„Die Möglichkeiten, die wir sterben“

Was der Tod über unser Leben verrät

    Manchmal spüren wir es ganz leise und manchmal ganz laut: dass Entscheidungen Spuren hinterlassen. Dass ein gewählter Weg auch ein Abschied von anderen Wegen ist. Dass etwas, das hätte sein können, nun nicht mehr sein wird. Mit jedem dieser kleinen Abschiede verändert sich unser Leben – unausgesprochen, aber unwiderruflich.

    Vielleicht ist Endlichkeit nicht nur eine Frage des Sterbens. Vielleicht zeigt sie sich schon mitten im Leben – in der Art, wie wir wählen, wie wir loslassen, wie wir unser eigenes Werden gestalten.

    Jean-Paul Sartre hat diese Erfahrung in eine präzise Form gebracht: „Dadurch werde ich für meinen Tod so verantwortlich wie für mein Leben. Nicht für das empirische und kontingente Phänomen meines Ablebens, sondern für jenen Endlichkeitscharakter, welcher bewirkt, daß mein Leben, wie auch mein Tod, mein Leben ist.“ (S. 82)

    Endlichkeit gehört nicht erst dem letzten Moment. Sie begleitet unser Leben von Beginn an – in jeder Entscheidung, in jedem Verzicht, in jeder Möglichkeit, die sich schließt, sobald wir einen anderen Weg wählen.


    Dabei ist der Tod selbst, so Sartre, keine Möglichkeit, die wir gestalten könnten: „[…] er enthält nämlich immer die Möglichkeit, daß wir überraschend vor dem erwarteten Datum sterben und daß infolgedessen unsere Erwartung als Erwartung eine Narrheit ist, oder aber, daß wir diesen Zeitraum überleben und, da wir nichts als diese Erwartung waren, uns selbst überleben.“ (S. 86)

    Der Tod steht außerhalb unseres Planens, außerhalb unserer Freiheit. Er ist, wie Sartre sagt, „[…] eine jederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten, die außerhalb meiner Möglichkeiten liegt.“ (S. 86)


    Damit wird klar: Das immerwährende Auftreten des Zufalls im Inneren unserer Entwürfe – hier gemeint ist allein der Tod – kann nicht als Teil unserer Möglichkeiten begriffen werden. Der Tod eröffnet keine neuen Wege, er zerstört die Möglichkeit zu entwerfen selbst. Er ist die vollständige Aufhebung all dessen, was wir planen, hoffen, gestalten könnten – eine radikale Nichtung, die wir nicht steuern, nicht erwarten und nicht einholen können.

    Nicht ich vollziehe den Tod – der Tod vollzieht sich an mir. Er unterbricht nicht nur ein Projekt – er beendet die Fähigkeit, überhaupt noch Projekte zu entwerfen.


    Und doch liegt gerade darin eine tiefere Wahrheit über unser Leben: Dass Freiheit – verstanden im Sinne Sartres als das Entwerfen und Entscheiden – nicht darin besteht, unendlich viele Optionen offenzuhalten, sondern darin, Wege zu wählen und andere für immer hinter sich zu lassen – und zugleich, dass überhaupt wirkliche Möglichkeiten offenstehen, zwischen denen wir entscheiden können.

    Gerade diese innere Verbindung zwischen Wahl, Möglichkeit und Unumkehrbarkeit fasst Sartre in einem präzisen Gedanken zusammen: „Mit anderen Worten, die menschliche Realität würde endlich bleiben, auch wenn sie unsterblich wäre, denn sie macht sich endlich, indem sie sich als menschliche erwählt.“ (S. 95)


    Unsere Entscheidungen tragen Spuren der Endgültigkeit in sich. Jede Wahl ist unwiederbringlich, nicht weil wir irgendwann sterben, sondern weil Zeit selbst unumkehrbar ist. Denn selbst wenn sich nach einer versäumten Möglichkeit eine neue, ähnliche Gelegenheit bietet, ist sie nicht mehr dieselbe. Die erste Entscheidung hat etwas unwiderruflich verändert.

    Unsere Freiheit zeigt sich also nicht darin, dass wir immer neu beginnen könnten, sondern darin, dass jede Entscheidung Teil unserer einmaligen Lebensspur wird.

    In diesem Zusammenhang beschreibt Sartre: „Das ist eben die Struktur der Selbstheit: selbst sein heißt, zu sich kommen. Jene Erwartungen erhalten offensichtlich alle eine Beziehung auf einen letzten Grenzzustand, der erwartet wird, ohne daß er selbst irgendetwas erwartet. Eine Ruhe, die Sein, nicht aber Erwartung sein wird, zu sein.“ (S. 87)

    Unsere Freiheit besteht also auch nicht nur in Entscheidungen, sondern auch darin, auf uns selbst zu warten: auf die Verwirklichung unserer Ziele, auf das Gelingen und Versagen unserer Unternehmungen – und vor allem auf uns selbst. Selbst wenn wir Anerkennung finden, Erfolg erreichen, geliebt werden, bleibt immer noch die Aufgabe, diesen Ereignissen Platz, Sinn und Gewicht in unserem eigenen Leben zu geben.

    Solange wir leben, sind wir in Bewegung: ein ständiges Entwerfen, ein offenes Werden. Wir richten uns auf Ziele, auf Erfüllungen, auf ein Sein hin, das wir noch nicht erreicht haben. Aber mit jeder Entscheidung, jedem Schritt formen wir uns selbst – und tragen die Spuren dieses Weges mit uns.


    Und was geschieht, wenn dieser Entwurf abbricht?

    Im Leben können wir unser Bild verändern, uns neu entwerfen, unseren Sinn immer wieder neu bestimmen. Selbst wenn andere uns missverstehen, falsch erinnern oder anders deuten als wir uns selbst, haben wir die Möglichkeit, darauf zu antworten: durch neue Entwürfe, neue Taten, neue Geschichten.

    Doch im Tod verlieren wir diese Freiheit. Dann fällt unser Leben endgültig in die Hände anderer: ihrer Erinnerungen, ihrer Deutungen, ihrer Erzählungen – und auch ihres Vergessens.

    Was wir waren, wird dann von außen bestimmt, nicht mehr von innen gestaltet: „Das bedeutet also, daß derjenige, der den Sinn seines zukünftigen Todes zu erfassen versucht, sich als künftige Beute der Anderen entdecken muss.“ (S. 93)


    Sartres Sicht auf den Tod unterscheidet sich von vielen anderen philosophischen Vorstellungen, die den Tod als sinnvollen Abschluss des Lebens verstanden haben.

    Für Sartre und auch für mich bringt der Tod keinen Sinn von außen. Er unterbricht unser Leben, aber er vollendet es nicht. Er macht es auch nicht „runder“ oder „vollständiger“: „So ist der Tod niemals das, was dem Leben seinen Sinn verleiht: er ist im Gegenteil das, was ihm grundsätzlich jede Bedeutung nimmt. Wenn wir sterben müssen, hat unser Leben keinen Sinn, weil seine Probleme ungelöst bleiben und weil sogar die Bedeutung der Probleme unbestimmt bleibt.“ (S. 89)

    Gerade deshalb liegt die Verantwortung für Sinn und Richtung nicht am Ende, sondern in jedem einzelnen Moment unseres Lebens. Wenn der Tod keinen Sinn stiftet, dann bleibt es an uns, unser Leben mit Sinn zu füllen – durch das, was wir wählen, was wir nicht wählen, was wir entwerfen, was wir leben.

    Nicht irgendwann, sondern jetzt. Nicht irgendwann am Horizont eines letzten Tages, sondern mitten in jeder Entscheidung, die wir treffen.


    In dieser Radikalität liegt auch eine große Freiheit – und eine stille Dringlichkeit: Dass wir nicht auf ein späteres Urteil warten müssen. Dass wir in unserer Freiheit leben dürfen und müssen, bevor sie eines Tages – unwiderruflich – endet.

    Gerade deshalb ist es so wichtig, sich nicht völlig treiben zu lassen, ohne zu spüren, wohin. Sondern bewusst hinzusehen, zu fühlen, zu wählen, zu gestalten – im Wissen darum, dass jede Entscheidung Teil dessen wird, was wir sind und werden.

    Der Tod zeigt uns nicht nur, dass unser Leben endet. Er zeigt uns, dass jede Entscheidung bereits ein Akt der Endlichkeit ist. Und dass es gerade diese Endlichkeit ist, die unserem Leben Richtung, Tiefe und Einmaligkeit verleiht.

    Was der Tod uns über das Leben verrät, ist nicht nur seine Grenze. Es ist die stille Aufforderung: zu entscheiden, zu entwerfen, zu gestalten – solange wir es können. Denn irgendwann werden andere erzählen, wer wir waren. Aber solange wir leben, liegt diese Geschichte in unseren eigenen Händen.


    References

    Jean-Paul Sartre: Mein Tod. In: Hans Ebeling (Hrsg.): Der Tod in der Moderne. Sonderausgabe, 3., durchges. Auflage. Frankfurt am Main: Hain Verlag 1992, 81–97.