Wettbewerb philosophische Fragen

Inwiefern sind wir frei?

Die Frage, inwiefern wir in unseren Handlungen frei sind, gehört zu den hartnäckigsten philosophischen Problemen überhaupt. 

Es ist eine Frage, deren Bedeutung sich uns unmittelbar erschliesst und eine Frage, die uns nicht gleichgültig ist. Es ist keine abgehobene Frage. 

Sie betrifft uns.

 

Wir leben in einem Zeitalter, das sich als rational präsentiert. Wissenschaft und Technik schreiten unentwegt fort. Wir sind eingesponnen in Gesetze: Gesetze der Gesellschaft, Gesetze der Natur.

Der Glaube an die Naturgesetze ist zu einer tiefen Überzeugung geworden. Nichts geschieht ohne einen Grund. Jede Wirkung hat ihre Ursache. In der Natur herrscht eine durchgängige Kausalität.

 

Diese deterministische Weltanschauung scheint mit der Idee einer Freiheit des Handelns unvereinbar zu sein. Welche Wege sind nun möglich, um dieses Dilemma aufzulösen? 

Ich sehe sieben grundsätzliche Möglichkeiten:

1.      Es gibt keine Gesetzmässigkeit in der Aussenwelt. Was wir für deren Gesetze halten, sind bloss Schöpfungen unseres Verstandes.

2.      Alles unterliegt der göttlichen Macht. Gott gab uns unseren freien Willen und der Natur ihre Gesetze (die er durch Wunder ausser Kraft setzen kann).

3.      Die Natur und der Geist sind zwei wesensverschiedene Regionen des Seienden: in dieser herrscht die Notwendigkeit und in jener die Freiheit.

4.      Unsere Vorstellung von Freiheit ist nur eine Illusion. Alles ist durch die bestehenden Gesetze festgelegt.

5.      Es gibt sowohl in der Natur also auch im Geist sowohl Determiniertheit als auch Undeterminiertheit. Das Verhältnis dieser beiden Seiten     zueinander wäre genauer zu bestimmen.

6.      Die Frage selbst ist unzulässig, weil sie keinen Sinn hat. 

7.      Wie auch immer es sich verhält, wir können es nicht wissen.   

 

Ich erhebe keinen Anspruch darauf, dass dieser Katalog vollständig ist und ich werde auch nicht alle diese Optionen diskutieren.

Die erste Antwortmöglichkeit werde ich (ungeachtet der nach wie vor grossen Autorität Kants und der interessanten philosophischen Klippe des Solipsismus) nicht berücksichtigen, weil wir uns offensichtlich in unserer Lebenswelt auf die Gesetzmässigkeit der Natur verlassen

Die zweite Option lasse ich beiseite, weil ich mich auf Argumentationen beschränken möchte, welche die Hypothese einer Existenz Gottes nicht in Anspruch nehmen.

Die sechste Antwort halte ich für nicht überzeugend und gehe deshalb nicht auf sie ein.

Die letzte Möglichkeit schliesslich ist gar nicht dafür geeignet, diskutiert zu werden. In ihr wird die Hoffnung aufgegeben, die Frage beantworten zu können.  

Die Natur und der Geist sind zwei wesensverschiedene Regionen des Seienden: in dieser herrscht die Notwendigkeit und in jener die Freiheit.

 

Die Einführung einer Dualität in die Welt, ihre Spaltung in Materie und Bewusstsein (in eine res extensa und eine res cogitans) hat sich zumindest in der nachmittelalterlichen westlichen Welt als sehr wirkungsmächtig erwiesen.

Diese Auffassung erscheint uns plausibel. 

Die Natur ist durch Gesetze determiniert. Wie sonst wäre Wissenschaft überhaupt möglich? Wie sonst hätte es zu Strukturbildungen, zu regelmässig ablaufenden Prozessen kommen können?

Wir selbst sind frei. Wie sonst wären Handlungen, wäre Verantwortung möglich? Wie sonst könnte es Entscheidungen geben, ein Ich?

 

Das, wie ich glaube unlösbare, Problem entsteht dann, wenn versucht wird, beides zusammen zu denken. Geist und Materie bestehen ja nicht in verschiedenen Welten, sondern müssen sich irgendwie aufeinander beziehen.

Man kann hier versuchen, abstrakt zu bleiben, was dann zu philosophischen Systemen führt. Solche metaphysischen Lösungen verlieren aber unweigerlich ihre Überzeugungskraft, wenn man sie mit der Logik und der Wissenschaft konfrontiert.  

 

Ich möchte das exemplarisch am Beispiel Sartres zeigen. Sartre, der auch als Philosoph der Freiheit bezeichnet worden ist, hat in ‚Das Sein und das Nichts‘ eine späte Version des Cartesianismus präsentiert.

Demnach gibt es zwei ontologische Grundformen: das An-Sich und das Für-Sich. 

Das An-Sich (die Materie) ist durch Positivität charakterisiert. Es ist das volle runde Sein, das nur ist, was es ist, gewissermassen das Vorhandene schlechthin.

Demgegenüber ist das Für-Sich (das Bewusstsein) Negativität. Es ist, was es nicht ist und ist nicht, was es ist. Es erhält sich nur dadurch, dass es sich immerfort auf anderes bezieht, indem es wahrnimmt, denkt, fühlt, begehrt … 

 

Diese Dualität wird dann problematisch, wenn man sie auf ihren Ursprung hin befragt. 

Sartre behilft sich hier mit dem Auftauchen der ‚Frage‘ (das Nichts kommt durch die Frage in die Welt), aber das überzeugt mich nicht. 

Wenn wir dem folgen, was die Wissenschaft über die Entwicklung des Universums in Erfahrung gebracht hat, dann ist das Bewusstsein (das Für-Sich) entstanden

Wie ist das das aber möglich? Wie kann das bloss positive An-Sich die Negativität des Für-Sich hervorbringen? Es ist unmöglich, weil in dieser absoluten Positivität kein Platz für das Nichts ist.

Diese Unmöglichkeit findet sich in jeder Form des naturgesetzlichen Determinismus. Aus dem Determinierten kann nur anderes Determiniertes folgen, es ist logisch unmöglich, dass da irgendwo Freiheit entsteht.

Man kann es auch so formulieren: Im dualistischen Paradigma gibt es keinen Platz für das Tier.

Unsere Vorstellung von Freiheit ist nur eine Illusion. Alles ist durch die bestehenden Gesetze festgelegt.

 

Das hier zum Ausdruck gebrachte Weltbild eines absoluten Determinismus hat zumindest den Vorteil, konsequent zu sein. Es verzichtet auf eine Spaltung des Seins in eine materielle und eine geistige Substanz, an seine Stelle tritt ein physikalischer Reduktionismus: Die Sozialwissenschaften lassen sich auf Psychologie zurückführen, Psychologie auf Molekularbiologie, Molekularbiologie auf Chemie und Chemie auf Physik. 

Letztlich ist also alles Physik und durch die Gesetze der Physik beschreibbar. Alle anderen Wissenschaften sind bloss vorläufig, eine vollständige und exakte Beschreibung der Welt wäre eine physikalische.

 

Eine solche Auffassung lässt der Freiheit keinen Platz. Es gibt für sie jeweils einen bestimmten Zustand der Welt, der aufgrund der bestehenden Naturgesetze in einen ihm folgenden Zustand überführt wird. 

Bei gegebenen Anfangsbedingungen steht also bis in alle Ewigkeit fest, wie sich das Universum entwickeln wird. 

Wir mögen zwar glauben, dass wir frei sind, in dem, was wir tun, aber das ist eine Illusion: Unser Körper besteht aus denselben Atomen wie der Rest des Universums und ist denselben ehernen Gesetzen unterworfen.  

 

Der hier zum Ausdruck gebrachte Glaube an eine totale Naturgesetzlichkeit ist das Fundament einer modernen säkularen Religion. Man schaut aus der Höhe einer noch fernen, vollendeten Wissenschaft auf die Bewegung der Welt, auf das Walten der sie bestimmenden Gesetze.  

 

Allerdings ist eine solche alles erklärende Theorie unmöglich

Schon das Dreikörperproblem (also der Bahnverlauf dreier Körper unter dem Einfluss der Gravitation) hat sich als unlösbar im analytischen Sinne erwiesen. 

Und bereits eine so einfache Theorie wie die Arithmetik der natürlichen Zahlen erlaubt die Formulierung von Sätzen, die in ihr weder bewiesen noch widerlegt werden können. Zwischen der Komplexität aller möglichen Theorien und der Komplexität der Welt klafft ein unüberbrückbarer Abgrund (im Gödelschen Unvollständigkeitssatz ist dieser auf die unterschiedliche Mächtigkeit abzählbarer und überabzählbarer unendlicher Mengen zurückzuführen).

 

Wir können uns nun auf die Position zurückziehen, dass zwar eine vollständige physikalische Theorie prinzipiell unmöglich ist, der Determinismus an sich damit aber nicht widerlegt sei. Wenn allerdings in letzter Konsequenz die Gesetzlichkeit der Natur nicht auf in einer Theorie formulierbare Gesetze referenziert, wo findet sie dann ihren Ausdruck? 

Es besteht dann nur noch die Möglichkeit, eine transzendentale Perspektive einzunehmen und mit dem Auge Gottes in die Welt zu schauen, denn nur Gott kann die Bewegungsgesetze der Materie erschauen, ohne dafür eine Theorie in Anspruch nehmen zu müssen.

Im Paradigma des vollständigen Determinismus werden die Naturgesetze zu einer religiösen Wirklichkeit, zu etwas, das zwar alles durchherrscht, von dem aber nur ein unendlich kleiner Teil tatsächlich erkannt werden kann.

 

Wir wechseln nun von der epistemologischen zur logischen Perspektive. 

Hier stellt sich unmittelbar zur Frage, wie die Beziehung des durch die Gesetze determi­nierten Seienden zu diesen Gesetzen selbst zu verstehen ist. 

Der gewöhnlichen Auffassung nach handelt es sich dabei um ein einseitiges Verhältnis. Die Gesetze wirken auf die Materie, doch diese wirkt nicht auf die Gesetze zurück. 

Die Gesetze  bleiben sie selbst, unberührt von dem, was sie steuern. 

 

Aber was ist die seiende Materie dann noch an sich selbst? 

In einem totalen Determinismus ist sie nur noch der Ausdruck dieser Gesetze, ihr Kreuzungspunkt, ihre zeitliche Entfaltung. 

Sie ist das, was den Gesetzen Wirklichkeit verleiht, Sichtbarkeit. Mehr nicht.

Das materiell Seiende läuft deshalb Gefahr, mit den Gesetzen zusammenzufallen, die es steuern. Es hat über diese hinaus nichts Eigenes - ausser ein völlig unbestimmtes und leeres Sein. 

Die Materie ist den wirkenden Gesetzen unterworfen, unabhängig und ausserhalb von diesen ist sie nichts. Ausser, dass sie ist.      

 

Die Seinsweise der Gesetze scheint desto rätselhafter zu werden, je mehr man über sie nachdenkt. 

Was ist ihr Ort?

Stecken sie in der Materie selbst? Wie grenzen sie sich dann von den stofflichen Formen ab, die sie steuern? Wie und an welcher Stelle entsteht die Grenze zwischen dem Teil der Realität, der Gesetz und jenem, der diesem unterworfen ist?

Oder lassen sich die Gesetze zwischen den materiellen Teilen finden, als deren Verbindungsglied, als das umfassende Band, das die Bestandteile der Welt umfasst und zusammenhält?  

Oder sind die Gesetze von der ihr unterworfenen Materie unabhängig? In diesem Fall würde es sie auch ohne eine Welt noch geben. Sie wären dann Gesetze im Wartestand, wartend auf einen Stoff.

 

Man kann versuchen, diesen kaum auflösbaren problematischen Fragen auszuweichen, indem man auf die Annahme von unveränderlichen, sozusagen transzendentalen Naturgesetzen verzichtet.

Auf diese Weise entfernt man sich von einem starren und radikalen Determinismus, und man findet sich neuen Problemen gegenüber. 

Das wichtigste: Wenn die Gesetze genauso Veränderungen unterworfen sind wie die Materie, wie lässt sich dann das Verhältnis zwischen beiden Seiten verstehen? Die Materie wirkt auf ihre Gesetze zurück und modifiziert sie? Werden nun Gesetze zweiter Ordnung nötig, die regeln, wie sich die Naturgesetze verändern (unendlicher Regress)?      

 

Wir gehen zum Urknall zurück. Zu diesem Zeitpunkt gab es nichts, zumindest kein Universum. 

Bestanden da schon die Naturgesetze? 

Falls ja, dann gab es schon eine Welt vor der Welt – die transzendentale Welt des Gesetzes, die ohne eine Materie zu bestehen vermag.

Falls nein, dann entstanden die materiellen Formen und die steuernden Gesetze zugleich. Wie etablierte sich in diesem Fall die Trennung dieser beiden Seiten, wie handelten sie ihre jeweilige Zuständigkeit, ihre Stellung innerhalb ihrer Beziehung aus?

 

Das wohl überzeugendste Argument gegen den radikalen Determinismus kommt von der Naturwissenschaft selbst, aus der Tiefe der für den physikalischen Reduktionismus massgeblichen Physik.

Es gelang ihr, die Welt mit einem Gesetz zu überraschen, das die Reichweite der Gesetzmässigkeit selbst beschränkt – ein wahres Meisterwerk der Dialektik.    

 

Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt, dass das Produkt der Ungenauigkeitsintervalle bestimmter komplementärer Messgrössen einen feststehenden Wert nicht unterschreiten kann.

Die bekannteste Form dieser Relation dürfte die Ort-Impuls-Unschärfe sein. Je genauer der Ort eines Teilchens festgelegt ist, desto weniger ist seine Energie determiniert – und umgekehrt.

Dies bedeutet, dass schon Elementarteilchen (die Grundbausteine der materiellen Welt) sich gegenüber dem ihnen Begegnenden als etwas nicht Deterministisches verhalten, dass sie eine zwar beschränkte, doch unreduzierbare Zufälligkeit in ihrem Wirken besitzen – eine Freiheit.

 

Einen schwereren Schlag konnte man dem Paradigma des radikalen Determinismus nicht versetzen.

Es gibt sowohl in der Natur also auch im Geist sowohl Determiniertheit als auch Undeterminiertheit. Das Verhältnis dieser beiden Seiten zueinander wäre genauer zu bestimmen.

 

Bei der Interpretation der Quantentheorie ist viel Verwirrung entstanden, weil man in der Unschärferelation vor allem ein epistemologisches Problem sehen wollte.

Die Unbestimmtheit, so wurde gesagt, betrifft nur unser Wissen und nicht die ablaufenden Prozesse als solche.

 

Diese Einhegung der Unschärferelation ist aus historischen Gründen nachvollziehbar und nicht a priori von der Hand zu weisen. 

Aber sie verkompliziert den Sachverhalt aus meiner Sicht unnötigerweise. An einer Messung sind mehrere Komponenten beteiligt: die messende Instanz, das vermessene Objekt, der gemessene Parameter und die Sonde, die die Information zwischen der messenden und der gemessenen Seite transportiert. Diese verschiedenartigen Bestandteile sollen nun zu einer begrifflichen Einheit gebracht werden, um eine Interpretation der Vorgänge auf der elementaren Ebene zu gewinnen.

Es führt zu einer ungleich klareren und plausibleren Konzeption, wenn man vor vornherein die quantenphysikalischen Gesetze auf den Horizont der unmittelbar beteiligten Elementarteilchen beschränkt (was die dominierende Kopenhagener Interpretation der Quantentheorie auch tut).

 

Ein Vertreter des radikalen Determinismus muss sich an dieser Stelle noch nicht geschlagen geben. ‚Gott würfelt nicht‘ mag er sagen ‚Die Gesetze der Natur können sich nicht mit schnödem Zufall mischen‘. 

Dass unser Wissen grundsätzliche Grenzen hat, damit kann er sich abfinden, nicht aber mit einer indeterminierten Welt, in der grundlos etwas geschieht.

 

Wir sind hier also mit einer eminent philosophischen Frage konfrontiert, die - wie alle Fragen der Metaphysik - in einem strengen Sinn unlösbar zu sein verspricht und nur zu endlosen, vielleicht anregenden, voraussichtlich aber auch fruchtlosen Diskussionen führt.

Falsch!

Wir haben es hier mit dem bislang einmaligen Fall zu tun, dass eine grundsätzliche Frage der Philosophie auf experimentellem Wege entschieden werden konnte (unser Staunen und unsere Bewunderung sollten hier grenzenlos sein).

 

Ich wiederhole die Frage, um die es geht: Verhält sich ein materielles Teilchen deterministisch und bloss unser Wissen ist grundsätzlich beschränkt oder ist diese Zufälligkeit ein Bestandteil des Verhaltens der Teilchen selbst?

Im ersten Fall gäbe es unbeobachtbare Parameter, die zwar nach aussen nicht in Erscheinung treten (also nicht Bestandteil einer Messung werden können), aber diskreterweise für ein deterministisches Verhalten auf der physikalischen Ebene sorgten.

Nun können solche verborgenen Parameter zwar nicht direkt nachgewiesen werden, aber es lässt sich – einwandfrei in mathematisch-physikalischer Strenge – zeigen, dass ein Stück Materie, welches solche Parameter besitzt, bei bestimmten Experimenten ein anderes Verhalten zeigen würde, als eines ohne solche Eigenschaften.

Diese Differenz konnte durch die Bellsche Ungleichung formalisiert werden, die – falls sie sich als richtig herausstellen sollte – beweisen würde, dass es auf elementarer Ebene Kausalität geben könnte.

 

Allerdings wurde dann experimentell mit die Verletzung der Bellschen Ungleichung nachgewiesen.

Damit ist auf bewiesen worden, dass in der physikalischen Welt eine zwar nicht grenzenlose, doch unreduzierbare Undeterminiertheit vorherrscht.

Das Gesetz selbst weist der Gesetzlosigkeit ihren Platz zu, die Kausalität beschränkt sich selbst und gibt auch der zugestandenen Gesetzlosigkeit das ihr eigene Gesetz – die Wahrscheinlichkeit (Wahrscheinlichkeit ist die Gesetzmässigkeit der Zufälligkeit).

 

Werfen wir nun einen Blick auf dieses Paradigma der Quantenphysik.

Ein einzelnes Elementarteilchen ist für sich genommen in einem strengen Sinne gar nicht vorhanden. Sein Zustand wird durch die Schrödingergleichung beschrieben, die festlegt, wie es im Raum verteilt ist und wie sich diese Verteilung im Zeitverlauf ändert.

Das Teilchen ist dabei aber nirgendwo, es wirkt nicht, es tritt nicht in Erscheinung. Die Amplituden der Schrödingergleichung geben lediglich Auskunft über die Wahrscheinlichkeit, es irgendwo anzutreffen, wenn es diesen Quantenzustand verlässt.

 

In diesem Modus der Kohärenz ist das Teilchen ein Kontinuum, es ist ein Sein, ohne ein Seiendes zu sein. Es hat keine Form, keine Grenzen, es hat nichts ausser sich, auf das es sich bezieht und von dem es sich abzugrenzen vermöchte.  

Die Kohärenz des Quanten ist die Kehrseite einer jeden Kausalität. Alles geschieht zugleich – oder nichts geschieht. Denn wie kann etwas geschehen, wenn überhaupt nicht plausibel gemacht werden kann, wer die Beteiligten dieses Geschehens sind und wie die erfolgte Zustandsänderung zu beschreiben wäre?

Die Grundfigur des determinierten Modus der Natur ist A + B -> A‘ + B‘ (zwei Objekte wechselwirken miteinander und ändern dabei ihren Zustand), eine Figur, die keinen Sinn mehr hat, wenn keine voneinander abgegrenzten Objekte bestehen.

 

Der Quantenzustand ist ein Modus des strikten An-Sich. Der Quant ist nicht in Beziehung auf etwas anderes, er hat kein ihm Äusseres, er ist nicht in einer Welt, er ist gewissermassen gar nicht.   

Er ist reine Potentialität, Möglichkeit, sich als etwas zu zeigen und wie sich diese Möglichkeit schliesslich realisieren wird, ist durch die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Schrödinger­glei­chung geregelt.

Interessanterweise ist die quantenphysikalische Kohärenz steigerbar. Der Quantenzustand ist nicht notwendigerweise auf ein einzelnes Teilchen beschränkt, er kann auch mehrere umfassen. In diesem Fall werden die Grenzen zwischen den zuvor diskreten Teilchen aufgehoben (nicht ausgelöscht), es kommt zu einer Superposition der Zustandsgleichungen, zu einer Verschränkung

 

Die Kausalität wird mit der Form geboren. Form ist Grenze, Grenze bedeutet Abgrenzung und Abgrenzung bedeutet Beziehung. 

In der Sprache der Quantenphysik nennt sich das Zusammenbruch der Wellenfunktion. Die Schrödingergleichung kollabiert, zwei Teilchen (es sind immer mindestens zwei!) treten in Erscheinung und zeigen sich (in den Grenzen der Unschärferelation) als befindlich an bestimmten Orten, als Teilchen mit gegebenen Eigenschaften (Energie, Impuls, Spin).

Nun ist das Seiende ans Licht getreten, nun gibt es etwas und dieses Etwas gibt es nur, weil jedes Seiende sich in Beziehung zu dem setzt, was es selbst nicht ist. 

Die Differenz geht also der Identität voraus.

 

Nach dieser Begegnung, in der die sich begegnenden Teilchen bestimmt haben, was sie sind und was ihr Bezug zueinander ist, in der sie aufeinander gewirkt und sich verändert haben – nach dieser erfolgten Erscheinung werden sie wieder zu Quanten. 

Sie werden wieder zu reinem An-Sich, zu einer beziehungslosen Kohärenz, zu einer zwar nicht willkürlichen, doch reinen Potentialität.      

 

Unsere Welt ist also in dieser Formlosigkeit der quantenphysikalischen Kohärenz fundiert

In ihr finden wir der grundlegenden Seinsmodus, der ein Sein ohne Seiendes beschreibt, ein grenzenloses und doch reales Sein. Aus dieser Ungeformtheit heraus bilden sich die Formen (also die Dinge der Welt), und in sie sinken sie wieder zurück.

 

Wir haben es hier mit zwei untrennbar zusammengehörigen Aspekten zu tun, nicht mit einer Dualität im klassischen Sinne. 

Beide Seiten sind ineinander verwoben, sie sind zwar verschieden, lassen sich aber nicht trennen: Sobald etwas nur es selbst zu sein beginnt, hört es auf zu sein, es versinkt in Potentialität. Erst wenn es in Beziehung tritt zu dem, was es nicht ist, bestimmt es sich als etwas. Die reine Identität mit sich selbst ist zwar nicht nichts, doch sie ist auch nichts Seiendes, sondern blosse Möglichkeit – Schrödingergleichung.

 

Die uns vertraute Welt - die Welt der Kausalität - entsteht durch eine Marginalisierung des Quantenzustandes. Die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Teilchen müssen so dicht aufeinander folgen, dass unter diesem Trommelfeuer den Teilchen die Zeit fehlt, in das quantenphysikalische Kontinuum zurückzukehren.

Stattdessen folgt nun Form unmittelbar auf Form, ein Zustand wird in einen anderen überführt. Die Welt wird nun klassisch, vorhersehbar, von Gesetzen beherrscht. 

Die Realität der Quanten wird nun zu etwas Seltsamen.

Stuart Kauffman entwickelte in Reinventing the Sacred die Hypothese, dass das Bewusstsein ein Quantenphänomen sei. Diese – wie er freimütig zugibt – hochspekulative Theorie ist nicht ohne naturwissenschaftliche Grundlage. Es gibt biomolekulare Komplexe (insbesondere in den Mitochondrien und in den Chloroplasten), die in der Lage sind, den kohärenten (quantenphysikalischen) Zustand von Elektronen zu stabilisieren und so die Effektivität der biochemischen Prozesse (Energiegewinnung) zu erhöhen.

Weil die quantenphysikalischen Zustandsüberlagerungen in vielerlei Hinsicht den sequenziellen, deterministischen Abläufen überlegen sind, gibt es in ihre Richtung einen selektiven Druck, was zur Folge hat, dass in der Domäne des Biologischen die kohärenten, nichtdeterministischen Zustandsformen nicht nur eine Renaissance, sondern eine Steigerung erfahren.

 

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass derartige Phänomene die Grenzen einzelner Moleküle überschreiten. Eine Zelle ist vollgepackt mit Proteinen, über deren Berührungs­zonen könnten sich quantenphysikalische Zustände ausbreiten.  

Das Gehirn wäre dann der Ort, an dem sich solche Selektionsprozesse konzentriert haben. 

 

Diese Theorie kann und braucht an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden. Ich habe sie erwähnt, weil sie die zentrale These dieses Textes veranschaulicht.

Sind wir in unserem Handeln, in unserem Denken frei?

Wir sind es, aber wir sind auch durch die Umstände bestimmt (wie schon ein Elektron). 

 

Bereits ein Elementarteilchen ist in gewissem Sinne frei. Das Verhältnis zwischen Determi­niert­heit und Undeterminiertheit ist grundlegend und allgegenwärtig. Es besteht von Anfang an und auf allen Ebenen der Wirklichkeit.

Durch die Genese des menschlichen Bewusstseins ist nichts grundsätzlich Neues in die Welt gekommen. Die sich durch es manifestierende Freiheit ist nur eine Steigerungsform von etwas, das bereits vorhanden gewesen ist.

Das bereits vorher da war. Schon immer.