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Platons Definition der Gerechtigkeit in der Politeia

Ein harmonischer Zustand der Seele, wenn jeder Seelenteil das Seine tut

    Einführung

    Was ist eigentlich Gerechtigkeit und wie wird sie etabliert? Der antike Philosoph Platon definiert in seinem Werk Politeia den Begriff der Gerechtigkeit als einen harmonischen Zustand der Seele, der sich einstellt, wenn alle drei Seelenteile ihre naturgemässe Aufgabe erfüllen und ihre spezifischen Tugenden erwerben. Analog dazu würde sich die Gerechtigkeit in einer Polis (dt. Stadtstaat) erst dann etablieren, wenn alle drei Stände ihre naturgemässe Aufgabe erfüllen und ihre spezifischen Tugenden erwerben. Was das genau bedeutet, soll im Folgenden näher erläutert werden.

    In einem ersten Schritt wird die Definition der Gerechtigkeit von Sokrates‘ Dialogpartnern vorgestellt, um anschliessend auf diejenige Definition einzugehen, die Sokrates selbst vertritt. Dafür wird zuerst die Gerechtigkeit in der Polis bestimmt, um sie dann auf die Seele zu übertragen.

     

    Die Definition der Gerechtigkeit

    Platons Werk Politeia stammt aus seiner mittleren Schaffensperiode (c.a. 387–367 v. Chr.)1 und befasst sich mit der Frage, was die Gerechtigkeit ist. Dafür lässt er Sokrates im Dialog mit drei Gesprächspartnern (Kephalos, Polemarchos und Thrasymachos) über den Begriff der Gerechtigkeit diskutieren. Diese definieren die Gerechtigkeit ganz unterschiedlich: Im ersten Buch spricht Sokrates mit Kephalos, einem alten, reichen Mann (328c), demzufolge Gerechtigkeit, bzw. ein gerechtes und heiliges Leben dann geführt ist, wenn man „niemanden betrügt und belügt, [...] und [...] weder einem Gott ein Opfer noch einem Menschen Geld schuldig bleibt und deshalb ohne Furcht ins Jenseits geht“ (331b).2 Sokrates entgegnet Kephalos sogleich mit einem Gegenbeispiel von einem wahnsinnigen Freund, dem man weder seine Waffe zurückgeben, noch die volle Wahrheit sagen sollte (331c), sodass in diesem Fall nicht von Gerechtigkeit gesprochen werden kann, jemandem die Wahrheit zu sagen und das, was man empfangen hat, wieder zurückzugeben (331c). Als Kephalos‘ Definition widerlegt ist, ergreift dessen Sohn Polemarchos das Wort, stimmt seinem Vater zu und gibt Sokrates zu erklären, was der Dichter Simonides gemeint habe, als er sagte, dass die Gerechtigkeit darin liege, jedem seine Schuld zu bezahlen (331e): „er will nämlich sagen, dass Freunde verpflichtet seien, ihren Freunden Gutes anzutun aber nichts Schlechtes“ (332a). Nach einem langen hin- und her mischt sich schliesslich der Sophist Thrasymachos ein und postuliert seine Definition der Gerechtigkeit: „ich behaupte, das Gerechte ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren“ (338c), denn in einem Herrschaftsverhältnis, würde der Herrscher dem Beherrschten stets dasjenige befehlen zu tun, was für den Herrscher selbst am besten sei (340e).

    Alle drei Gesprächspartner bestimmen den Begriff der Gerechtigkeit mit einer Handlung, doch für Sokrates ist das gerechte Handeln nur eine äussere Manifestation des gerechten, inneren Seins: die Gerechtigkeit entspringe nämlich der Seele, und sei ihre „Tüchtigkeit“ (bzw. Tugend, gr. arete). Die Seele könne ihre „eigentliche Aufgabe“ zu leben (352e) erst dann gut erfüllen, wenn sie die Tugend der Gerechtigkeit erworben habe. Mit der eigentlichen Aufgabe eines Dinges (bzw. einer Person) meint Sokrates, dass nur das Ding allein eine bestimmte Aufgabe erfüllen kann, oder dass das Ding eine bestimmte Aufgabe besser als alle anderen Dinge erfüllen kann (353a). Deshalb werde die Seele, bzw. der Mensch, der gerecht sei, gut leben und dadurch „selig und glücklich“ (353d). Im Gegensatz zur Gerechtigkeit, sei die Ungerechtigkeit die „Schlechtigkeit“ der Seele (353e). Die ungerechte Seele, bzw. der Mensch, werde ihre Aufgabe zu leben, schlecht erfüllen (353e) und deshalb schlecht leben und unglücklich werden (354a).

    Damit hat Sokrates in einem ersten Schritt gezeigt, dass die Gerechtigkeit nicht mit einer Handlung definiert werden kann, wie es seine drei Gesprächspartner vorgeschlagen haben. Vielmehr sei die Gerechtigkeit in der Seele zu suchen. Nun geht er einen Schritt weiter und behauptet, dass es einfacher sei, die Polis (dt. Stadtstaat)3 bei der Suche nach der richtigen Definition der Gerechtigkeit als Modell heranzuziehen (368d): Die Polis und die Seele würden sich nämlich in Bezug zur Gerechtigkeit analog zueinander verhalten - und da die Polis grösser als der Mensch (bzw. Seele) ist, lasse sich in ihr die Gerechtigkeit einfacher finden (368d). Als Begründung für dieses Verfahren führt Sokrates einen Vergleich mit dem Sehvermögen an: Es sei einfacher, zuerst einen Text mit grossgeschriebenen Buchstaben zu lesen und dann zu schauen, ob der Text mit den kleingeschriebenen Buchstaben der gleiche Text ist (368d).

     

    Die Gerechtigkeit in der Polis

    In den Büchern II-IV der Politea entwirft Sokrates in einem Gedankenexperiment einen Idealstaat, um die Gerechtigkeit in ihm zu bestimmen. Sokrates zufolge geht die Gründung der Polis aus einem gegenseitigen Bedürfnis der Menschen hervor „weil keiner von uns sich selbst genügen kann und jeder viele andere nötig hat“ (369b): Die vielen Bedürfnisse der Menschen nach Nahrung, Wohnung und Kleidung erfordern nämlich Bauern, Baumeister, Weber und Schuster (369e). Dabei seien gewisse Personen für bestimmte Tätigkeiten besser geeignet als andere, da „keiner [...] von Natur ganz gleich ist wie der andere“ (370b), sodass jede Person über unterschiedliche Anlagen und Begabungen verfügt (370b). Folglich soll sich jeder in der Polis seiner Anlage entsprechend einer bestimmten Tätigkeit im Leben widmen und sich darin spezialisieren (370c). Dadurch soll zum Einen die bestmögliche Qualität der produzierten Güter gewährleistet werden (370c) und zum Anderen den Arbeitern durch ihre naturgemässe Tätigkeit ein glückliches Leben ermöglicht werden. Den natürlichen Anlagen und Aufgaben ihrer Bürger entsprechend soll also die Polis in drei hierarchisch angeordnete Stände untergeteilt werden: die gelderwerbenden Arbeiter (gr. dēmiurgoi), die helfenden Wächter (gr. phylakes) und die ratgebenden Philosophen als Herrscher (gr. archontes).4 Die primäre Bedürfnisbefriedigung und Versorgung der Gemeinschaft mit dem Lebensnotwendigen soll die Aufgabe des der Arbeiter bzw. des Nährstandes sein (372e). Die Verteidigung der Polis nach innen und aussen soll die Aufgabe der Wächter bzw. des Wehrstandes sein (373e), während das Herrschen die Aufgabe der Philosophen bzw. des Lehrstandes sein soll.

    Sokrates ordnet jedem dieser Stände entsprechende Tugenden zu, die sie auszubilden haben: Die Tugend der Arbeiter sei die Besonnenheit bzw. Mässigung (gr. sōphrosýne), die Tugend der Wächter sei sowohl die Besonnenheit als auch die Tapferkeit (gr. andreía), und die Tugend der Herrscher sei die Besonnenheit, die Tapferkeit und die Weisheit (gr. sophía). Die Besonnenheit ist also eine ständeübergreifende Tugend, die alle Stände zu erfüllen haben. Erst wenn alle drei Stände der Polis ihre eigene Aufgabe erfüllen und ihre spezifische Tugend ausgebildet haben, ist Sokrates zufolge schliesslich die Tugend der Gerechtigkeit (gr. dikaiosýne) etabliert:„[...] wenn der Stand des Geschäftsmannes [Arbeiter], des Gehilfen [Herrscher] und des Wächters das Seine tut und jeder von ihnen seine Aufgabe in der Stadt erfüllt, [...] das wäre Gerechtigkeit und würde die Stadt gerecht machen“ (434c). Damit ist die Definition der Gerechtigkeit in der Polis gefunden: Gerechtigkeit ist, wenn jede der „drei Arten von Naturen [...] das Ihre tut“ (435a). In einem nächsten Schritt will Sokrates sein Ergebnis auf die Seele übertragen, um zu sehen, ob die Definition der politischen Gerechtigkeit, mit der Definition der seelischen Gerechtigkeit übereinstimmt (434c).

     

    Die Gerechtigkeit in der Seele

    Im vierten Buch der Politeia postuliert Sokrates eine dreigeteilte Seele analog zur dreigeteilten (bzw. dreiständigen) Polis. Als Argument für die geteilte Seele führt er das Prinzip der Gegensätze (436b) an: etwas Einteiliges (bzw. Einfaches, Eingestaltiges gr.monoeidês)5 kann nicht zur gleichen Zeit gegensätzliche Wünsche haben, während etwas Mehrteiliges (bzw. Mehrgestaltiges gr. polyeidês)6 dazu in der Lage ist. Diesem Prinzip folgend muss Sokrates also zeigen, dass ein Mensch zur gleichen Zeit gegensätzliche Wünsche hat, um den Beweis für eine mehrteilige Seele zu erbringen:

    Es ist klar, dass ein- und dasselbe nicht gleichzeitig das Entgegengesetzte im nämlichen Sinn und in gleicher Richtung tun oder leiden möchte. Wenn wir also irgendwo sehen, dass dies bei ihnen vorkommen, so werden wir wissen, dass es nicht ein und dasselbe war, sondern mehreres. (436c)

    Sokrates benutzt für sein Argument für die geteilte Seele das körperliche Bedürfnis des Menschen nach Wasser: Verspürt eine Person Durst, hat er die Begierde zu trinken. Gleichzeitig kann die Person aber auch den entgegengesetzten Wunsch haben, sich dessen zu enthalten und auf das Trinken zu verzichten. Damit sind also im Menschen gleichzeitig zwei gegensätzliche Wünsche vorhanden. Daraus folgt, dass die Seele zwei Teile haben muss, die sich voneinander unterscheiden: Ein Seelenteil, der seinem Bedürfnis nach Wasser nachgehen und trinken will, und ein anderer Seelenteil, der sich dessen enthalten und nicht trinken will. Damit hat Sokrates gezeigt, dass:

    [...] die beiden [Seelenteile] zweierlei und voneinander verschieden sind, wobei wir das, wodurch die Seele vernünftig überlegt, als ihr Überlegungsvermögen bezeichnen und das, womit sie liebt und hungert und dürstet oder sonst etwas mit Leidenschaft begehrt, als das Unvernünftige und Begehrungsvermögen, den Freund von Sättigungen und Lüsten. (439c)

    Das Prinzip der Gegensätze offenbart also zwei verschiedene Seelenteile im Menschen: eine vernünftige, denkende Seele (bzw. die Vernunft) und eine unvernünftige, begehrende Seele (bzw. die Begierde). Sokrates behauptet zudem, dass es einen dritten Seelenteil geben muss, damit erklärt werden kann, warum eine Person wütend auf sich selbst wird, wenn sein begehrender Seelenteil den Kampf mit seinem vernünftigen Seelenteil verliert:

    Wenn jemand wider seine vernünftige Überlegung von den Begierden bezwungen wird, dann schilt er sich selbst und wird unmutig über das, was ihm Zwang antut, und sein Mut stellt sich wie bei einem Bürgerkrieg zwischen zwei Parteien auf die Seite der Vernunft. (440a)

    Dieser dritte Seelenteil sei die mutige Seele (bzw. Mut), die mit dem vernünftigen Seelenteil verbündet ist und wütend wird, wenn die Vernunft den Kampf gegen die Begierde verliert.

    Zusammengefasst lässt sich nun festhalten, dass das Prinzip der Gegensätze zwei Seelenteile offenbart. Ein dritter Seelenteil erklärt zudem die Wut in einem seelischen Konfliktfall. Somit schliesst Sokrates auf eine dreigeteilte Seele: (1) die Vernunft (gr. logistikon), (2) der Mut (gr. thymoeides) und (3) die Begierde (gr. epithymêtikon).7 Wie die Stände in der Polis, haben auch diese Seelenteile bestimmte Aufgaben: Die Vernunft ist der denkende und lenkende Teil der Seele. Sie ist die kleinste der Seelenteile und strebt nach Wissen und Weisheit. Ihre Aufgabe ist das Beherrschen der anderen zwei Seelenteile, weil sie über das Wissen um die Bedürfnisse der anderen Seelenteile verfügt. (442c). Der Mut ist der sieg- und ehrliebende Teil der Seele. Er strebt nach Selbstachtung und ist der natürliche Verbündeter der Vernunft. Seine Aufgabe ist es, sich von der Vernunft beherrschen zu lassen und trotz Lust und Leid an dem festzuhalten, was die Vernunft als gefährlich oder harmlos erklärt hat (442c). Die Begierde ist der begehrende Teil der Seele und strebt nach der Befriedigung körperlicher Lüste, wie Hunger, Durst und Fortpflanzung. Sie ist die grösste und unersättlichste der Seelenteile. Ihre Aufgabe ist es, sich von der Vernunft beherrschen zu lassen und sich nicht gegen sie aufzulehnen (442c).

    Wenn die spezifischen Aufgaben der Seelenteile gut erfüllt werden, können sie (analog zu den Ständen in der Polis) entsprechende Tugenden ausbilden: der begehrende Seelenteil erwirbt die Tugend der Besonnenheit (bzw. Mässigung), der mutige Seelenteil erwirbt die Tugend der Besonnenheit und die Tapferkeit, und der vernünftige Seelenteil erwirbt die Tugend der Besonnenheit, Tapferkeit und die Weisheit. Die Tugend der Besonnenheit kommt allen Seelenteilen zu, da sie das korrekte Herrschaftsverhältnis der Seelenteile ist:

    Und [...] besonnen nennen wir ihn doch wohl dank der Freundschaft und Übereinstimmung dieser Teile, wenn nämlich das Regierende und die beiden Regierten darin übereinstimmen, dass die vernünftige Überlegung regieren müsse, und wenn sie sich nicht gegen sie auflehnen“ (442c)

    Besonnenheit ist also, wenn die Vernunft, der Mut und die Begierde darin übereinstimmen, dass naturgemäss die Vernunft über die beiden anderen herrschen muss. Wenn jeder Seelenteil ihre eigene, spezifische Aufgabe erfüllt und ihre Tugend ausgebildet hat, ist schliesslich die Tugend der Gerechtigkeit erworben, wenn „jeder Teil innerhalb seiner das Seine tut [...] (441e). Sokrates betont jedoch, dass die Gerechtigkeit kein Handeln per se ist, sondern ein innerer Zustand oder Haltung der Seele:

    In Wirklichkeit war aber die Gerechtigkeit, wie sich zeigte, zwar etwas Derartiges [dass jeder das Seine tut], doch nicht in bezug auf das äussere Handeln der Teile des Menschen, sondern auf das innere, bei dem es wirklich um ihn selbst und um seine Sache geht.“ (443d)

    Ist nun die Tugend der Gerechtigkeit in der Seele ausgebildet, herrscht in ihr bzw. zwischen den drei Seelenteilen Ordnung (443d), Harmonie (443d), Einklang (443d), Einheit (443d) und Ausgeglichenheit (443d). Im Zustand der gerechten Seele wird der Mensch gerecht handeln und die innere Haltung der Harmonie beibehalten (444a):

    Er [der Mensch] erlaubt nämlich keinem Teile in sich, Fremdartiges zu tun, noch dass die Teile seiner Seele vielgeschäftig aufeinander übergreifen; vielmehr [...], ist [er] über sich selbst Herr geworden und hat Ordnung in sich geschaffen; [...] und hat jene drei Teile in ein harmonisches Verhältnis gebracht [...]. Alles das hat er in Einklang gebracht und ist aus vielen Teilen ganz und gar einer geworden, besonnen und ausgeglichen und danach richtet sich denn nun auch sein Handeln. [...] bei alledem betrachtet und bezeichnet er dasjenige Handeln als gerecht und schön, das diese Haltung wahrt [...] (443d-444a)

    Doch wenn die Seelenteile ihre spezifische Aufgaben nicht erfüllen, bzw. „das Ihre“ nicht tun, und somit ihre Tugenden nicht ausbilden können, herrscht Ungerechtigkeit in der Seele und folglich eine Unordnung und Chaos zwischen den Seelenteilen:

    Ungerechtigkeit [...] muss diese nicht ein Zerwürfnis unter jenen drei Teilen sein, eine Vielgeschäftigkeit, ein Sichabgeben mit wesensfremden Dingen und ein Sichauflehnen des einen Teiles gegen das Ganze der Seele [...] die Unordnung und Verwirrung in diesen Dingen werden wir als Ungerechtigkeit und Zuchtlosigkeit und Feigheit und Unwissenheit - mit einem Wort als Schlechtigkeit bezeichnen (444b).

    Wir können also festhalten, dass die Gerechtigkeit ein harmonischer Zustand der Seele ist, der sich einstellt, wenn alle drei Seelenteile ihre spezifische Aufgabe erfüllen, und zwar auf die beste Art und Weise, sodass sie ihre spezifischen Tugenden ausbilden können. Im Gegensatz dazu ist die Ungerechtigkeit ein chaotischer Zustand der Seele, der sich einstellt, wenn die drei Seelenteile ihre spezifische Aufgabe nicht erfüllen, sodass sie ihre spezifischen Tugenden nicht ausbilden können.

     

    Schluss

    Wir haben nun die Gerechtigkeit in der Seele und in der Polis bestimmt und können nun ein Fazit ziehen: die Polis und die Seele sind (1) gleichförmig (isomorph) bezüglich ihrer Teilung und (2) gleichartig bezüglich ihrer Tugenden:

    (1) Die Gleichförmigkeit ergibt sich durch die Dreiteilung der Polis und Seele (441c). Die Polis hat drei Stände (Arbeiter, Wächter, Philosophen) mit spezifischen Aufgaben (Produzieren, Schützen, Herrschen) und die Seele hat drei Teile (Begierde, Mut, Vernunft) mit spezifischen Aufgaben (Begehren, Helfen, Überlegen). Die Stände der Polis entsprechen dabei den Teilen der Seele: Der Stand der Bauern entspricht der Begierde, der Stand der Wächter dem Mut, der Stand der Philosophen der Vernunft.

    (2) Die Gleichartigkeit ergibt sich durch die Tugenden in der Polis und in der Seele (Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit). Die Tugend der Gerechtigkeit ist erst dann erworben, wenn alle drei Stände bzw. Seelenteile „das Seine tun“, das heisst, ihre eigene Aufgabe gut erfüllen und somit ihre spezifische Tugend ausgebildet haben. Die untenstehende Tabelle soll die beschriebene Analogie veranschaulichen:

    Tabelle

     

    Sokrates definiert die Gerechtigkeit also als einen harmonischen Zustand in der Seele, bei dem alle drei Seelenteile „das Ihre tun“ und ihre spezifische Tugend erwerben. Diese Definition unterscheidet sich von der Definition seiner Gesprächspartner Kephalos, Polemarchos und Thrasymachos, welche die Gerechtigkeit als eine (äussere) Handlung verstehen. Für Sokrates ist eine gerechte Handlung aber lediglich die äussere Manifestation des harmonischen (inneren) Zustandes der Seele.8

     

     

    Zusammenfassung

    Platons Werk Politeia handelt von der Definition der Gerechtigkeit: Die Gesprächspartner von Sokrates definieren die Gerechtigkeit jeweils durch eine Handlung, wobei Sokrates ihre Begriffsbestimmungen verwirft und meint, dass die Gerechtigkeit vielmehr ein Zustand der Seele ist, der sich durch eine harmonische Beziehung der Seelenteile kennzeichnet. Dieser Zustand stelle sich ein, wenn alle drei Seelenteile (Begierde, Mut, Vernunft) „das Ihre tun“ und ihre spezifische Tugend (Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit) ausgebildet haben. Als Analogie zieht er die Polis heran: Genauso wie sich die Harmonie in der Polis einstelle, wenn alle drei Stände (Arbeiter, Wächter, Philosophen) „das Ihre tun“ und ihre spezifische Tugend (Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit) ausbilden. 

     

    Fussnoten

    1 Pöhlmann, Kindler Klassiker Philosophie, 2016, 547.

    2 Die deutschen Zitate stammen aus der folgenden Ausgabe: Platon, Der Staat, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2010. 

    3 Pöhlmann, Kindler Klassiker Philosophie, 2016, 548.

    4 Pöhlmann, Kindler Klassiker Philosophie, 2016, 548.

    5 Vgl. Horn et al., Platon-Handbuch, „Psychologie“, 2017, 151.

    6 Vgl. ebd.

    7 Horn, Platon-Handbuch, 2017, 150.

    8 Vgl. McAleer, Plato’s Republic: An Introduction, 2020, 122.

     

    Bibliographie

     

    Primärliteratur

    Platon. Der Staat, Deutscher Taschenbuch Verlag, 6. Auflage, 2010 (1991).

     

    Sekundärliteratur

    Annas, Julia. An Introduction to Plato’s Republic, Oxford University Press, 1981.

    Bobonich, Christopher. Plato’s Utopia Recast, Oxford University Press, 2002.

    Horn, C. Müller, J. und Söder, J. (Hrsg.). Platon-Handbuch, Kapitel „Psychologie“. Springer Verlag, 2017. 

    Keyt, David. „Plato on Justice” in: A Companion to Plato, ed. Benson, Hugh H., Blackwell Publishing, 2006.

    Lorenz, Hendrik. “The Analysis of the Soul in Plato’s Republic”, In: The Blackwell Guide to Plato’s Republic, ed. Gerasimos Santas, Oxford, Blackwell, 2006, 146–165.

    McAleer, Sean. Plato’s Republic: An Introduction, Open Book Publishers, 2020.

    Pöhlmann, Ferdinand. Kindler Klassiker Philosophie: Werke aus drei Jahrtausenden. J.B. Metzler Verlag, 2016.