Was ist Diskriminierung?

Plädoyer für ein asymmetrisches Verständnis

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    Seit Ausbruch der Corona-Pandemie, wird von sich häufenden Diskriminierungen von asiatisch aussehenden Personen berichtet.1 So sei einer chinesischen Studentin etwa mit der Begründung, man wolle keinen Corona-Virus, eine besichtigte Wohnung nicht vermietet und einem Patienten chinesischer Herkunft die Behandlung in einer Arztpraxis verweigert worden. Mittlerweile gerät die Diskriminierung älterer oder chronisch kranker Menschen bei der Verteilung von lebensrettenden Beatmungsmöglichkeiten sowie im Umgang mit der Krise in den Fokus der Debatte.2

    Diese Berichte über Diskriminierungen sind ohne Weiteres verständlich; es werden hier jeweils Personen bzw. Personengruppen auf der Basis eines bestimmten Gruppenmerkmals benachteiligt. Derartige Benachteiligungen gelten allgemein als moralisch falsch und sind durch nationale und internationale Statuten verboten. In Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es etwa: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Im Falle der genannten Chinesin, der wegen ihrer Herkunft die Anmietung einer Wohnung verweigert wird, ist dieses Prinzip offensichtlich verletzt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass nicht alle Benachteiligungen auf Basis eines Gruppenmerkmals moralisch problematisch sind. Genannt seien hier die Regelungen, dass Jugendliche unter 16 keinen Alkohol trinken oder blinde Personen nicht Pilot*in werden dürfen. Daneben gibt es Fälle, die schwieriger zu beurteilen sind: stellt es eine unzulässige Diskriminierung dar, wenn ein Frauenhaus nur weibliche Psychologinnen einstellt? Und könnte das Alter der Patient*innen im Falle einer nötigen Beatmung nicht sogar ein legitimes Priorisierungskriterium darstellen?3

    Diese kurze Betrachtung zeigt, dass es keineswegs trivial ist festzustellen, was genau „Diskriminierung“ eigentlich ist, was mithin die Fälle problematischer von den Beispielen unproblematischer Benachteiligung unterscheidet. Diese Frage zu klären ist nicht zuletzt aufgrund der hohen gesellschaftlichen Relevanz des Themas – man denke an die #Metoo-Bewegung sowie den erstarkenden Rassismus in ganz Europa – wichtig. Zugleich ist dieses Unterfangen jedoch mit einigen Schwierigkeiten verbunden, insofern nicht nur alltagssprachlich ganz unterschiedliche Phänomene als „Diskriminierung“ bezeichnet werden, sondern auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sowie innerhalb der Philosophie selbst unterschiedliche Diskriminierungsbegriffe verwendet werden. Strittig ist hier etwa die Frage, ob der Diskriminierungsbegriff ein sogenanntes Gruppenkriterium enthalten muss, das angibt, welche Mitglieder sozialer Gruppen überhaupt Opfer von Diskriminierung werden können. Warum etwa ist im GG die Benachteiligung auf der Basis von Herkunft und Geschlecht genannt, nicht aber sexuelle Orientierung oder Aussehen? Ist es überhaupt begrifflich möglich, aufgrund seiner Augenfarbe diskriminiert zu werden?

    Dies sind schwierige Fragen, die ich nicht – schon gar nicht in einem Blogbeitrag – beantworten kann. Ich möchte hier lediglich einen ersten Schritt in Richtung auf eine begriffliche Klärung vornehmen und ein zentrales Element eines meines Erachtens vielversprechenden Diskriminierungsbegriffs skizzieren. Die Ausgangsthese meiner Überlegungen lautet, dass sich das genuine moralische Übel von Diskriminierung nicht erfassen lässt, solange man die jeweilige Interaktion zwischen diskriminierender und diskriminierter Partei fokussiert, ohne den Hintergrund sozialer Ungleichheiten zu betrachten und somit eine grundlegende Asymmetrie des Diskriminierungsbegriffs unberücksichtigt lässt.4

    Zur Erläuterung: Mir scheint, dass Diskriminierung etwas mit systematischer Benachteiligung zu tun hat – wobei ich „Benachteiligung“ oder „Nachteil“ hier in einem weiten Sinne verstehe, der etwa auch Herabsetzung umfasst. Um dieses systematische Element einzufangen, scheint ein Gruppenkriterium ein Schritt in die richtige Richtung zu sein und ich schließe mich hier Lippert-Rasmussen (2014) an, der als diskriminierungsrelevante Merkmale diejenigen identifiziert, die die Zugehörigkeit zu einer sozial relevanten (socially salient) Gruppe markieren. Sozial relevant wiederum sind die Gruppenzugehörigkeiten, die soziale Interaktionen über verschiedene Kontexte hinweg strukturieren. Entscheidend ist dabei nicht, ob man sich selbst mit dieser Gruppe identifiziert, sondern wie andere auf die wahrgenommene Gruppenzugehörigkeit reagieren. Gender gehört diesem Gruppenkriterium zufolge zu den diskriminierungsrelevanten Merkmalen, Augenfarbe hingegen nicht. Welche Merkmale sozial relevant sind, ist dabei historisch und kulturell kontingent. Wir könnten uns etwa eine Gesellschaft vorstellen, in der Augenfarbe als ein Merkmal der sozialen Identifikation von Individuen funktioniert. Vielleicht sind grünäugige Menschen in dieser Gesellschaft in der Vergangenheit als Hexen oder Hexer verfolgt worden und ein gewisses Unbehagen ihnen gegenüber prägt nach wie vor die sozialen Interaktionen.

    Was dieses Gruppenkriterium unberücksichtigt lässt, ist die Tatsache, dass unterschiedliche Ausprägungen der sozial relevanten Merkmale einen wesentlichen Unterschied für die Behandlung der betroffenen Individuen machen. Betrachten wir das Beispiel der sexuellen Orientierung: während dieses Merkmal unsere Interaktionen in verschiedenen sozialen Kontexten strukturiert, macht die Ausprägung dieses Merkmals einen erheblichen Unterschied für die Art dieser Interaktionen. In einer heteronormativ strukturierten Gesellschaft meint Diskriminierung „auf Basis der sexuellen Ausrichtung“ meist nicht die ungerechtfertigte Benachteiligung von Heterosexuellen, sondern die von Homosexuellen oder von Personen mit einer anderweitig vom heteronormativen Ideal abweichender Sexualität.5 Diese asymmetrische Natur des Diskriminierungsbegriffs zeigt sich auch in den eingangs genannten Beispielen: hier ist von der Diskriminierung einer ethnischen Minderheit und von Älteren die Rede. Der normativ relevante Unterschied zwischen der singulären Benachteiligung von, zum Beispiel, Männern und Frauen im Arbeitsleben, besteht darin, dass sich die Benachteiligung von Frauen vor dem Hintergrund gesellschaftlich ungleicher Machtverhältnisse (im Allgemeinen) in eine Reihe von Benachteiligungen einreiht und mit einer spezifischen sozialen – hier: sexistischen – Bedeutung versehen ist, was für die Benachteiligung von Männer nicht der Fall ist. Dies dürfte eine einmalige – oder zumindest sehr seltene – Phänomen im Leben eines bestimmten Mannes sein.

    Diese Überlegungen bleiben skizzenhaft und werfen womöglich zunächst mehr Fragen auf, als sie zu lösen scheinen. Zumindest stellen sie m. E. aber einen ersten Schritt im Hinblick auf eine spezifischere Konturierung des Diskriminierungsbegriffs dar, auch wenn hier philosophisch noch einiges zu tun bleibt.


    Literatur

    Blum, Lawrence (2013): Racial and other asymmetries. A problem for the protected category framework for anti-discrimination thought. In Philosophical Foundations of Discrimination Law, hrsg. von Deborah Hellman und Sophia Moreau, 182–199. Oxford.

    Hellman, Deborah (2008): When is Discrimination Wrong? Cambridge Mass.

    Klonschinski, Andrea (2020) Was ist Diskriminierung und was genau ist daran moralisch falsch? Einleitung zum Schwerpunkt "Diskriminierung", Zeitschrift für Praktische Philosophie 7(1): 133-154, https://www.praktische-philosophie.org/klonschinski-2020.html .

    Scanlon, Thomas (2008): Moral Dimensions. Permissibility, Meaning, Blame. Cambridge.

    Lippert-Rasmussen, Kasper (2014): Born Free and Equal? A Philosophical Inquiry into the Nature of Discrimination, Oxford.


    3 Bis hier her basieren die Überlegungen auf der Einleitung zu dem von mir herausgegebenen Schwerpunkt „Diskriminierung“ in der Zeitschrift für Praktische Philosophie (vgl. Klonschinski2020). Der gesamte Schwerpunkt findet sich hier: https://www.praktische-philosophie.org/klonschinski-2020.html

    4 Ich folge damit Hellman (2008), Scanlon (2008) und Blum (2013).

    5 So auch Blum (2013), von dem auch dieses Beispiel stammt.