Virutal Reality Contest Essay 

 

Virtual Reality oder die Grenzen der Wirklichkeiten von Körper, Gedanken, Vorstellung und Liebe

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    Juni 2023

    Die erste Grenze ist der Körper

    Jeder Mensch beginnt und endet bei seiner Haut. Alles darin Eingehüllte ist sein biologischer Körper, alles andere ist es nicht. Das ist die erste körperlich- materielle Realität, sie kann nicht virtuell sein.

    Im belebten Körper ist alles analog. Der Herzschlag, die Atmung, das Fühlen der Haut und das Sehen der Augen. Die körperlichen Bedürfnisse, wie Hunger und Durst. Die Gefühle und Empfindungen, wie Freude, Wohlgefühl, Angst und Schmerz. Analog ist weiter die Befriedigung der Bedürfnisse, wie zum Beispiel das Füllen der Lungen mit Atemluft. Vom Feinsten und Kleinsten bis hin zum gesamten Körper. Alles im belebten Leib des Menschen ist fliessend. Analog eben. Daher kann ein lebender Körper nicht digital und damit auch nicht virtuell sein.

    Die zweite Grenze ist das Denken

    Im Denken wird das Analoge zum Digitalen. Die Umwelt des Menschen ist immer fliessend, analog. Der Mensch erfasst sie, indem er mit seinen Gedanken oder Worten Grenzen setzt. Er denkt in Gegenständen oder in Worten. Jeder Körper, jedes Ding, jedes Wort muss so irgendwo anfangen und irgendwo enden. Er denkt sich in seiner Umwelt Grenzen, die er mit den Händen oder Augen erkennen, er- und umfassen kann. Jede Grenze mit ihrem Inhalt bildet dann ein Ding oder ein Wort. Bis seine Umwelt mit fast unendlich vielen Grenzen und deren Inhalten versehen ist. Diese gedachten Körper, Gegenstände und Worte sind seine digitalen Bausteine. Er formt sie zu genormten Begriffen, zu digitalen Schablonen, die er über die analoge Wirklichkeit legen kann. Mit ihnen baut er sich im Kopf ein digitales Modell seiner Umwelt auf, das er täglich wiedererkennen kann. Das ist überlebenswichtig, weil er muss sich in seiner Umgebung zurechtfinden, sich in ihr ernähren und schützen.

    Der Mensch denkt in Gegenständen und spricht in Worten, die abgegrenzt sein müssen. So entsteht jene Welt, die er sich denkt, als eine abgekapselte, abgegrenzte Welt. Ein Modell der Welt, eine eigene Puppenstube im Kopf, in der er die Figürchen, Möbelchen, Tierlein und Blümchen so anordnet, wie er denkt, dass es draussen, ausserhalb seines Kopfes, auch so sein müsste.

    Der Mensch bildet sich seine digitale Welt der Gedanken, indem er in seiner analogen, unendlichen und grenzenlosen Umwelt die ihm passenden sinnlichen Grenzen setzt. Diese formen digitale Einheiten, Gegenstände und Worte, die bereit sind, anders verwendet zu werden, als die reale Welt es eigentlich vorschreiben würde. Die Gedanken sind somit Grenze und Übergang zugleich. Sie führen von der analogen Umwelt, vom eigenen analogen Körper hin zur gedachten, digitalen Welt der Vorstellungen.

    Die Wirklichkeit der Gedanken muss daher gleichzeitig analog und digital sein, weil mit ihnen die Umwandlung der analogen Umwelt zu den digitalen Vorstellungen erfolgt.

    Die dritte Grenze ist die Vorstellung, die virtuelle Realität

    Einmal in den Gedanken, in der Vorstellung, sind alle Bilder, Gegenstände und Worte virtuell.

    In seinem Kopf kann der Mensch mit allen Gegenständen und Worten, die er kennt, alles simulieren. Sie werden zu jenen Pixeln, mit denen er jedes Bild formen, jede
    Geschichte erfinden kann.

    In der Puppenstube der Vorstellungen können Steine schweben oder nach oben fallen. Die Figürchen reden dort so, wie der Mensch denkt, dass sie draussen reden müssten. Oder reden sollten. Die Möbelchen kann er sekundenschnell so hinstellen, wie er es wünscht. Auch wenn sie in Wirklichkeit zentnerschwer sind.

    Die gedanklich vorgestellte Realität ist immer verschieden von der realen Welt. Im Normalfall lernt ein Mensch, sie zu unterscheiden. Solange er sich in seiner Umgebung zurechtfindet, sich schützen und ernähren kann, spielt es keine Rolle, wie sehr sich sein Gedankenmodell von der Welt draussen unterscheidet. Je besser es stimmt, umso weniger stolpert er über Steine, fällt er in tiefe Abgründe. Oder leidet Hunger, weil er den süssen Apfel am Baum nicht als Nahrung erkennt.

    Als die Menschen begannen, grosse Gruppen und Gesellschaften zu bilden, wurden die Worte die Grundlage ihrer Verständigung. Sie beschrieben damit die Inhalte von all den Puppenstuben, die sich als Modell in ihren Köpfen befanden. Es entstanden neue, virtuelle Gedankenmodelle. Grosse und kollektive Puppenstuben, die von der gesamten Gruppe aufgebaut und eingerichtet wurden.

    Die Gegenstände waren zu Worten, diese zu allgemeingültigen Begriffen geworden. Sie wurden zu Informationen, verbanden die verschiedenen Modellwelten miteinander. Lange gab es nur Worte. Sehr viel später wurden daraus Bilder und geschriebene Worte. Es gab Schrifttafeln aus Ton, später Bücher aus Papier. Sie alle trugen die Gedanken der Menschen, die Information aus ihren Modellwelten immer weiter, erreichten am Schluss die gesamte Welt. Mit der modernen Technik und Elektronik gelangen die Radio- und Fernsehübertragungen. Die virtuellen Darstellungen wurden feiner, verständlicher und schneller in der Verbreitung.

    Das Internet und die Computersimulationen setzten neue Massstäbe. Maschinell errechnete virtuelle Realitäten  erzeugen fast den gleichen Sinneseindruck, wie die direkte Wahrnehmung. Doch ob Tontafel, Buch oder Internet, es blieb immer beim gleichen digitalen und virtuellen Prinzip.

    Die virtuelle Welt der Vorstellungen ist nicht eigenständig. Kein einziger Atemzug kann in ihr gemacht, kein einziger Schluck Wasser getrunken werden. Sie benötigt die körperliche und gedankliche Welt als Basis.

    Die vierte Grenze ist die Liebe, das Mitgefühl

    Ohne Liebe und Mitgefühl stirbt jeder Mensch. Unweigerlich. Denn ein Neugeborenes ist hilflos, ohne Mitgefühl der Erwachsenen nicht lebensfähig. Es gibt keinen körperlich-materiellen Grund, warum Eltern den Durst und Hunger ihrer Kinder ähnlich stark oder stärker spüren sollten als ihren eigenen. Und warum sie ihre Handlungen nicht nur nach den eigenen Bedürfnissen, sondern auch nach denen ihrer Kinder ausrichten sollten. Ausser, dass es empirisch zweifelsfrei belegt ist, dass sie es tun. Und zwar mit einer nachweisbaren Häufigkeit und Regelmässigkeit von gegen hundert Prozent. Damit kann nicht mehr nur von einem sporadisch auftretenden Phänomen, sondern es muss von einer konkret wirkenden Kraft gesprochen werden.

    Das ist die Realität der sozialen Beziehungen. Sie ist eine Kraft, die gemeinhin als Liebe und Mitgefühl bezeichnet wird.

    Diese Kraft wirkt, unweigerlich, doch wie sie wirkt ist für den Menschen schwer auszumachen. Vor allem, was sind die Grenzen und Inhalte der Liebe, des Mitgefühls?

    Der Mensch muss, um seine Umwelt zu erfassen, in Schablonen denken, die Grenzen und Inhalte haben. Liebe ist widersprüchlich, sie erzeugt Harmonie und gleichzeitig Konflikte. Sie setzt ihre Grenzen und Inhalte ständig neu, nach ihrem eigenen Gutdünken. Mit den gewohnten Instrumenten der Wahrnehmung ist sie schwer zu fassen, schwer zu denken. Oder nur, wenn sie feste Formen annimmt, wie bei den Neugeborenen, um die sich die Erwachsenen in nahezu hundert Prozent der Fälle kümmern.

    Liebe ist ein Gefühl, sie entsteht im analogen Körper. Sie erzeugt die Gedanken, nicht umgekehrt. Erst die Liebe setzt die Gedanken, die Worte und Gegenstände in eine Beziehung zueinander. Gibt ihnen einen Sinn. Liebe begründet Freundschaften, Familien, Sippen, Kulturbereiche und Zivilisationen.

    Doch Liebe ist widersprüchlich. Sie kann erst noch heiss brennen, bald darauf kalt oder abweisend sein. Sie kann in Gleichgültigkeit oder Hass umschlagen. Sie führt zu Konflikten, zu Streit und Kriegen. Liebe und Mitgefühl bestimmen ihre Grenzen selber und ständig neu. Das zukünftige Verhalten der Liebe ist chaotisch und erst in der Retrospektive ein Stück weit logisch, fass- und erklärbar.

    Doch Liebe ist da, sie wirkt. Sie ist ein Gefühl, ein Bedürfnis, wie Hunger und Durst. Liebe ist analog, ohne feste Grenzen und Inhalte. Sie kann daher von der virtuellen Realität, die ja digital sein muss, wenn überhaupt, nur auf Umwegen erfasst und begriffen werden. Die Liebe kann daher nicht virtuell sein.

    Zusammenfassung und Fazit

    Ein Mensch muss mit mehreren Wirklichkeiten in und um seinen Körper zurechtkommen. Diese sind unterschiedlich, gegeneinander abgegrenzt und durch Übergänge miteinander verbunden.

    Die erste und vierte Realität, die des Körpers und der Liebe, sind fliessend, rein analog. Es ist die Welt der Bedürfnisse und der Gefühle. Diese können nicht digital und damit nicht virtuell sein.

    Die zweite Realität sind die Gedanken, sie wandeln die analoge Umwelt in die digitale Welt der gedachten Gegenstände und Worte um.

    Die dritte Realität ist die der Vorstellungen. Sie ist digital und kann damit jeden Zustand annehmen, der durchdie Verwendung von Gedanken möglich ist. Sie ist virtuell, kann eine virtuelle Realität simulieren, ist dadurch fast beliebig form- und wandelbar.

    Die Vorstellung oder virtuelle Realität ist ein Werkzeug, wie es die Hände sind. Beide sind Teil des Körpers und dienen dazu, dass er sich in seiner Umgebung zurechtfinden, sich ernähren und schützen kann. Sie ermöglichten es dem Menschen, die unglaublichsten Werke zu schaffen.

    Doch weder die Hand noch die Vorstellung haben für sich ein Eigenleben. Wie eine Maschine eine Erweiterung der menschlichen Hand, so ist eine computergestützte virtuelle Realität eine Erweiterung der menschlichen Vorstellung.

    Der Erfolg des Menschen als Lebewesen in seiner Umgebung besteht nicht nur darin, immer bessere Maschinen und Computersimulationen zu bauen.

    Der Mensch muss die verschiedenen Wirklichkeiten in sich vereinen, will er weiterleben und nicht verrückt werden. Denn für ihn gibt es nur ein Leben, eine Realität des Lebens. Alle Teilbereiche muss er vereinen, zu seinem Wesen, seinem Leben.