"Flüchten ist wie eine Wiedergeburt"

Ein Gespräch mit Sohail Ajab Khan über das Ankommen in der Schweiz und die Schwierigkeiten, hier Fuss zu fassen.

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    Alina: Möchtest du dich zu Beginn kurz vorstellen?

    Sohail: Ich bin Sohail Ajab Khan und bin seit mehr als 7 Jahren in der Schweiz und selbstständig. Seit 6 Jahren bin ich am Arbeiten.

    Alina: Was meinst du mit “Selbständig”?

    Sohail: Ich habe keinen Kontakt mehr mit dem Kanton, um Sozialgeld zu bekommen.

    Alina: Und als was arbeitest du?

    Sohail: Im Moment als Pizzaiolo, nachher in der neuen Stelle bin ich in der Personalleitung in einem Restaurant. Also Pizzaiolo und Personalleitung.

    Alina: Was möchtest du der Schweiz sagen?

    Sohail: Ich höre viele Stimmen, die sagen, Geflüchtete schlafen nur und arbeiten nicht. Aber für alles gibt es einen Grund. Wir alle wissen, wie viel Stress und Depressionen die Schweizer und Schweizerinnen haben. Aber für geflüchtete Menschen ist es nicht nur so, dass sie ein neues Leben in der Schweiz haben, sie haben eine Vergangenheit. Es geht auch darum, was sie erlebt haben. Und die Kultur in der Schweiz ist schwierig. Zum Beispiel für mich, der grosse Stress, den ich am Anfang hatte, war: Ich muss mich schnell integrieren lassen. Es gibt so viele Sachen, die man hier in der Schweiz lernen muss, um sich zu integrieren, um eine Arbeit zu finden oder eine Lehre zu machen oder zu studieren. 

    Stell dir vor: Du kommst aus einem Land, in dem zum Beispiel Krieg war und du hast dich nicht sicher gefühlt. Und du gehst zuerst in ein geschlossenes Asylcamp. Alle dort haben viel Stress. Und du wünschst dir, dass du in eine Schule gehen kannst. Aber es ist nicht klar, ob du hier bleiben kannst oder nicht. Es braucht lange Zeit, bis man Bescheid bekommt. Bei mir ging es 4 Jahre, bis ich den F-Ausweis bekommen habe, ein Ausweis, der sagt, ich kann hier bleiben, bis mein Land wieder sicher ist. Das heisst, 4 Jahre lang durfte ich nicht arbeiten oder sonst etwas machen und musste warten. 

    Ich habe trotzdem angefangen zu arbeiten, mit dem N-Ausweis. Das war ein grosses Theater mit dem Asylsystem. Aber ich wollte nach draußen gehen und kein Sozialgeld vom Kanton bekommen. Ich kenne viele, die 4 Jahre in dieser Geschichte drin sind. Wie kannst du danach eine Arbeit finden oder Deutsch lernen? Es ist wichtig, gut Deutsch zu lernen, weil man eine Lehre finden muss. Denn ohne Lehre, was sind deine Möglichkeiten? Teller waschen? Und was verdienst du dann? 

    Viele Leute kommen mit diesem Stress nicht klar, und das ist der Grund, warum sie Depressionen bekommen und physische Krankheiten. Es gibt so viele Gründe und sie kommen von verschiedenen Seiten. Wir alle wissen, wie kalt die Schweizer Bevölkerung ist. Zum Beispiel ein Kontakt mit einer Schweizerin oder einem Schweizer zu finden ist schwierig. Zum Helfen sind sie da. Aber jemanden als Kollegen zu gewinnen, braucht viel Zeit. Das ist der Grund, warum man sich alleine fühlt in diesem Land. Ich hatte vielleicht mit mehr als 5’000 geflüchteten Menschen Kontakt. Und ich sehe, dass jeder Zweite dieses Gefühl hat. Und langsam geht das Gefühl weg, dass man hier willkommen ist. Sie haben das Gefühl, man will sie hier nicht. Hier beginnen so viele Sachen, die nicht gut sind für einen Menschen oder einen jungen Menschen oder einen alten Menschen, für ihr Leben und ihre Zukunft. 

    Ich habe viele Schwierigkeiten hier in der Schweiz erlebt: Asylcamp, Integration, Kontakte, Arbeiten, ein Leben, ein selbständiges Leben aufbauen. Ich habe einen anderen Ausweis aber dieselben Rechte wie alle anderen hier. Trotzdem muss ich so viel machen um das Gefühl zu haben, gleich zu sein wie die anderen.

    Afghanistan ist ein Land ohne Zukunft. Du siehst Menschen hungern, du siehst Menschen auf der Strasse, 50% der Bevölkerung, die Frauen, müssen zu Hause bleiben. Das ist ein Schock, mein Heimatland so zu sehen. Die Menschen, die aus Afghanistan fliehen, wollen Sicherheit. Aber die Europäer ignorieren sie einfach und geben ihnen nicht das Gefühl, hier willkommen oder sicher zu sein. Jetzt zum Beispiel in Griechenland oder in verschiedenen Ländern, so viele Menschen wollen sich töten aus verschiedenen Gründen. Sie haben keine Zukunft. Sie müssen streiten, nur um ein Essen für ihre Kinder zu bekommen. So viele Menschen hier in der Schweiz wissen nicht, was mit diesen Menschen passiert, was sie erleben. 

    Ein Freund von mir – er war früher mein Mitbewohner – er sucht seit 6 Monaten eine Wohnung und niemand gibt ihm eine Wohnung. Er bekommt keine, weil er ein Flüchtling ist. Er wohnt im Wohnzimmer eines Freundes seit 6 Monaten. Er geht Wohnungen besichtigen und am nächsten Tag schreiben sie ihm: Nein, du bekommst die Wohnung nicht. Warum nicht? Er arbeitet 100%. Vorgestern habe ich mit ihm geredet und er hat geweint. So viel Stress, wie er in seinem Leben hat, you cannot imagine. Und das passiert hier im Kanton Luzern. So viele Leute sind depressiv. Sie haben Krankheiten. Sie müssen wirklich zum Arzt gehen. Wegen dem Stress. Halb wegen dem, was sie mitbringen und halb wegen der Schweiz.

    Alina: Du sagst sogar für Schweizer:innen ist es schwierig hier zu leben, und wenn man geflüchtet ist, ist es noch viel schwieriger?

    Sohail: Flüchten ist wie eine Wiedergeburt. Du wirst in einem Land wiedergeboren und du musst die Sprache lernen, die ganze Kultur verstehen, dich integrieren. Alles das musst du machen, dann kannst du dein Leben ein bisschen verbessern. Das ist für jeden Menschen schwierig. Es gibt so viele Menschen, denen das so geht, aber sie werden vergessen. Viele leben nicht in den Städten, sondern irgendwo in den Bergen. Die Bevölkerung fragt: Warum sind diese Leute nicht integriert? Warum arbeiten sie nicht? Wie? Wie kann ich das machen? Wenn ich irgendwo in den Bergen bin und dort bleiben muss und der Kanton gibt mir 300 oder 400 Franken für mein Essen. Und wenn sie sagen, ja, du könntest selber etwas machen. Und wenn du in die Stadt willst und eine Wohnung suchst, bekommst du keine. So viele Menschen wollen sich integrieren, aber man muss ihnen auch eine Chance geben.

    Alina: Was glaubst du, was es braucht?

    Sohail: Es braucht mehr Kontakte zwischen den Menschen.  Es gibt so viele Sachen, die sie im Moment brauchen: Arbeit, eine Wohnung, Sicherheit…Und sie brauchen Kontakt, um nicht das Gefühl zu haben, alleine zu sein. Niemand will seine Heimat ohne einen Grund verlassen. Alle haben schwierige Sachen erlebt. Ich persönlich glaube, das ist Rassismus. Dass man in verschiedene Menschen unterteilt. Dass man in Sprachen, Religionen, Farben unterteilt. Nein, es sind alles Menschen. Es ist wichtig, Menschen als Menschen zu sehen. Aber wenn du Menschen als ein Dokument siehst, dann bist du ein bisschen rassistisch. Zuerst ist man Mensch, dann kommt die Farbe, die Religion, die Sprache. Ich kannte niemanden hier, als ich aus Afghanistan gekommen bin. Jetzt kenne ich viele Menschen und das nur, weil wir einen Mensch-zu-Mensch-Kontakt hatten. Wenn sie mich gesehen hätten als ein Dokument, dann wäre der Kontakt nicht geblieben. Dieser Rassismus gibt es in jedem Land, in jeder Sprache. In manchen mehr und in anderen weniger. Ich verstehe manchmal nicht, warum es das gibt. Aber es gibt auch andere Menschen in der Schweiz, die sehr nett sind und gut. Wichtig ist es, Orte zu haben wie das HelloWelcome oder unsere Partyreihe “Bong da City”, wo man in Kontakt kommt, zusammen etwas isst und Spass hat. Party zu machen ist ein Freiheitsgefühl und es hilft, die eigene Situation besser zu ertragen.

     


     

    Das HelloWelcome ist ein Treffpunkt für geflüchtete Menschen in Luzern.

    "Bong da City" ist eine Partyreihe, die im Club des Neubad Luzern stattfindet.