Zukunftsethik

Der Begriff der Zukunft gehört zu den scheinbaren Selbstverständlichkeiten der Sprache, sowohl in der Lebenswelt als auch in den Wissenschaften.

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    „Der Begriff der Zukunft gehört zu den scheinbaren Selbstverständlichkeiten der Sprache, sowohl in der Lebenswelt als auch in den Wissenschaften. Zumeist reden wir über Zukunft in dem Sinne der zukünftigen Gegenwart, d.h. wie über einen Zustand, der dem Erleben der Gegenwart entspricht, der allerdings mit einem anderen Zeitindex versehen ist. In dieser Redeweise versetzen wir uns wie in einem Gedankenexperiment in die Perspektive eines Teilnehmers jener zukünftigen Gegenwart. Wenn wir über Urlaubspläne, den Wetterbericht, die Aussichten für das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr oder den demografischen Wandel reden, jeweils denken wir dabei zumeist an derartige zukünftige Gegenwarten. Auch die Wissenschaften, zu deren Programm Zukunftsaussagen gehören wie die Volkswirtschaftslehre, beanspruchen zumeist Aspekte zukünftiger Gegenwarten zu beschreiben. Zukunft ist jedoch entgegen der üblichen Redeweise nicht die oder eine mögliche zukünftige Gegenwart. Zukunft ist, aufgrund des unlösbaren Bezugs auf die sprachlichen Mittel, mit denen wir über Zukunft reden, immer das, von dem in der Sprache, also jeweils ‚heute‘, erwartet wird, dass es sich ereignen wird oder kann. (…) Zukünfte werden sprachlich (…) konstruiert.“ (1) Der Professor für Technikphilosophie und Technikethik an der Universität Karlsruhe, Dr. Armin Grunwald, untersucht die Frage, wie bei ethischen Überlegungen ein orientierender Mehrwert gewonnen werden kann, wenn sich diese auf unsichere Zukünfte beziehen. Viele Folgenerwartungen, welche sich auf Modelle und Simulationen oder Szenarien stützen, sind heftig umstritten oder unsicher oder gar spekulativ. Zu letzterem Fall schreibt Grunwald:

    „Wenn die Zukünfte, über die Ethik reflektiert, in einer radikalen Weise bloss spekulativ wären, folgte aus dem ethischen Rat, der sich aus der Reflexion ergeben kann, nichts. (…) In der Spekulativität der Folgenüberlegungen verschwände das Objekt der Ethik, die dadurch obsolet [überflüssig] werde: nicht Ethik setze der Technik, sondern Technik durch ihre unsicheren Zukünfte der Ethik Grenzen (…). Allerdings gilt dieser Schluss so generell sicher nicht. Dass zugestandenermassen viele der mittlerweile bekannt gewordenen Folgen wissenschaftlichen und technischen Handelns ihren Verursachern nicht bekannt waren, und dieses mit Sicherheit auch für gegenwärtiges Handeln in vielen Bereichen gilt, ist kein Argument gegen Möglichkeit und Relevanz von Technikethik per se. Auch trotz der mangelnden Prognostizierbarkeit können viele Aspekte der Technikentwicklung einer ethischen Reflexion unterzogen werden. So kann vor allem über die Rechtfertigbarkeit der Zwecke der Technikentwicklung und auch über die Mittel, die im Forschungs- und Entwicklungsprozess eingesetzt werden, eine ethische Diskussion ohne Prognoseprobleme der genannten Art geführt werden. (…) Vor allem aber ist der Verweis auf die Unsicherheiten von Technik- und Technikfolgenzukünften kein Argument gegen ethische Reflexion, sondern betont geradezu ihre Notwendigkeit. Ein Handeln unter Risiko ist immer auch von explizit ethischer Relevanz, indem nämlich der Umgang mit Nichtwissen oder nicht sicherem Wissen die Frage nach der ethischen Rechtfertigung von Handeln in besonderer Weise stellt – allerdings ist ein Weg zu finden, der entsprechende Überlegungen gegen den genannten Verdacht der Beliebigkeit wappnet.“ (2)

    Ein möglicher Weg, dem Verdacht der Beliebigkeit zu entkommen, ist die Durchführung einer Analyse und Abstufung der Wissensbestandteile, welche die jeweilige Zukunftsaussage prägen. Die Qualität des enthaltenen Wissens ist für den Geltungsanspruch ausschlaggebend, welche nach Grunwald folgende Abstufung erlaubt:

    • „Gegenwärtiges Wissen, das nach anerkannten Kriterien als Wissen erwiesen ist (…); Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen, die kein gegenwärtiges Wissen darstellen, sich aber durch gegenwärtiges Wissen begründen lassen (z.B: demografischer Wandel, Energiebedarf);
    • ceteris-paribus Bedingungen, indem bestimmte Kontinuititäten [Beständigkeiten], ein ‚business as usual‘ in bestimmten Hinsichten oder die Abwesenheit disruptiver [unterbrechender] Veränderungen als Rahmen für die prospektiven Aussagen angenommen werden;
    • ad-hoc Annahmen, die nicht durch Wissen begründet sind, sondern die ‚gesetzt‘ werden (wie z.B. die auch zukünftige Gültigkeit des deutschen Kernenergieausstiegs, das Nichteintreten eines katastrophalen Kometeneinschlags auf der Erde …).“ (3)

     

    Auf die Zukunft gerichtete Ethik
    Neben den unterschiedlichen Stufen der Wissensbestandteile fragt sich auch hinsichtlich den gegenwärtigen ethischen Normen, inwiefern diese in der Zukunft als gerechtfertigt angesehen werden können. Sind alle ethischen Argumente zeitlos gültig? Oder wird eine zukünftige Generation ihre eigenen moralischen Vorstellungen entwickeln, welche wir uns heutzutage gar nicht vorstellen können?

    Grunwald beantwortet die Frage folgendermassen: „Historisch lässt sich durchaus festhalten, dass bestimmte ethische Standards durch kulturellen Wandel hindurch Bestand haben. Da dies jedoch keineswegs für alle normativen Standards gilt, ist die Frage nach den Kriterien zu beantworten, unter welchen in einer kontroversen Zukunftsdebatte entschieden werden könnte, welche normativen Sätze zeitübergreifende Geltung beanspruchen können und welche nicht, und unter welchen Voraussetzungen diese Unterscheidung getroffen werden kann.“ (4)

    Da sich der Standpunkt zukünftiger Generationen nicht einnehmen lässt, beziehen sich die heutigen ethischen Beurteilungen meist auf die „nächsten Schritte“ und unterliegen zusätzlich grossen Unterschieden an Gültigkeit. (5)


    Quellen:

    1. Armin Grunwald, Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft, Verlag Karl Alber Verlag, Freiburg / München 2008, ISBN 978-3-495-48327-5, S. 324
    2. ebenda, S. 319-320
    3. ebenda, S. 328
    4. ebenda, S. 330
    5. vgl. Ebenda, S. 333