Essay-Wettbewerb Erste:r

Die Schwelle zur Philosophie: Erstakademiker im ostasiatischen Bildungskontext

Bildung heißt für mich nicht Wissen anzusammeln, sondern Denken zu lernen, Verantwortung zu tragen und zu reifen. Doch in China wird Bildung oft auf Prüfungen reduziert.

Zufällig stieß ich auf den Aufruf zu diesem Essay-Wettbewerb, dessen Thema mich sofort in seinen Bann zog. Die Frage nach dem Selbstverständnis von Erstakademikern berührt mich nicht nur persönlich, sondern auch kulturell, weil mein eigener Bildungsweg in einem ostasiatischen Kontext verankert ist. In China ist die Wissenschaft tief in Machtstrukturen eingebettet. Der konfuzianische Gedanke, dass sich Bildung und Karriere gegenseitig bedingen, wurde spätestens seit der Einführung des kaiserlichen Prüfungssystems im Jahr 605 unter der Sui-Dynastie institutionell verankert. Der Gelehrte war nie nur ein Träger von Wissen, sondern stets auch Anwärter auf ein Amt. Diese kulturelle Vorprägung beeinflusste meine eigene Motivation. Als junger Philosoph war mein Weg in die Wissenschaft von Anfang an begleitet von kritischen Fragen. Ich habe die akademische Laufbahn nie verklärt, sondern stets als einen Raum des Suchens und Zweifelns verstanden. Mein Interesse an Philosophie entstand nicht aus einem vorgezeichneten Plan, sondern wuchs inmitten von Zufällen, familiären Spannungen und biografischen Umwegen. Warum folgte ich nicht dem Weg meiner Eltern in den Handel? Warum entschied ich mich für ein Studium der Philosophie, dessen Ausgang ungewiss war? Die Antworten liegen in meiner Kindheit.

In den 1990er Jahren zogen meine Eltern, einer politischen Initiative folgend, von Chongqing nach Lhasa. Die Bildungsinfrastruktur war dort schwach, sodass ich zunächst von meinen Großeltern betreut wurde. Erst später holten mich meine Eltern zu sich. Die Jahre in Tibet prägten mich tief: Ich lernte Tibetisch, hatte Mitschüler aus anderen Kulturen und begann, die Welt als etwas Vielfältiges zu begreifen. Meine Mutter führte zwei Apotheken, ihr mathematisches Verständnis half mir beim Lernen. Mein Vater war Kaufmann, schenkte mir jedoch zahlreiche Werke der Literatur und Geschichte, die mein Denken prägten. In diesem Umfeld wuchs meine Liebe zur Sprache, zum Nachdenken und zur Welt der Ideen. Meine Eltern hatten selbst nicht studiert. Umso stärker lag in mir ihr unausgesprochener Wunsch, dass ich das vollenden sollte, was ihnen verwehrt geblieben war. Sie hofften auf einen Bildungsweg, der über Schule, Studium und Promotion zur sicheren gesellschaftlichen Position führen würde. In China ist dies ein verbreitetes Ideal: Bildung als Mittel zum sozialen Aufstieg. Auch ich schwankte lange zwischen diesem Bild und der Frage, ob Wissenschaft nicht ein Wert an sich sein sollte. Viele bedeutende Denker haben in unterschiedlicher Weise betont, dass der wahre Sinn der Wissenschaft nicht in Eitelkeit, sondern in der Treue zur Idee liege. Doch in China wird diese Idee häufig von pragmatischen Zielvorstellungen überlagert.

Immer mehr junge Menschen aus nicht-akademischen Haushalten schaffen den Sprung an die Universität. Dennoch bleibt es ein seltener Weg. Das chinesische Bildungssystem ist selektiv, zentralisiert und von einem harten Konkurrenzkampf geprägt. Schon als Jugendliche ziehen viele in Internate, um sich auf das Gaokao(Abitur) vorzubereiten. Wer Philosophie studiert, entscheidet sich gegen schnelle Gewinne und für einen langen, unsicheren Weg. Nur wer eine starke innere Berufung spürt oder familiäre Stabilität besitzt, hält durch. Bildung bedeutet für mich weit mehr als das bloße Anhäufen von Wissen. Sie besteht darin, ein Gespür für Zusammenhänge zu entwickeln, Urteile bedacht zu fällen und Verantwortung zu übernehmen, auch in schwierigen Momenten. Doch im chinesischen System verliert sich dieser tiefere Sinn von Bildung allzu oft hinter Leitungspunkten, Ranglisten und Prüfungen. Denken wird durch Wiederholen ersetzt, Reife durch Gehorsam, und das eigentliche Ziel, ein freier und denkender Mensch zu werden, gerät aus dem Blick.

Hinzu kommen historische Verzerrungen. Viele Hochschullehrer, die in den 1950er und 60er Jahren geboren wurden, profitierten von den institutionellen Lücken der Nach-Kulturrevolutionszeit. Einige von ihnen beanspruchen bis heute zentrale Ressourcen, besetzen Gutachterposten, etablieren Netzwerke. So entsteht eine akademische Landschaft, die sich durch formale Rhetorik, aber mangelnde Substanz auszeichnet. Es gibt Fälle, in denen Professoren dutzendfach ähnliche Artikel publizieren, ohne auf fremde Literatur einzugehen. Dahinter steht weniger wissenschaftliche Exzellenz als vielmehr administrative Macht. Wenn aber Wissen zum Werkzeug institutioneller Legitimation wird, verliert es seine Kraft zur Kritik. Gerade Erstakademiker laufen Gefahr, nach dem sozialen Aufstieg selbst Teil jener Strukturen zu werden, die sie ursprünglich überwinden wollten. Der Stolz über Anerkennung kann das Bewusstsein für Ungerechtigkeit trüben. Es stellt sich daher die Frage: Können wir nicht nur sozial, sondern auch geistig aufsteigen? Sind wir in der Lage, unsere marginale Erfahrung in eine ethische Haltung zu verwandeln?

Die Rolle des Erstakademikers sollte nicht nur als Erfolgsgeschichte verstanden werden, sondern als philosophische Chance. Zwischen Herkunft und Wissen könnte sich ein neuer Sinn für Verantwortung entfalten. Wissenschaft sollte aus innerer Berufung entstehen. Doch diese Reinheit der Motivation wird in einer Umgebung, die Macht über alles stellt, oft untergraben. Vielleicht ist es gerade die Zwischenlage, das Leben zwischen zwei Welten, die Erstakademiker besonders befähigt, die blinden Flecken der Systeme zu erkennen. Ihre Fragen entspringen nicht dem Wunsch nach Prestige, sondern dem Erleben von Widersprüchen. Diese Identität muss sich emanzipieren: von sozialem Ehrgeiz, von äußeren Erwartungen, von der Versuchung, das System nur zu reproduzieren. Wissenschaft darf weder der Macht dienen noch sich selbst genügen. Sie sollte der Suche nach Wahrheit verpflichtet sein, dem Dienst an der Öffentlichkeit und dem Bewusstsein für die eigene historische Zufälligkeit. Für chinesische Erstakademiker bedeutet dies vor allem, sich von institutionellen Abhängigkeiten zu lösen, Autorität nicht zu imitieren, sondern Eigenständigkeit zu kultivieren. Wir können nicht mit alten Mitteln gegen alte Strukturen ankommen. Es braucht neue Wege, neue Ethik, neue Sprache.

Doch gerade darin liegt die Gefahr: Wer einst vom Rand her denken würde, könnte sich unbemerkt im Zentrum einrichten. Die Versuchung, statt zu hinterfragen, zu wiederholen, ist groß, besonders wenn das System Belohnung verspricht. Umso wichtiger ist es, die Rolle des Erstakademikers nicht als Abschluss einer Bewegung zu begreifen, sondern als Anfang eines Denkens, das sich nicht beruhigt. Einer Bewegung, die nicht im Erfolg endet, sondern im Fragen weitergeht, im beharrlichen Nachdenken, im Zweifel – dort, wo Philosophie beginnt.