2. Eintrag

Geschichte eines Essays

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    Vorbemerkungen

    Ich setze mich gegenwärtig verstärkt mit Themen der Nachhaltigkeit auseinander und plane, ein Projekt dazu auf dem Portal in Angriff zu nehmen. Im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten für dieses Projekt lese ich aktuell das Buch Revolution für das Leben von Eva von Redecker, die über kapitalistische Naturzerstörung und mögliche Auswege daraus schreibt. Ihre Thesen haben mich so beeindruckt und auch etwas beängstigt, dass ich versucht habe, einen kurzen Essay darüber zu schreiben. Im Zentrum meines Gedankengangs steht ihre Behauptung, dass die aktuelle menschliche Lebensform verantwortlich für die Zerstörung der Natur ist. Ich wollte, so denke ich zumindest jetzt, der Frage nachgehen, welche Konsequenzen es für ein nachhaltiges Verhalten hat, wenn es die Lebensform ist, die für die Umweltzerstörung verantwortlich ist. Und wie dies mit der Erkenntnis dieser Strukturen zusammenhängt.

    Nun, wie diese zwei verschiedenen Fragestellungen bereits andeuten, ist der Text nicht wirklich stringent geworden, was mir durch Rafaela Schinners äusserst hilfreiche Kommentare klar geworden ist. Ich habe in erster Linie viele wilde Ideen aneinander gereiht, ohne den Zusammenhang genügend zu erörtern. Was mache ich jetzt aber damit? Die meisten der Ideen sind so umfangreich, dass sie für sich genommen ganze Aufsätze beanspruchen würden, wollte ich sie klar ausführen.

    Das muss aber auch nicht unbedingt der Anspruch sein. Gerade Essays leben ja davon, dass sie Versuche darstellen, also die Themen nie vollständig behandeln können. Allerdings möchte ich den Begriff des Essays auch nicht so weit überdehnen, dass ich damit bloss meine schlechten Entwürfe rechtfertige.

    Ich habe mich deshalb dafür entschieden, dass ich, anstelle davon, den Text einfach in überarbeiteter Form zu publizieren, versuche, anhand dieses Beispiels den Gedankengang zu veranschaulichen, der hinter dem Verfeinern einer philosophischen These steckt. Ich lasse deshalb den Originalentwurf bis auf einige stilistische und orthografische Anpassungen stehen. Ich füge aber die gemachten Kommentare zum Text hinzu und versuche, auf diese zu antworten. Ich hoffe und glaube, die dadurch erschwerte Leserlichkeit wird durch den Einblick in das philosophische Schaffen kompensiert.. Mir scheint dieses Format eine Möglichkeit zu bieten, die Idee des philosophischen Wochenbuches, philosophische Arbeitsweisen darzustellen, auszuprobieren.

     

    Text

    Im heutigen Eintrag beschäftige ich mich mit einer Fragestellung, die ich der Lektüre für ein mögliches zukünftiges Projekt entnommen habe. Es handelt sich um die Frage, ob die Menschen den Klimawandel wirklich, in all seinen Konsequenzen erfasst haben. Hervorgehoben hat diese Frage, welche bereits von verschiedenen Aktivist_innen, wie etwa Greta Thunberg, gestellt worden ist, Eva von Redecker in ihrem Buch Revolution für das Leben. Die zentrale These ihres Buches ist, dass die kapitalistische Produktionsweise eine Lebensform geschaffen hat, die sich in erster Linie durch die Zerstörung von Leben, sei es menschlich, tierisch, oder pflanzlich auszeichnet. Der Zerstörungswut unserer eingeübten Handlungsmuster müssen wir, so Redecker, entgegenwirken, indem wir nach neuen Formen des Zusammenlebens suchen, die nachhaltigere Verbindungen mit den Mitmenschen und der Natur ermöglichen. Wie aber soll dies geschehen?

    Um die Tiefe dieser Frage zu verdeutlichen, muss ich kurz auf den Begriff der Lebensform eingehen: Eine der ersten und prominentesten Figuren, die diesen Begriff in einem Sinn verwendete, der sich bis in die Gegenwart zu erhalten scheint, war der Philosoph Ludwig Wittgenstein. In seinem Werk Philosophische Untersuchungen setzte sich Wittgenstein mit der Philosophie der Sprache auseinander, konkret mit der Sprachphilosophie von Augustinus. Er kritisierte dessen Auffassung von Sprache, die davon ausging, dass Wörter ihre Bedeutung durch die Korrespondenz mit Objekten der Realität erhalten, dahingehend, dass er Augustinus Philosophie vorwarf, sprachliche Handlungen und Kontexte zu missachten. Für Wittgenstein werden Aussagen immer in einem bestimmten Zusammenhang formuliert. In diesem Zusammenhang erhalten sie auch ihre Bedeutung. Wenn ich etwa sage „Hol mir doch bitte eine Tasse Tee“, dann ist die Bedeutung dieses Satz gegeben durch den Kontext, dass ich mir durch meine Sprachhandlung eine Handlung von meinem Gegenüber erhoffe und nicht, wie Augustinus dachte, durch die Korrespondenz der einzelnen Worte mit Objekten der Realität.

     

    Kommentar: Meines Erachtens zeigt dieses Beispiel mit dem Imperativ sehr gut, inwiefern die Bedeutung des Satzes durch den Kontext entsteht.

    Gleichzeitig scheint es mir nicht ideal, da gar nicht klar ist, was denn hier eine Korrespondenz mit Objekten in der Realität sein könnte? Damit meine ich: In diesem Fall scheint es logisch, dass Wittgensteins Beschreibung treffender ist als jene von Augustinus (weil man nicht so intuitiv sieht, was das wäre).

    Es wäre meines Erachtens aussagekräftiger, ein Beispiel zu nehmen, bei dem es nicht so offensichtlich klar ist, wie z.B. "Das Bett steht neben der Tür" oder so… Da wäre es vermutlich anschaulicher, weil man sich für beide Theorien etwas vorstellen kann...

    Antwort: Das stimmt. Habe ich so nicht beachtet. Für den Satz „Das Bett steht neben der Tür“ würde wohl die Argumentation wie folgt lauten: Einen solchen Satz sagt man nicht einfach in jeder Situation. Würde mich jemand fragen: „Geht es dir gut?“ und ich würde antworten: „Das Bett steht neben der Tür“, dann würde man mich wohl schief anschauen oder vermuten, dass ich einen speziellen Sinn für Humor besitze. Auch solche Sätze, die sich auf konkrete Objekte beziehen, sind an einen bestimmten Kontext gebunden, also an Gespräche, die etwas mit den benannten Gegenständen zu tun haben. Wittgensteins Argumentation scheint hier in die Richtung zu gehen, dass er sagt, dass wir auch mit objektbezogenen Sätzen etwas tun. Dies hängt mit seiner Vorstellung von Lebensform zusammen: Die Menschen sind in dieser Welt in erster Linie handelnde Wesen, die mit ihrer Umwelt interagieren. Die Sprache stellt eine Form dieses Handelns dar, die für den Menschen unglaublich wichtig ist.

     

    Was haben diese Ausführungen über die Sprache aber mit Lebensformen oder gar dem Klimawandel zu tun? Dies hängt damit zusammen, dass Sprache sowie andere Handlungen etwas sind, dass in Lebensformen stattfindet. Aber dazu gleich mehr. Zuerst muss ich noch ein kleines Bindeglied besprechen: Wie ich zuvor ausgeführt habe, erhalten Aussagen laut Wittgenstein ihre Bedeutung durch ihren Gebrauch in gewissen Kontexten. Diese Kontexte nennt Wittgenstein Sprachspiele, da sie die Regeln für den Gebrauch von Sätzen darlegen. Um das Beispiel von oben erneut aufzugreifen: Damit der Satz „Hol mir doch bitte eine Tasse Tee“ einen Sinn ergeben kann, müssen gewisse Anforderungen an den Kontext gegeben sein. Es handelt sich vermutlich um einen alltäglichen Kontext. Die Formulierung lässt darauf schliessen, dass ich mein Gegenüber gut kenne.

     

    Kommentar: Wie kann ich anhand eines Satzes entscheiden, welche Bedingungen für einen Kontext gegeben sein müssen, damit der Satz Sinn ergeben kann, wenn die Bedeutung doch erst durch den Kontext festgelegt wird?

    Mir scheint als müsse ich für die Festlegung dieser Anforderungen schon etwas über die Bedeutung wissen?

    Oder ist es eher ein: Wir verstehen diesen Satz nur, wenn er in einem alltäglichen Kontext und einer gewissen Vertrautheit unter Gesprächspartnern entsteht?

    Das würde dann heissen, dass die Festlegung dieser Bedingungen auch durch den Gebrauch festgelegt wird und nicht quasi zuvor?

    Antwort: Meine Formulierung ist hier schlecht gewählt. Ich denke, dass deine zweite Darstellung zutreffend ist. Die Sätze stellen keine Anforderungen an den Kontext, sondern aus dem Kontext ergibt sich die Bedeutung. Die Sätze entstehen erst in einem bestimmten Kontext.

    Auf was ich hinaus wollte ist, glaube ich, ungefähr das Folgende: In Kontexten gibt es für Wittgenstein bestimmte Regeln, die den Sprachgebrauch steuern und vorgeben, was sinnvollerweise gesagt werden kann. In einem freundschaftlichen Kontext kann ich den Satz „Hol mir doch bitte eine Tasse Tee“ sinnvoll äussern. In einem professionellen oder juristischen Kontext nicht. Aus diesen Regeln ergibt sich für Wittgenstein ein Sprachspiel. Sprachspiele sind, meist lokal gedachte, Kontexte, in denen ein bestimmter Sprachgebrauch vorherrscht, der gewissen (meist impliziten) Regeln folgt. In einer Gesellschaft oder einer Lebensform finden sich eine grosse Pluralität von Sprachspielen. Wittgenstein hat allerdings nie genaue Kriterien dafür geliefert, wann von einem Sprachspiel gesprochen werden kann und wann nicht - was wohl auch mit seiner aphoristischen Weise, zu philosophieren, zusammenhängt.

     


    Zwischen mir und meinem Gegenüber entsteht ein Sprachspiel, das die Sätze reguliert, die wir sagen können. In einem freundschaftlichen Sprachspiel würden zum Beispiel juristische Sätze keinen Sinn ergeben. Eben so merkwürdig wäre es, den oben genannten Satz vor Gericht zu äussern. Sprachspiele haben also einen weitreichenden Einfluss darauf, was Menschen sinnvoll sagen und tun können.

    „Lebensform“ bezeichnet nun einen grösseren Zusammenhang von Sprachspielen. Bei Wittgenstein wird es nicht ganz klar, was alles unter den Begriff der Lebensform fällt. Ist sie der Summe der Sprachspiele einer Kultur oder eines Individuums?

     

    Kommentar: Ich verstehe diese Frage nicht ganz. Zusammenhang verstehe ich als: etwas steht in Zusammenhang mit etwas anderem (oder sich selbst). Hier ist nicht klar, was mit was in Zusammenhang steht: Kultur und Sprachspiele? oder Sprachspiele miteinander innerhalb einer Kultur?

    Antwort: Wiederum ist die Formulierung meiner Gedanken nicht sehr glücklich gewählt. Ich wollte darauf eingehen, dass Sprachspiele in pluraler Form vorkommen, also eine Gesellschaft oder Kultur viele Sprachspiele aufweist. Wobei ich den Begriff der Kultur hier sehr schwammig verwendet habe. Was ich, im Kontrast zur nächsten Frage, eigentlich andeuten wollte ist, wie historisch die Lebensform bei Wittgenstein zu verstehen ist? Er verwendet den Begriff der „Naturgeschichte“ um die Entstehung der Lebensform zu beschreiben, geht aber nicht konkret weiter darauf ein. Eine mögliche Idee, das zu verstehen ist, dass die Begriffe„Naturgeschichte“ und ‘Evolution’ als eng verwandt verstanden werden: In der Evolution hat sich ein Lebewesen, der Mensch, herausgebildet, welches in seinen alltäglichen Handlungen in hohem Masse die Sprache verwendet. Lebensform würde hier also die menschliche Form der sprachlichen Interaktion meinen, die allen Menschen zuteil wird. Aus dieser grundlegenden Lebensform ergibt sich dann die Möglichkeit, vielfältige Sprachspiele aufzubauen.

    „Naturgeschichte“ könnte aber auch kulturhistorischer verstanden werden. Das würde bedeutet, dass eine Lebensform sich aus historisch gewachsenen kulturellen Praktiken ergibt. Eine Lebensform würde dann eine spezifische Weise zu leben bezeichnen, die sich etwa in einer konkreten Produktionsweise (also einer Art zu wirtschaften, zu handeln, Nahrungsmittel herzustellen, zu essen, usw)  äussert. Das Argument wäre hier, dass es in der Geschichte der Menschen verschiedene Lebensformen gab. „Lebensform“ würde dann nicht mehr nur die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen, sprachlich zu handeln, meinen, sondern eine bestimmte historische Weise zu sprechen bezeichnen. Die Lebensform würde ähnlich wie ein Meta-Spachspieles verstanden werden, dass in einem bestimmten lokalen historischen Kontext angesiedelt ist.

     

    Oder ist es doch etwas, was alle Menschen teilen? Einiges deutet darauf hin, dass letztere Interpretation zutreffend ist. Für Wittgenstein scheinen Menschen Tiere zu sein, welche durch ihre evolutionäre „Naturgeschichte“ gewisse Handlungsmuster entwickelt haben, die sie alle miteinander teilen. Deshalb geht er davon aus, dass Sprachen grundsätzlich auch übersetzbar sind, da sich grundlegende Verhaltensweisen über Sprachregionen hinweg finden lassen und somit die Etablierung neuer Sprachspiele ermöglichen.

    In neueren Interpretationen des Lebensformbegriffs werden verstärkt kulturelle Aspekte betrachtet. Bei von Redecker steht im Zentrum der Lebensform die wirtschaftliche Produktionsweise des Kapitalismus. Für sie ist dies etwas, was zwischen kulturellen und grundlegenden Handlungsmustern angesiedelt ist.

     

    Kommentar: bezieht sich "grundlegend" hier auf spezifisch menschlich und unabhängig von der jeweiligen Kultur?

    Antwort: Nein, nicht direkt. Was ich damit ausdrücken wollte, ist, dass bei von Redecker der Kapitalismus eine zentrale Funktion bei der Strukturierung unserer Gesellschaften einnimmt, also einen grundlegenden Charakter aufweist im Vergleich zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft.

    Allerdings habe ich hier den Kulturbegriff anderes verwendet als weiter oben. Hätte ich mich an die Interpretation von oben gehalten und unter „kulturell“ lediglich „historisch gewachsen“ verstanden, so wäre das wohl mit von Redeckers Verwendung des Begriffs identisch. Es hat sich allerdings eine alltägliche Verwendung des Begriffs „Kultur“ in meine Gedanken eingeschlichen. Ich habe hier „Kultur“ zu nahe an für bestimmte Gruppierungen spezifische Praktiken verstanden. Dadurch kam ich zum Schluss, dass im Kapitalismus verschiedene Kulturen vorhanden sind, somit die Vorstellung von von Redecker etwas Grundlegenderes meint. Dies ergibt allerdings im Kontext der von mir zuvor vorgeschlagenen Verwendungsweise von „kulturell“ und „grundlegend“ wenig Sinn. Richtig wäre zu sagen, dass von Redeckers Lebensformbegriff kulturell ist, als dass es sich um etwas historisch Gewachsenes handelt. Es wäre insofern nicht kulturell, wenn Kultur Praktiken meint, die nur in einem kleinen, lokalen Rahmen stattfinden, da sich für sie die kapitalistische Lebensform über die Grenzen dessen, was im Alltag manchmal „Kulturraum“ genannt wird, erstreckt.

     

    Kapitalismus erstreckt sich über Kulturräume hinweg und hat auch etwas damit zu tun, wie Menschen ihre grundlegenden Bedürfnisse stillen. Es ist aber doch nicht für alle Menschen gleich, da sich der Kapitalismus klar aus einer bestimmten historischen Situation heraus entwickelt hat. Und die Handlungsmuster, die daraus entstanden sind, stellen spezifische historische Gewohnheiten dar, die nicht notwendig, sondern veränderbar sind.

    Doch folgt man von Redeckers Diagnose und akzeptiert, dass unsere kapitalistische Lebensform den Planeten zerstört und stellt man zusätzlich die Verbindung zum Begriff „Lebensform“ bei Wittgenstein her, hat dies radikale Konsequenzen für eine mögliche Reaktion auf den Klimawandel. Es würde bedeuten, dass nur eine umfassende Veränderung all unserer sozialen Beziehungen eine Lösung für die aktuellen Problemlagen verspricht, da alle unsere jetzigen Gewohnheiten Teil einer zerstörerischen Lebensform sind. 

     

    Kommentar: Ich hatte meine Mühe zu verstehen, wie genau du auf diese Konklusion kommst.

    Ich denke, ich verstehe dich so:


    1) Kapitalismus ist unsere Lebensform.

    2) Die kapitalistische Lebensform zerstört unseren Planeten.

    3) Die Lebensform drückt sich in alltäglichen Handlungsabläufen aus.

    4) Alltägliche Handlungsabläufe beziehen sich u.a. darauf wie wir reden.

    5) Wie wir reden geht damit einher wie wir unsere sozialen Beziehungen führen.


    SOMIT müssen wir unsere sozialen Beziehungen verändern, wenn wir den Planeten nicht weiter zerstören wollen.


    Falls ich das so in etwa richtig verstanden habe: Es wäre für mich als Leserin hilfreich, dieses Argument etwas expliziter klar zu machen (u.a. z.B. den Übergang von Sprache zu sozialen Beziehungen).

    Antwort: Deine Rekonstruktion ist sehr nahe an dem, was ich sagen wollte. Allerdings, und das habe ich schlecht ausformuliert im Text, war mein Bezug auf Wittgenstein nicht so inhaltlich gemeint. Es ging mir nicht darum, zu zeigen, wie Sprache und Sprachspiele mit unseren Sozialbeziehungen zusammenhängen. Ich wollte damit etwas exemplifizieren. In etwa so:

    1. von Redecker stellt die These auf, dass unsere Lebensform den Planeten zerstört

    2. um das verstehen zu können, muss man zuerst verstehen, was der Begriff Lebensform bedeutet.

    3. der Begriff „Lebensform“ lässt sich gut verstehen, wenn man Wittgensteins Betrachtungen über die Sprache untersucht.

    4. Hier sieht man, dass Lebensform die grundlegenden Möglichkeiten zu sprechen betrifft. Wobei sprechen auch immer die Form einer Handlung aufweist.

    5. Diese Ideen könnten auf weitere Handlungen ausgedehnt werden, die ähnlich grundlegend sind wie das Sprechen – etwa die Reproduktion von Leben, was von Redecker zu tun scheint.

    6. Nimmt man an, dass auch in diesem Kontext der Lebensformbegriff ähnlich funktioniert wie bei der Sprache, bedeutet dies, dass sehr grundlegende Muster unserer Lebensreproduktion (also die verschieden gesellschaftlichen und biologischen Mechanismen, die notwendig dafür sind, dass sich menschliches Leben erhalten kann: biologische Reproduktion, aber auch Nahrungsanbau und -verteilung, Bildung, Arbeit usw.)  für die Zerstörung des Klimas verantwortlich sind.

    7. Daraus würde dann folgen, dass, strebt man eine nachhaltige Veränderung des Klimas an, grundlegende Muster unserer Reprodkutionsgewohnheiten verändert werden müssten.

     

    Was aber bedeutet das? Es würde nicht reichen, einige neue rechtliche Regulierungen einzuführen. Das scheint klar. Doch darüber hinaus ist der Weg ziemlich dunkel. Von Redecker ist davon überzeugt, dass gewisse Formen des Protestes, etwa Black Lives Matter oder Klimaproteste, bereits auf eine Form des Zusammenlebens deuten, welche jenseits einer kapitalistischen Logik funktioniert.

     

    Kommentar: Auch wenn du das, da du dich ja auf von Redecker beziehst und in dieser Textform, nicht voll begründen musst, scheint es mir hier trotzdem relevant, kurz zu erklären, welche Aspekte dieser Bewegungen von einer kapitalistischen Logik abkehren (und was mit "kapitalistischer Logik" gemeint ist (Streben nach Ressourceneffizienz, Privatbesitz, Werttheorie,...?))

    Antwort: Ich muss hier kurz vorausschicken, dass ich das Buch noch nicht zu Ende gelesen habe, also alle Fragen noch nicht im Detail beantworten kann. Einige Aspekte ergeben sich allerdings aus dem, was ich bereits gelesen habe und von den Ausführungen in der Einleitung:

    1. Eigentum: Grundlegend für den Kapitalismus ist eine Form des Eigentums, welche unlimitierte Sachherrschaft über den Besitz bietet. Diese erlaubt auch, das Eigentum zu zerstören. In ihrer Kritik knüpft von Redecker an indigene Protestbewegungen an, die Eigentum verstärkt unter dem Begriff der Pflege und nicht der Herrschaft verstehen.

    2. Verwertung: Aus einem Eigentum, dass in die Nähe von Herrschaft gerückt wird, ergibt sich eine Logik der Produktion, die Güter maximal zu verwerten sucht. Rohstoffe, wenn sie einen komplett gehören, können so sehr ausgebeutet werden, wie man will. Diesem Prozess der ungebremsten Verwertung setzt von Redecker Praktiken entgegen, die auf eine nachhaltigere Produktion und Verwertung von Gütern setzen. Wie diese genau aussieht, weiss ich noch nicht.

    3. Arbeit: Da Arbeit in einer ähnlichen Matrix funktioniert wie die Bearbeitung von Gütern (ohne dass allerdings eine vollständige Herrschaft über die Arbeitnehmenden ausgeübt werden kann), findet hier eine tiefgreifende Ausbeutung von Menschen statt. Arbeit wird als etwas gesehen, dass maximiert werden muss, ohne dabei gross Rücksicht auf die Arbeitenden zu nehmen. Hier scheint von Redecker dann zu argumentieren, dass Verhältnisse zur Arbeit gefunden werden müssen, die diese Ausbeutung durchbrechen können. Anhand welcher Protestbewegung sie dies exemplifiziert, ist mir noch nicht bekannt.

    4. Leben: Von Redeckers letzter Kritikpunkt bezieht sich auf den Umgang des Kapitalismus mit dem Leben. Sowohl tierisches als auch menschliches Leben wird geopfert, um die Produktion am Laufen zu halten. Tierisches zum einen durch die Verwertung als Gut, aber auch durch die Umweltzerstörung. Menschliches durch Umweltzerstörung, aber auch durch Gewalt, die verwendet wird, um Machtverhältnisse intakt zu halten. Was die Gewalt anbelangt, bezieht sich von Redecker auf Black Lives Matter, um einen Ausweg zu skizzieren. Bei der Umweltzerstörung auf Klimaproteste.

     

    Doch wie lassen sich die in solchen Bewegungen entworfenen Praktiken nachhaltig etablieren? Wie können sie für alle Menschen zugänglich gemacht werden? Und wie können darin Errungenschaften unserer aktuellen Gesellschaft erhalten werden?

    All diese Fragen bleiben für mich noch offen. Es sind wichtige Fragen, auf die wir unbedingt Antworten finden müssen. Und es gibt bereits sehr interessante Ansätze, wie beispielsweise von Redeckers Überlegungen zeigen. Aber noch bleibt zumindest für mich persönlich die Frage offen, ob ich tatsächlich verstanden habe, was es bedeutet, dass unsere Lebensform den Planeten zerstört. Ich denke nicht.

     

    Kommentar: Hier ist nicht klar für mich, was genau deine Frage ist. Fragst du, gegeben dass unsere Lebensform den Planeten zerstört, wie genau das passiert und welche Dimensionen miteinbezogen werden müssen, oder stellst du grundsätzlich infrage, ob die These, dass unsere Lebensform den Planeten zerstört (in dem hier vorgetragenen Sinn) stimmt?


    Falls du die These für korrekt hältst, ist es etwas merkwürdig, wie du die Frage stellst, weil ich mir dann denke: wie kannst du es für korrekt halten, wenn du glaubst, nicht verstanden zu haben, was es bedeutet?

    Antwort: Ja ich gebe zu, die Formulierung ist etwas seltsam. Sie ist aber in einer gewissen Weise so seltsam gemeint. Und das hängt mit der Fragestellung zusammen, die ich versucht habe in dem Aufsatz herauszuarbeiten. Es geht mir nämlich darum, eine Unterscheidung von zwei Erkenntniseinstellungen, die mit dem Begriff der Lebensform zu tun haben, vorzunehmen. Bei Wittgenstein ist die „Lebensform“ keine Theorie, denn sie kann für ihn nicht als solche wahrgenommen werden, da wir in all unserem Handeln, Sprechen und Denken immer schon in diese eingebettet sind. Es kann höchstens auf die Lebensform gezeigt werden, diese aber nicht vollständig, theoretisch erfasst werden.

    Dieses Motiv einer Erkenntnis von etwas, von dem wir uns nicht vollständig distanzieren können, scheint auch bei von Redecker eine wichtige Rolle zu spielen. Sie spricht in einem Unterkapitel von einer zärtlichen Erzählperspektive, in welcher die vielen, kleinen Verbindungen auftreten, in welchen unsere Lebensform und die Natur verbunden ist. Dadurch sollen neue Perspektiven auf die Lebensform hervortreten, die einen anderen Umgang mit ihr ermöglichen. In der Fachliteratur wird dies auch „erschliessende Kritik“ genannt. Verhältnisse, in denen wir leben, können nicht rein theoretisch erkannt werden, sondern sie müssen durch eine Veränderung des Blickwinkels erschlossen werden. Und um etwa dies geht es bei meiner Frage: auf der einen Seite sehe ich viele überzeugende Gründe dafür, dass unsere Lebensform schädlich ist für den Planeten. Auf der anderen Seite glaube ich aber nicht, dass ich dies in einer solchen erschliessenden Weise wirklich begriffen habe, also wirklich „fühle“, wie mein eigenes Leben in diese Lebensform eingebunden ist. Man kann sich das vielleicht auch so vorstellen, dass es sehr schwer ist, einen Umgang mit der existenziellen Einsicht in die eigenen Sterblichkeit zu finden, obwohl es theoretisch sehr einfach zu verstehen, was der Tod in einem alltäglichen Sinn  bedeutet.

     

    Zu weitreichend sind noch die Folgen, dass ich sie kaum abschätzen kann. Aber von Redeckers Darstellung hat für mich einen Teil des Vorhangs gelüftet, welcher sich über den Abgrund gespannt hatte, der sich vor unserer Gesellschaft auftut.

     

    Kommentar: das ist für mich etwas unklar... Sprichst du von politischer Spaltung? oder ökonomischer Ungleichheit? oder Klima? …

    Antwort: Ich beziehe mich hier implizit auf diese existenzielle Frage, die ich in der obigen Antwort bereits etwas angedeutet habe. Der Abgrund bezeichnet hier die mögliche Selbstzerstörung der Gesellschaft und ist an die Vorstellung des Todes als ein Abgrund am Ende des Lebens angelehnt. Im Kontext des individuellen Todes wird in der Philosophie oftmals auch von einem Gefühl der existenziellen Angst gesprochen und das ist vielleicht ein Konzept, dass in der Klimakrise auf die Gesellschaft übertragen werden kann.

     

    Es ist unsere Pflicht, zu verhindern, dass die Welt in diese Tiefen stürzt. Und dafür müssen vielleicht tatsächlich neue Lebensformen gefunden werden.

     


    Abschliessende Bemerkungen

    Nach der Bearbeitung der Kommentare wurde mir klar, dass es mir ursprünglich um diese Idee einer erschliessenden Erkenntnis der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel gegangen ist. Ob so etwas schon verbreitet ist und wie es noch erreicht werden kann. Vielmehr kann ich dazu noch nicht sagen. Wie die Antwortversuche zeigen, sind heirbei enorm viele verschiedene Themenbereiche miteinander verbunden. Diese fein säuberlich abzuarbeiten, wäre eine riesige Herausforderung. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür wirklich qualifiziert bin.

    Was mir aber im Rahmen dieses Texte wieder einmal sehr deutlich wurde, ist, wie wichtig ein Gegenüber für sinnvolle philosophische Arbeit ist. Ohne die hilfreichen Kommentare und Anmerkungen, wären meine Gedanken an Ort und Stelle geblieben. Nur durch die Kritik an meinen unausgereiften Ideen, war ich gezwungen, genauer darüber nachzudenken, was ich eigentlich sagen möchte. Dies stellt einen Teil philosophischen Arbeitens dar, welcher zu wenig beachtung findet, da das Endprodukt oftmals ein Text ist, vor dem ein, selten zwei oder mehr, Name(n) steh(t)en. Aber es wirken sehr viel mehr Personen an einer Idee mit als die Autor*innen oder auch die zitierten Personen: Gerade Gespräche und Rückmeldungen zu frühen Entwürfen machen einen wichtigen Teil des Prozesses aus. Auch wenn man sich bei diesen Personen zu Beginn oder am Ende der Arbeit bedanken kann, ist es sehr schwer, ihren Beitrag genau nachzuvollziehen. Und ich plädiere nicht dafür, dass alle Arbeiten in einem solchen Format geschrieben werden sollten wie dieser Beitrag hier. Das wäre viel zu umständlich. Ich habe lediglich versucht zu zeigen, wie viel zusätzliche und unsichtbare Arbeit hinter einem fertigen Text steht. (Und ich habe nicht einmal die zweite Runde Gegenlesen von Andrin Kohler im gleichen Mass berücksichtigt, wie die erste. Der Text ist schon so viel länger geworden als beabsichtigt.)