Eintrag 3.5

Nachtrag zu Eintrag 3

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    Deweys Philosophie spielte im vorangegangenen Beitrag eine zentrale Rolle. Wegen der Kürze des Artikels konnte ich nicht genauer darauf eingehen, wodurch einige Unklarheiten zurückblieben. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, diesen Nachtrag zu verfassen. Darin sollen die angedeuteten Argumente etwas detaillierter aufgearbeitet werden.

    Dieser Nachtrag wird sich im Vergleich zu den anderen Beiträgen ausschliesslich mit der Philosophie Deweys beschäftigen. Wer daran kein Interesse hat, kann ihn gerne überspringen. Ich werde nicht genauer auf das Thema von Demokratie und Wahrheit eingehen als in meinem letzten Beitrag.

    Zu klären sind zwei Argumente bei Dewey, die ich in meinem letzten Text andeutete:

    1. Der Sprung von der deskriptiven auf die normative Ebene.
    2. Die Wesensähnlichkeit von Demokratie und Wissenschaft.

    Beide werde ich im Anschluss in zwei gesonderten Abschnitten behandeln, obwohl sie innerhalb von Deweys Werk miteinander verknüpft sind. Diese Verbindung werde ich allerdings nur andeuten können, denn ein genaues Herausarbeiten würde wiederum den Rahmen des vorliegenden Textes sprengen.

     

    I. Zwischen Deskriptiv und Normativ

    Das alltägliche Leben der Menschen nimmt bei Dewey eine zentrale Rolle ein: Es bildet die Grundlage für seine Betrachtungen über die Stellung der Philosophie – überhaupt jeglicher Erkenntnis. Gemeint ist damit, dass jegliche menschliche Handlungen, seien diese praktischer oder theoretischer Natur, in den Lebenszyklus von Menschen eingebunden sind.1 Sowohl handwerklich als auch wissenschaftlich tätige Menschen müssen ihr Überleben bestreiten. Und streben gemäss Dewey nach Genuss.2

    Für Dewey bildet das Streben nach Selbsterhaltung, Überleben und Genuss eine grundlegende Charakteristik eines jeden biologischen Organismus: Genuss – eine bei Dewey vage gehaltene Kategorie – stellt das Ziel des Lebens dar.3 Alle Handlungen, die Menschen und andere Organismen zur Erfüllung dieses Ziels einsetzen, weisen für ihn den Status eines Werkzeuges auf, seien diese tatsächliche Werkzeuge oder theoretische Überlegungen. Die Philosophie bildet hierbei für Dewey keine Ausnahme: Ihre Theorien sind dafür da, damit wir uns in unserer Umwelt zurechtfinden und um Genuss zu realisieren.

    Die Vermischung von deskriptiver und normativer Ebene geschieht bei Dewey – grob und etwas ungenau gesagt – durch die Integration eines normativ aufgeladenen Ziels in die Beschreibung von Organismen: Der Genuss als Ziel des Lebens bildet sowohl eine deskriptive wie normative Kategorie. Philosophie ist nun insofern gute Philosophie, als dass sie in irgendeiner Form zur Erreichung dieses Ziels beiträgt.4

    Erweiternd muss angemerkt werden, dass Genuss und Demokratie bei Dewey eine enge Verknüpfung aufweisen. Demokratie stellt jene Form des gemeinsamen Zusammenlebens dar, in welcher alle Mitglieder einer Gesellschaft kollaborativ daran arbeiten, den Genuss für alle zu steigern: In hierarchischen Gesellschaften dienen Viele dem Genuss Weniger; nur in wahren Demokratien, so ist Dewey überzeugt, können alle Personen ihren Genuss verwirklichen.5 Dabei schwebt Dewey ein viel umfassenderes Verständnis von Demokratie vor, als es zu seiner Zeit realisiert war – woran sich wohl bis heute nicht viel geändert hat. Der Platz reicht an dieser Stelle allerdings nicht aus, um diesen Gedanken zu vertiefen.

    Im Licht dieser kurzen Betrachtung kann mein Argument aus dem vorangegangenen Beitrag wie folgt verstanden werden: Mit Dewey stimme ich darin überein, dass nur eine umfassend demokratisierte Lebensform ein Erreichen von wirklichem Genuss im Leben ermöglicht. Weiter sehe ich die Philosophie und andere wissenschaftliche Tätigkeiten als ein Werkzeug zum Erreichen dieses Ziels an. Die Philosophie sollte in meinen Augen einen Beitrag zur weiteren Demokratisierung unserer Lebensform leisten und gegen jene Tendenzen vorgehen, die das Fortbestehen der Demokratie bedrohen – seien dies antidemokratische politische Bewegungen oder die Zerstörung der Lebensgrundlage durch die Klimakrise.

     

    II. Über Dogmatismus und Skeptizismus

    Wissenschaft und Demokratie besitzen für Dewey eine grundlegende Gemeinsamkeit: Sie sind beide dem Skeptizismus verpflichtet. Dewey meint damit, dass beide ein System bilden, welches ständig Hypothesen aufstellt, prüft und revidiert. Auf der politischen Ebene bedeutet dies, dass demokratische Gesetzgebung immer wieder aufgehoben werden kann; dass soziale Gefüge immer nur eine Hypothese darstellen, die man wiederum zugunsten einer anderen über Bord werfen kann. Auf der Ebene der Wissenschaften argumentiert Dewey, dass diese den Inbegriff des institutionalisierten Zweifelns darstellen: Das Infragestellen, Verwerfen und Neuaufstellen von Hypothesen, Methoden und Herangehensweisen bilden für ihn die Kernelemente der wissenschaftlichen Praxis.6

    Dewey spezifiziert diese Wesenverwantheit beider Systeme anhand einer etwas vereinfachten Genealogie. Er argumentiert, dass in der neueren Geschichte eine Befreiung von dogmatischen Denkweisen stattgefunden hat, die zuvor sowohl die Wissenschaften als auch die Politik dominierten. Ein zentraler Bestandteil dieser Befreiung stellt für ihn Darwins Theorie der Evolution dar, die die aristotelisch und religiös inspirierte Vorstellung der Unwandelbarkeit biologischer Arten ablöste. Zusammen mit der Entdeckung? stochastischer Naturgesetze im Rahmen der Thermodynamik und Einsteins Kritik an starren Konzeptionen von Raum und Zeit, bilden diese Entwicklungen für Dewey einen Siegeszug des Instabilen und Wandelbaren im wissenschaftlichen Denken. Er schliesst daraus, dass eine moderne Naturwissenschaft sich einzig auf den Gebrauch zu kritisierender Hypothesen stellen kann, da sich als stabil verstandene Theoriegebäude immer auch als wandelbar herausstellen können. Das Anzweifeln und Kritisieren gegebener Thesen wird von der gefährlichen Ketzerei zur epistemischen Tugend erhoben.7

    Eine analoge Geschichte erzählt Dewey ebenfalls für den Bereich des Politischen: Durch die Aufklärung und die Verabschiedung von religiös geprägten Vorstellungen über das richtige Zusammenleben wurde es den Menschen möglich, demokratisch über verschiedene Entwürfe ihres Lebens zu bestimmen. Allerdings, so Deweys Diagnose, befindet sich diese Entwicklung verglichen mit den Naturwissenschaften noch in ihren Kinderschuhen. Zu viele Aspekte des menschlichen Zusammenlebens sind noch immer geprägt von dogmatischen Vorstellungen, Überbleibseln einer vergangenen Ordnung. Selbst liberale Naturrechtskonzeptionen stellen für ihn noch dogmatische politische Instrumente dar, von denen sich eine richtige Demokratie emanzipieren muss. In ihrer Reinform besteht Demokratie für Dewey aus einem kontinuierlichen Prozess neuer Gefüge sozialer Organisation, welche wie Hypothesen ständig überprüft und angepasst werden müssen.8

    Ähnlich wie ich bereits im vorangegangenen Abschnitt erläutert habe, stellt für Dewey die Wesensähnlichkeit von Wissenschaft und Demokratie nicht nur eine deskriptive Tatsache dar, sondern nimmt ebenfalls normative Züge an: Die Praktiken der Wissenschaften gelten Dewey als Vorbild für die Organisation von demokratischen Gesellschaften.9

    Meine persönliche Skepsis mit diesen Vorstellungen beruht darauf, dass ich mir nicht sicher bin, ob sich die Wissenschaft in ihrer Essenz wirklich nur auf diesen von Dewey beschriebenen selbstkritischen Prozess reduzieren lässt. Auch frage ich mich, welche Rolle etwa Menschenrechten oder anderen starken Prinzipien unserer Gesellschaften in Deweys Konzeption der Demokratie zufallen würden und ob wir tatsächlich bereit wären, auch in diesem Zusammenhang von einer Hypothese zu sprechen?

     

    Anmerkungen:

    1 Dewey 1925, 55-87.
    2 Dewey 1925, 88-126.
    3 Ebd.
    4 Ebd. und Dewey 1925, 15-54.
    5 Beispielsweise LW 11, 298-299: 1937.
    6 LW 12, 16: 1938.
    7 LW 4, 164: 1929.
    8 Etwa LW 11, 64: 1935.
    9 Ebd.

     

    Literatur:

    Dewey, John. (1925)[1995]. Erfahrung und Natur, übers. Martin Suhr, Frankfurt a.M.

    Dewey, John. [1985]. The Later Works of John Dewey, 1925-1953, hrsg. Jo Ann Boydston, Carbondale/Edwardsville. [= LW]