Die rasch voranschreitende Digitalisierung zählt zweifellos zu den wichtigsten und medial präsentesten Themen unserer Zeit. Alles im Leben, von Arbeitsprozessen über Matching-Verfahren bis hin zu individuellen Gefühlszuständen scheint digitalisiert und quantifiziert werden zu müssen, um optimiert werden zu können. Wir verbringen immer mehr Lebenszeit online in sozialen Netzwerken und virtuellen Welten, wobei viele sich überhaupt nur noch über Internetdienste informieren. Digitale Medien prägen daher in hohem Maß die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, miteinander kommunizieren und umgehen. Mit der Veröffentlichung von ChatGPT im Jahr 2022 nahm die Künstliche-Intelligenz-Forschung an Fahrt auf und erlangte rund um den Globus enorme Aufmerksamkeit. Seither werden in den Medien fast täglich neue Entwicklungstrends und technologische Durchbrüche vermeldet, die unser Leben zu erleichtern und verbessern versprechen.
Die Digitalisierung sämtlicher Arbeits- und Lebensbereiche ist verbunden mit einem tiefgreifenden Kulturwandel, der dringend ethische Reflexionen und mehr gesellschaftliche Gestaltung erfordert. Noch immer weit verbreitet ist jedoch ein digitaler Technikdeterminismus, der besagt, dass technische Entwicklungen einer Eigenlogik folgen und von den Menschen nicht beeinflusst werden können. Er führt einerseits zu diffusen Bedrohungsgefühlen und pessimistischen Untergangsszenarien wie z. B. denjenigen, dass superintelligente Roboter die Menschen versklaven oder ausrotten. Er steht aber andererseits auch hinter dem euphorischen Optimismus und den Technikutopien von Entwicklern, Unternehmern und technikaffinen Menschen, denen zufolge zu tun gilt, was technisch möglich ist. Auf der anderen Seite gibt es viele diffuse Bedrohungsgefühle und pessimistische Untergangsszenarien wie diejenigen, dass Roboter die Menschen versklaven oder ausrotten. Entgegen einem unhaltbaren Technikdeterminismus und einer unfruchtbaren Polarisierung in einer emotional geführten Debatte lautet die Kernbotschaft dieser Einführung in die Digitale Ethik: Wir Menschen können und sollen den digitalen Wandel gestalten und in einer öffentlichen gesellschaftlichen Debatte die zukünftige Entwicklungsrichtung gemeinsam bestimmen. Die digitale Technik muss dem Wohl der Menschen dienen.
In Kapitel 1 werden die wichtigsten Grundbegriffe wie z.B. "Digitalisierung", "Algorithmen" und "Künstliche Intelligenz" oder "Allgemeine", "Angewandte" und "Digitale Ethik" erläutert. Vorgestellt werden außerdem zentrale ethische Leitideen der Digitalisierungsdebatte, v.a. Freiheit/Würde, Glück/gutes Leben, Gerechtigkeit/Nichtdiskriminierung, Privatsphäre, Nachhaltigkeit und Transparenz. Der Hauptteil gliedert sich in die beiden großen Anwendungsfelder der Digitalen Ethik: die Digitale Medienethik (Kap. 2), bei der es um die Kommunikation zwischen Menschen geht, und die KI-Ethik (Kap. 3), bei der die Interaktionen zwischen Mensch und Maschine im Zentrum stehen.
Kapitel 2: Die Digitalisierung der Medien hat zu einem Bürger-, Laien- oder Graswurzeljournalismus geführt, weil alle Internetnutzer unredigiert ihre Beiträge ins Netz stellen können. Diese niedrigere Schwelle führt zu mehr Partizipation der Bürger, einem leichteren Zugang zu Informationen und einer größeren Pluralität der Perspektiven. Dies ist in einer Demokratie mit ihren Grundwerten wie Gleichheit, Meinungs- und Pressefreiheit grundsätzlich positiv zu bewerten.
Viele Entwicklungen in den neuen digitalen Medien drohen jedoch eine Gefahr für die demokratische Gestaltung des Zusammenlebens zu werden: Je mehr kommerzielle Plattformunternehmen die Infrastrukturen der Öffentlichkeit bereitstellen und dabei die Flut an Informationen maschinell durch Algorithmen selektieren lassen, desto mehr dominieren quantitative Kriterien wie Anzahl Klicks und Verweildauer der Nutzer auf einer Seite. Wenn die professionellen Redakteure und Journalisten entfallen, die in traditionellen Medien die Informationen prüften, auswählten und einordneten, verlieren qualitative inhaltliche Kriterien an Bedeutung. Wichtiger werden im Kampf um Aufmerksamkeit vielmehr Emotionalität, Unterhaltungswert und Reaktionsgeschwindigkeit, sodass es zu einer Flut an falschen, belanglosen, dramatisierenden oder dekontextualisierten Informationen kommt. Das Klima ständiger Alarmbereitschaft und Gereiztheit sowie die Tendenzen zur Fragmentierung der Öffentlichkeit durch Filterblasen oder Echokammern im Netz verschlechtern die Bedingungen für die notwendigen sachlichen, respektvollen und langwierigen demokratischen Aushandlungsprozesse. Wir alle sind dazu aufgerufen, das Internet zu einem demokratischeren Ort umzugestalten. Erforderlich ist aber auch eine stärkere rechtliche Regulierung und Kontrolle der Plattformen oder noch besser ein gemeinwohlorientiertes öffentlich-rechtliches Internet.
Kapitel 3: Der zweite wichtige Teilbereich Digitaler Ethik ist die KI-Ethik, die sich mit den ethischen Problemen der Entwicklung, Herstellung und Nutzung von KI-Technologien befasst. Sie versucht die Fragen zu klären, was KI-Systeme tun sollen und was nicht, welche Risiken sie bergen und wie Menschen diese kontrollieren könnten. Dieses Teilgebiet wird wiederum in zwei Kapitel gegliedert: Beim ersten Themenfeld (Kap. 3.2) geht es um ethische Konflikte, die sich infolge der Digitalisierung bzw. "Datafizierung" sämtlicher Lebensbereiche und der algorithmischen Analyse der dabei anfallenden riesigen Datenmengen ergeben (auch: Big-Data-Ethik). So werden beispielsweise durch die permanente digitale "Überwachung" der Menschen über das Smartphone oder andere digitale Geräte individuelle Grundrechte wie Privatsphäre oder informationelle Selbstbestimmung gefährdet. Wenn auf der Grundlage des bisherigen (Kauf-)Verhaltens von Internetnutzern Persönlichkeitsprofile angelegt und Verhaltensprognosen erstellt werden wie z.B. bei Kaufempfehlungen, steigt die Gefahr für Manipulationen an. Hohe öffentliche Aufmerksamkeit ziehen auch Diskriminierungen aufgrund von Big-Data-Analysen auf sich. Bei statistischen Diskriminierungen werden beispielsweise Personen ungerechtfertigterweise benachteiligt, nur weil sie in einer Gegend wohnen, wo statistisch häufig Rechnungen nicht bezahlt werden.
Der zweite große Anwendungsbereich der KI-Ethik bezieht sich auf KI-basierte Roboter und virtuelle Akteure wie z.B. Bots oder Avatare (auch: Roboterethik). Hier treten Menschen in direkte Interaktion mit solchen verkörperten oder virtuellen KI-Systemen. Wo "(ro)bots" immer intelligenter und autonomer werden, können sie Menschen in immer mehr Lebensbereichen ersetzen und vielleicht zu gleichwertigen oder sogar "besseren" Interaktionspartnern werden. Dies wirft viele philosophische Fragen auf wie etwa: Können Maschinen moralische Akteure sein und mit welcher künstlichen Moral oder welchen moralischen Fähigkeiten müssten sie ausgestattet werden? Treten Menschen möglicherweise wie bei Schach- oder Go-Spielen bald in allen Tätigkeitsfeldern ins Hintertreffen, weil die KI-Systeme viel schneller und viel größere Datenmengen verarbeiten können und niemals ermüden? Wo sind ethisch gesehen die Grenzen einer Substitution zu ziehen; etwa bei selbstverwirklichenden, kreativen und intellektuellen Tätigkeiten, oder bei pädagogisch-therapeutischen Berufen, wo tragfähige und komplexe menschliche Beziehungen aufgebaut werden müssen?
Besonders heftige Diskussionen werfen KI-Systeme auf, bei denen es um Leben und Tod von Menschen geht, wie z.B. bei Militärrobotern oder autonomen Fahrzeugen. In Anlehnung an das Trolley-Problem wird diskutiert, wie ein Auto für den Fall einer unvermeidbaren Kollision mit der Folge toter oder verletzter Verkehrsteilnehmer programmiert werden soll. Weltweite Kontroversen hat aber auch der Vorstoß von Saudi-Arabien ausgelöst, das 2017 dem Roboter "Sophia" die Staatsbürgerschaft verlieh. Ebenso sorgt immer wieder die Heirat mit Sexpuppen oder Avataren für Schlagzeilen. Je mehr humanoide Roboter den Menschen gleichen, desto leichter kommt es zur Täuschung über ihre menschlichen sozialen Fähigkeiten wie Empathie und Verständnis (Anthropomorphismus). Es braucht eine gesellschaftliche Debatte über die Zielsetzungen des noch jungen Forschungsfeldes der "sozialen Robotik" und geeignete Regulierungsmassnahmen: Sollen soziale Roboter untergeordnete Assistenten bzw. Gehilfen der Menschen bleiben oder als gleichberechtigte Partner bzw. künstliche Gefährten über die gleichen intellektuellen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten verfügen?
In der vorliegenden "Digitalen Ethik" werden schwerwiegende prudentielle und moralische Gründe dagegen aufgeführt, menschenähnliche Wesen mit einem Innenleben, Bewusstsein und eigenem Willen herzustellen. Diese wären nicht länger Werkzeuge im Dienst der Menschen, sondern könnten eigene Ziele verfolgen und hätten moralische Anspruchsrechte. Die Menschen könnten die Kontrolle über sie verlieren und ihr Ziel wäre nicht unbedingt das menschliche Wohl. Das Buch versucht, den LeserInnen ein grundlegendes Verständnis von problematischen technologischen Anwendungen sowie das ethische Rüstzeug für eine eigene wertende Stellungnahme zu vermitteln. Durch die systematische Darstellung und das kritische Abwägen der wichtigsten Positionen und Argumente soll ihre ethische Urteilskraft geschärft werden, damit sie sich an demokratischen Debatten über die zukünftige digitale Entwicklung beteiligen können. Die vielen Anwendungsbeispiele und Übersichten bieten einen niedrigschwelligen Zugang zu diesem hochkomplexen und -aktuellen Themenfeld.
Prof. Dr. Dagmar Fenner