nach einem glücklichen Ende klingt, ist der Kampf der Familie noch nicht vorbei. Noch haben sie keine Aufenthaltsbewilligung auf unbegrenzte Zeit. Das bedeutet, dass sie sich weiter darum bemühen müssen, weitere Hürden im schweizer Migrationssystem zu überwinden. Aber für den Moment sind sie sehr glücklich, „am Fliegen", wie man es in Persisch ausdrücken würde.