Drei Irrtümer über das Philosophiestudium

Wer sich für ein Philosophiestudium interessiert, weiss oftmals nicht genau, wie Philosophie an der Universität gemacht wird. Dieser Artikel soll mit einigen der gängigsten falschen Erwartungen aufräumen.

Und Lust machen, Philosophie zu studieren!

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    An vielen Gymnasien in der Schweiz wird Philosophie als Schwerpunktfach, meist zusammen mit Pädagogik und Psychologie, angeboten und gelehrt. An einigen wenigen ist es sogar ein Grundlagenfach, das alle Schülerinnen und Schüler besuchen. Bei einigen von ihnen weckt der Philosophieunterricht Freude an fundamentalen Fragen, am Diskutieren, an der intellektuellen Herausforderung, am Schreiben und Denken – und vielleicht auch den Gedanken an ein späteres Philosophiestudium.

    Philosophie am Gymnasium unterscheidet sich jedoch meistens ziemlich stark von akademischer Philosophie, wie sie an der Universität praktiziert wird – und noch stärker von dem, was im Alltag oftmals unter Philosophieren verstanden wird. Dies führt nicht selten dazu, dass junge Menschen mit falschen Vorstellungen und Erwartungen ein Philosophiestudium beginnen.

    Manchmal erweist sich das trotz irriger Entscheidungsgrundlagen als der richtige Weg. Es kann aber auch zu Enttäuschungen führen. Oder umgekehrt dazu, dass junge Menschen sich aufgrund des Philosophieunterrichts gegen dieses Studium entscheiden, obwohl es ihnen entsprechen würde.

    Dieser Artikel soll mit einigen der gängigsten Irrtümer in Bezug auf die akademische Philosophie aufräumen – und Lust machen, das Abenteuer Philosophiestudium zu wagen!

    Irrtum 1: «Im Philosophiestudium lernt man, seine Meinung überzeugend zu vertreten.»

    Eloquenz und argumentative Fähigkeiten führen in Aufsätzen und Diskussionen im Philosophieunterricht oftmals zum Erfolg – dies mag den Eindruck erwecken, es ginge lediglich darum, seine Meinung zu philosophischen Fragen überzeugend vertreten zu können. Diese Vorstellung ist jedoch aus mehreren Gründen irrig:

    Erstens: Im Studium geht es nicht darum, Recht zu behalten – nicht einmal «eine Meinung zu haben». Letztlich werden Argumente entwickelt, kritisiert und gegeneinander abgewogen. Es gibt also eher gute und schlechte Argumente als richtige und falsche Meinungen. Das Argument ist in der Auseinandersetzung wichtiger und interessanter als die Position, für oder gegen die es spricht.

    Zweitens: Die philosophischen Fragen, denen man sich als Studierende widmet, sind meistens nicht so, dass man dazu «eine Meinung» hat – wie man eine Meinung zu Schuluniformen, zur Todesstrafe oder zum Vegetarismus hat. Die Fragen sind inhaltlich zumeist weniger alltagsnah und komplexer. Manchmal ist nicht einmal klar, wie eine Antwort überhaupt aussehen könnte oder ob die Frage sinnvoll gestellt ist. Selbst die Frage, was eine philosophische Frage ist, ist Gegenstand philosophischer Debatten. Typische Beispiele für philosophische Fragen sind «Was ist eine Handlung?», «Wann ist politische Macht legitim?» oder «Wie können wir Bewusstsein erklären?». Diese Fragen sind in einem fundamentalen Sinn offen.

    Natürlich entwickelt man durch die philosophische Schulung auch argumentative Fähigkeiten – der Ausdruck in Schrift und Wort gewinnt an begrifflicher Klarheit, an Struktur und Präzision. Dies führt dazu, dass man auch in alltäglichen Diskussionen seine «Meinung» besser vertreten kann. Das ist aber weder Gegenstand noch Zweck der akademischen Beschäftigung mit Philosophie.

    Wer also weniger am Diskussionssieg, sondern mehr an der Wahrheit (ob es sie gibt und worin sie besteht, ist wiederum eine philosophische Frage… 😊), am stichhaltigen Argument und strukturierten Denken interessiert ist, ist im Philosophiestudium genau richtig.

    Irrtum 2: «Das Philosophiestudium besteht vor allem aus Diskussion»

    Philosophieunterricht am Gymnasium zeichnet sich oft durch grosse Interaktivität aus. Es ist Raum für Diskussionen da – über Organspende, das richtige Bildungssystem oder ob die Welt einen Anfang hat. Oftmals besteht gerade in dieser Ermunterung zum Selbstdenken, im regen Austausch der Reiz dieses Unterrichtsfachs. Die Themen begeistern und bieten Anlass zur Debatte.

    Dies mag den Eindruck erwecken, Philosophie an der Universität bestehe vor allem aus Diskutieren und Argumentieren. Im Alltag einer Philosophiestudentin ist der Diskussionsteil – vor allem am Anfang des Studiums – jedoch meist verschwindend gering. Neben den Vorlesungen, wo man in verschiedene Teilbereiche des philosophischen Denkens eingeführt wird, heisst es vor allem: Lesen, lesen, lesen. Für jede Seminarsitzung von 90 Minuten will ein Text vorbereitet werden – schliesslich braucht es eine gemeinsame Diskussionsgrundlage. Das gründliche Lesen eines solchen Texts kann leicht drei bis vier Stunden dauern. Anstatt gemeinsam im Kreis über das gute Leben zu debattieren, sitzt man also daheim im stillen Kämmerlein und arbeitet sich an Aristoteles’ Nikomachischer Ethik ab.

    Das mag auf den ersten Blick keine sehr erbauliche Vorstellung sein. Doch es ist nötig und absolut lohnenswert.

    Zunächst, weil wir nicht die ersten und wohl auch nicht die einsichtsreichsten Menschen sind, die sich mit philosophischen Fragen beschäftigen. Wir können (und müssen) zurückgreifen auf zweieinhalbtausend(!) Jahre des Denkens, Zweifelns und Erkennens. Zudem brauchen wir einen gemeinsamen Verständnisrahmen, gemeinsame Begriffe, gemeinsame Argumente und Theorien, auf die wir uns im Austausch beziehen und stützen können. Die grossen Klassiker wie Platon oder Kant gelten nach wie vor als Bezugspunkte und sind eine notwendige Voraussetzung für eine produktive Diskussion.

    Weiter ist das viele Lesen auch lohnenswert: Neben der Einsicht und Erweiterung der eigenen Perspektive verleiht das Vorbereiten der Texte den Diskussionen Tiefe. Es geht nicht lediglich darum zu sagen, was man sich so denkt, sondern wir können tatsächlich Argumente, Begriffe oder Theorien verhandeln. Dadurch werden Diskussionen produktiv und drehen sich nicht im Kreis oder verkommen zu leerem Gefasel.

    Und: Je weiter man im Studium fortschreitet, desto kleiner wird der Anteil an Vorlesungszeit – zugunsten von Seminaren. Die Austauschmöglichkeiten nehmen stets zu – so wie der Fundus an Grundlagen, auf die zurückgegriffen werden kann und die generelle Fähigkeit zur guten Diskussion.

    Irrtum 3: «Im Philosophiestudium findet man Antworten auf die grossen Fragen der Welt und des Lebens»

    Die kurze Antwort ist: Nein. Doch es gibt ein Aber…

    Was im Alltag oftmals unter «Philosophieren» verstanden wird, hat (glücklicherweise) wenig bis gar nichts mit akademischer Philosophie zu tun. Es ist mir mehrmals passiert, dass eine Person, der ich von meiner Studienwahl erzählt hatte, begeistert geantwortet hat, sie hätte schon immer gern Philosophie gehabt – und dann begonnen hat, über Lebensratgeber und Küchenpsychologie zu erzählen…

    Trotzdem stecken im Grunde hinter diesen Bestrebungen echte philosophische Probleme und Fragen. Und ich denke, dass diese auch aus gutem Grund am Anfang jedes ernsthaften Philosophierens stehen. Viele Menschen entscheiden sich für ein Philosophiestudium, weil sie die sogenannten grossen Fragen interessieren – nach der Existenz, nach der Zeit, nach dem Wesen der Dinge, nach dem guten Leben, nach Gerechtigkeit und Freiheit. Doch nicht selten werden die Erwartungen von Studierenden, die mit dem Anspruch, Antworten auf diese Fragen zu finden, ins Studium gestartet sind, zunächst enttäuscht. Da möchte man wissen, ob es Gott gibt oder nicht, und müht sich mit logischen Formeln ab.

    Und selbst wenn man dann in einem Seminar zu Gottesbeweisen und Gotteswiderlegungen sitzt, bekommt man keine verpackten Antworten, sondern nur noch mehr Fragen. Dies ist aber nicht dem Studium geschuldet, sondern der Komplexität der Welt. Philosophie führt im Idealfall aber nicht nur zur Realisation, dass es diese abschliessenden Antworten oftmals nicht gibt, sondern verleiht der ernsthaft Studierenden auch einige Ressourcen, mit dieser Tatsache umzugehen und sich in der Komplexität zurechtzufinden. Man erhält Einblick in verschiedene Perspektiven und Argumente. Und man lernt, die richtigen Fragen zu stellen.

    Nichtsdestotrotz ist dieser Aspekt nicht zu unterschätzen: Man muss es aushalten können, kaum endgültige und sichere Antwort zu bekommen, nie wirklich das Gefühl zu haben, dass eine Seminararbeit fertig ist und gewissermassen immer ein bisschen in der Schwebe zu bleiben. Meines Erachtens ist dieses Aushaltenkönnen sogar mitunter eine der wichtigsten Eigenschaften, die ernsthafte Philosophiestudierende mitbringen sollten. Und es stellt für viele Studierende eine beträchtliche Herausforderung dar.

    Gleichzeitig liegt darin aber auch gerade der Reiz der Philosophie. Sie bietet jeder und jedem, der bereit ist, sich darauf einzulassen, eine unglaubliche intellektuelle Freiheit.