Freud Bashing

Ist die Psychoanalyse überholt? Dafür gibt es Argumente. Aber die Frage ist, ob diese greifen.

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    Jedes Mal, wenn in einer Kolumne der Name von Sigmund Freud erwähnt wird, provoziert das – so sicher wie das Amen in der Kirche – Kommentare, die dem Autor und der Leserschaft erklären, dass Freud veraltet sei. Überholt, nicht wissenschaftlich, nicht auf der Höhe der Zeit. Die wohlwollenden Kommentare gestehen ihm wenigstens zu, früher ein wichtiger Denker gewesen, aber durch den wissenschaftlichen Fortschritt überholt worden zu sein; die gehässigen machen sich über den Stellen­wert lustig, den die Sexualität in seiner Theorie einnimmt.

    Tatsächlich kann man aus guten Gründen der Ansicht sein, Freud und die Psycho­analyse seien veraltet. Doch die Frage ist: Spricht dies gegen die Psycho­analyse? Der Philosoph Herbert Marcuse, einer der Vordenker der 68er-Bewegung, vertrat jedenfalls die Ansicht, die Psycho­analyse sei von Anfang an veraltet gewesen, und erst das mache sie interessant und wertvoll. In einem Artikel, der 1963 unter dem Titel «Das Veralten der Psycho­analyse» erschien, schrieb er:

    "Ich behaupte, dass sie [die Psychoanalyse, D. S.] in dem Masse veraltet ist wie ihr Gegenstand, nämlich das «Individuum» als die Verkörperung von Es, Ich und Über-Ich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit veraltet ist. Die Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft hat das Freudsche Modell durch ein soziales Atom ersetzt, dessen seelische Struktur nicht mehr die Qualitäten aufweist, die Freud dem psycho­analytischen Gegenstand zusprach. In ihren verschiedenen Schulen hat die Psychoanalyse überdauert und sich über weite Bereiche der Gesellschaft ausgebreitet; aber mit der Veränderung ihres Gegenstandes hat sich die Kluft zwischen Theorie und Therapie vertieft, und die Therapie sieht sich einer Lage gegenüber, in der sie mehr dem Bestehenden zu helfen scheint als dem Individuum. Die Wahrheit der Psychoanalyse wird dadurch nicht entkräftet; im Gegenteil, das Veralten ihres Gegenstandes offenbart das Ausmass, in dem Fortschritt Repression gewesen ist."

    Herbert Marcuse, «Kultur und Gesellschaft», Bd. II, S. 259.

    Mir geht es, anders als Marcuse, nicht um eine Rehabilitierung der Psycho­analyse, das wäre ein hoffnungs­loses Unterfangen, die Meinungen sind längst gemacht. Vielmehr soll am Beispiel Freuds der Fortschritts­begriff infrage gestellt werden, der sich trotz aller Kritik so hartnäckig hält. Vor allem in den Wissenschaften.

    Was nun folgt, ist nicht das übliche Wissenschafts­bashing, das der wissenschaftlichen Betrachtung der Natur eine kitschig-ästhetische, sogenannt ganzheitliche entgegenstellt. Nichts läge mir ferner, ich möchte lediglich festhalten, dass auch die empirischen Wissenschaften interesse­geleitet sind und damit jeder Erkenntnis­fortschritt auch ein Ausdruck veränderter Macht­verhältnisse ist. Alle Forscher, selbst die ehrlichsten und unabhängigsten, verfolgen nebst der Mehrung des Wissens zum Wohle der Menschheit auch eigen­nützige Interessen. Sie wollen ihre Karriere voranbringen, sie möchten von ihrer Arbeit leben können und Anerkennung in der Fachwelt erringen. Dafür müssen sie wissen, welche Themen und Methoden gerade angesagt und welche out sind, wie man einen Finanzierungs­antrag formuliert, an welchen Universitäten man sich bewirbt, mit wem man sich gut stellt und wen man besser meidet. Wer diese Konventionen missachtet, hat auf dem akademischen Markt keine Chance. Das mag man als opportunistisch denunzieren, aber ohne solche Anpassungs­leistungen geht gar nichts.

    Die Konventionen werden von mächtigen Institutionen festgelegt, die darüber entscheiden, welche Forschungen finanziert werden und welche nicht: vom National­fonds, von den Universitäten, vor allem aber von den Firmen, die die Forschung finanzieren. Dass sie dabei ihre eigene Agenda verfolgen, liegt auf der Hand.

    Für eine Arbeit zur Psycho­analyse bekommt heute niemand Geld gesprochen, auf eine Stelle im Fach Psychologie braucht sich eine Psycho­analytikerin gar nicht erst zu bewerben, und einen Artikel mit psycho­analytischem Inhalt bringt man in einer renommierten Fach­zeitschrift nicht unter. Heute gilt in der Psychologie nur quantitative Forschung als wissenschaftlich. Die Entscheidung, dass die Psycho­analyse nicht wissenschaftlich und nicht auf der Höhe der Zeit ist, wird mit anderen Worten gefällt, bevor die Forschung überhaupt begonnen hat.

    Die Psychoanalyse wurde angefeindet, seit es sie gibt. Die Angriffe galten anfänglich dem sogenannten Pan­sexualismus Freuds: Bei ihm habe alles mit Sex zu tun, wurde behauptet, und dies disqualifiziere die Psycho­analyse grundsätzlich als Wissenschaft. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch die vielen jüdischen Psycho­analytikerinnen, die in die USA emigriert waren, die Psycho­analyse rehabilitiert. Die Anfeindungen hörten auf, und die Psycho­analyse stieg innerhalb der Psychiatrie gar zur einzigen, allgemein akzeptierten psychologischen Theorie auf. Der Preis, den sie dafür zahlte, war allerdings, dass die Sexualität weitgehend aus ihrer Theorie eliminiert wurde.

    Auf diesen Höhepunkt gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Akzeptanz folgte Anfang der Achtziger­jahre ein jäher Absturz. Den Anfang machte ein Buch eines Psycho­analytikers namens Jeffrey Masson. Er war von Sigmund Freuds Tochter Anna Freud beauftragt worden, den Briefwechsel, den Freud mit seinem Jugend­freund, dem Berliner Hals-Nasen-Ohren-Arzt Wilhelm Fliess, führte, neu herauszugeben. Masson glaubte, in diesem Brief­wechsel Beweise gefunden zu haben, dass Freud seine ursprüngliche Überzeugung, seine Patientinnen seien von ihren Vätern tatsächlich sexuell missbraucht worden, aus reinem Opportunismus aufgab. Er habe seine Karriere nicht gefährden wollen. Stattdessen habe er gegen besseres Wissen behauptet, das seien alles nur Fantasien der Patientinnen.

    Masson trat damit eine Welle von Publikationen los, die der Psycho­analyse und Freud feindlich gesinnt waren und sich eines für wissenschaftliche Debatten beispiellos gehässigen und feindseligen Tons befleissigten. Die darin erhobenen Vorwürfe lassen sich auf drei grund­sätzliche reduzieren:

    1. Die freudsche Theorie sei unwissenschaftlich, weil sie sich nicht falsifizieren lasse. Die Psycho­analytikerin behalte immer recht, ob der Patient der Deutung zustimme oder ihr widerspreche. Darüber hinaus gebe es keine robusten quantitativen Daten, die Freuds Theorie untermauerten.
    2. Die Psycho­analyse stelle ein krasses Abhängigkeits­verhältnis her und beraube die Patientinnen ihrer Autonomie. In einem solchen Abhängigkeits­verhältnis könne man jedem alles einreden. Dieser Vorwurf wurde vor allem von feministischer Seite erhoben.
    3. Freud sei ein notorischer Lügner, der mehr oder weniger alles frei erfunden habe.

    Diese Angriffe waren umso merkwürdiger, als sich genau zu jener Zeit eine neue Wissenschaft zu etablieren begann, die sogenannten science studies, die nachwiesen, dass selbst harte Natur­wissenschaften nicht nach den Prinzipien arbeiten, die sie öffentlich proklamieren. Es fand sich keine einzige Disziplin, die dem popperschen Ideal einer reinen empirischen Wissenschaft, die Hypothesen experimentell bestätigt oder verwirft, auch nur nahekommt. An die Psycho­analyse wurden also Forderungen gestellt, die keine andere Wissenschaft erfüllte. Die Feindseligkeit gegenüber der Psycho­analyse, die sich bis in die heutigen Kommentar­spalten der Republik fortpflanzt, musste daher einen anderen Ursprung haben als das Fehlen von Doppelblind­studien. Niemand würde einen Physiker, der keine solche vorzuweisen hat, als unwissenschaftlich bezeichnen.

    Vier Jahre vor Massons Buch, 1980 also, war nach vielen Jahren der Vorarbeit das DSM-III, das «Diagnostic and Statistical Manual», in seiner dritten Ausgabe heraus­gekommen, das die bisherige diagnostische Praxis in der Psychiatrie auf den Kopf stellte. Für jede psychiatrische Diagnose wurde eine Reihe von Symptomen angegeben und die Anzahl der Symptome festgelegt, die nötig sind, um sie zu rechtfertigen. Die Symptome mussten rein beschreibend sein, es wurden keine Ursachen als Kriterium für eine Diagnose zugelassen. Für die Diagnose einer schizophrenen Störung wurde mindestens eine von sechs pathologischen Erscheinungen während mindestens sechs Monaten verlangt, zum Beispiel Wahn­vorstellungen, Halluzinationen oder bizarres Verhalten.

    Die radikale Neuorientierung der psychiatrischen Diagnostik richtete sich gegen die Psycho­analyse. Die Pharma­industrie und die Universitäten hatten starken Druck auf die amerikanische Psychiatrie ausgeübt, endlich ein Diagnose­system einzuführen, das psychiatrische Leiden beforschbar macht; ein Diagnose­system also, mit dem man zählen, messen und vergleichen kann. Dafür eignet sich die Psycho­analyse nicht, der es um das Aufarbeiten einer singulären Lebens­geschichte geht. Diese kann man weder messen noch vergleichen. Indem die Lebens­geschichte für irrelevant erklärt wurde, wurde der Psycho­analyse ihre Grundlage entzogen, was wiederum der Pharma­industrie zugutekam. Ihre Botschaft war klar: Hört endlich auf, mit den Patienten zu reden, lasst sie Pillen schlucken. Nur das lässt sich wissenschaftlich erhärten.

    Der wissenschaftliche Fortschritt, den das DSM-III darstellte, diente also den handfesten Interessen der Pharma­industrie und den Psychiaterinnen, die in der medizinischen Gemeinschaft endlich als Wissenschaftler anerkannt sein wollten. Doch Marcuse sieht neben diesen harten wirtschaftlichen Interessen auch einen unter­gründigen, schwer fassbaren, gesellschaftlich aber umso bedeutenderen Prozess am Werk: das Entstehen eines neuen Menschen­bildes.

    Nach Freuds Vorstellung ist die Seele beständig in Konflikte verwickelt. Trieb­ansprüche streiten mit den Ansprüchen des Gewissens und denen der Realität, aufgrund der individuellen Lebens­geschichten auf je unterschiedliche Weise. Die inneren Konflikte lassen sich nicht beseitigen, man kann höchstens besser oder schlechter mit ihnen zurecht­kommen. Den Zusammen­hang zwischen der Lebens­geschichte und den inneren Konflikten besser zu verstehen, hilft, das Leiden zu vermindern. Sexualität ist lediglich Freuds Haupt­beispiel dafür. Wer die menschliche Sexualität von ihrer Funktion her, Kinder zu zeugen, zu begreifen sucht, versteht seiner Meinung nach nichts von ihr. Die Sexualität ist vielmehr das, was letztlich jeder Anpassung widersteht.

    Das DSM-III beraubt die Patienten und Patientinnen ihrer Geschichte und macht aus ihnen lediglich ein Bündel von Funktionen, zwischen denen kein Zusammen­hang besteht. Symptome kann man nicht verstehen, man kann sie nur zählen und vergleichen, weil das Symptom lediglich ein Zeichen für eine Dysfunktionalität ist, die beseitigt werden muss.

    Es geht nur noch um die Frage, ob der Mensch an seine Umgebung genügend angepasst ist und ob er funktioniert. Das subjektive Korrelat zum objektiven Funktionieren ist das Wohl­befinden: Wer in der Gesellschaft gut funktioniert, der fühlt sich in ihr auch wohl, so die Annahme. Folgerichtig beforscht die wissenschaftliche Psychologie fast ausschliesslich Funktions­niveau (das Wort gibt es tatsächlich!) und well-being. Unangepasstheit als Quelle des Wider­stands und des Glücks ist undenkbar geworden.

    Die Anpassung an die Realität hat die Aufklärung, das Wohl­befinden die Kraft zum Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse abgelöst. Was Kant in Bezug auf die Erziehung sagt, lässt sich auf die Therapie übertragen:

    "Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, dass sie in die gegen­wärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde."

    Immanuel Kant.

    Wenn Sie also das nächste Mal kommentieren, die Psycho­analyse sei veraltet, so bedenken Sie doch, dass es Leute gibt, die es mit Stolz erfüllt, überholt zu sein. Weil es sie an eine Zeit erinnert, als Unangepasstheit noch keine psychische Krankheit war, sondern das Zeichen eines starken und widerständigen Ichs.