Natur und Technik

Ein Beitrag von Gregor Schiemann

·

    Menschliche Tätigkeiten und ihre Produkte haben Natur so weitgehend verdrängt und beeinflusst, dass Menschen kaum noch Zugang zu einer unberührten Natur haben. Allermeist tritt Natur dem Menschen in einem Zustand gegenüber, in dem sie von Technik umgestaltet und teilweise untrennbar mit Technik vermischt ist. Böden sind versiegelt, Flussläufe begradigt, Pflanzen und Tiere gezüchtet, Landschaften durch menschliche Nutzung geprägt. Ergibt es überhaupt noch Sinn, angesichts dieser Verbindungen von Natur und Technik zwischen den zugehörigen Begriffen zu unterscheiden? Zahlreiche Kritiker:innen der Moderne – darunter Hans Blumenberg, Donna Haraway und Bruno Latour - haben vorgeschlagen, auf Entgegensetzungen, die mit den beiden Begriffen vorgenommen werden, zu verzichten.[1] Eine in diesem Zusammenhang oft genannte Alternative ist der Begriff des Hybrids von Natur und Technik.

    Die bisherige Form und das wachsende Ausmaß der technischen Naturveränderung bedrohen die materiellen irdischen Lebensgrundlagen. Sie haben maßgeblichen Anteil am dramatischen Klimawandel, am massenhaften Artensterben, am zukunftsblinden Verbrauch nichterneuerbarer Ressourcen und am Umweltproblem durch gefährliche Abfälle und Emissionen. Der Vorschlag, Unterscheidungen von Natur und Technik zu verabschieden, verbindet sich mit der These, dass extreme Fassungen der Differenz zu der fehlgeleiteten Technikentwicklung beigetragen haben. Indem Technik und Natur einander begrifflich entgegengesetzt wurden, sei die Zerstörung von Lebensgrundlagen ideologisch gefördert worden.

    Ich werde im Folgenden einige Argumente vortragen, warum es dennoch richtig und wichtig ist, an einer Unterscheidung von Natur und Technik - und zwar so lange es geht - festzuhalten. Sowenig ich mich in diesem kurzen Text detailliert mit der ernstzunehmenden Kritik an der Unterscheidung auseinandersetzen kann, sowenig vermag ich alle Gründe vorzutragen, die für die Aufrechterhaltung einer Differenzierung sprechen. In der Hauptsache werde ich drei Thesen vertreten: Der Begriff des Hybrids von Natur und Technik setzt die Unterscheidung von Natur und Technik voraus; sie gestattet immer noch, die gegenwärtige Umwelt des Menschen aussagekräftig einzuschätzen; erst ein hoher und naturangepasster Grad der Technisierung, von dem die Gegenwart weit entfernt zu sein scheint, könnte die Unterscheidung aufheben.

     

    Eine Definition von Natur und Technik
    sowie ihrer gemeinsamen Hybride

    Die Begriffe Natur und Technik lassen sich unterschiedlich bestimmen und haben für die verschiedenen Bedeutungen oft auch differente Anwendungsbereiche. Allgemein werden Begriffe intensional durch Eigenschaften der von ihnen bezeichneten Gegenstände und extensional durch Festlegung ihres Umfangs definiert. Letzteres geschieht beispielsweise durch die Abgrenzung zu einem Gegenbegriff. Der Naturbegriff hat unterschiedliche Eigenschaften und Umfänge, die davon abhängen, zu welchem anderen Begriff – etwa dem der Technik, der Kultur, des Geistes oder der Schöpfung – er ins Verhältnis gesetzt wird. Ich werde an eine Formulierung der Differenz von Natur und Technik anschließen, die auf die Antike zurückgeht. Dass sie in modifizierter Weise bis heute anwendbar ist, werte ich als Hinweis auf die weit zurückreichende Vorgeschichte der heutigen Verhältnisse von Natur und Technik. Ihr zufolge ist Natur ein selbstbewegtes Sein, dem der Mensch bis auf einen (göttlichen) Teil seines Intellekts zugehört. Als einziges Naturwesen bringt der Mensch seine Technik als etwas Nichtnatürliches hervor. Der Technikbegriff ist hierbei weit gefasst und beinhaltet alle Gegenstände bzw. Eigenschaften, die aus planvoller (menschlicher) Tätigkeit hervorgehen.[2]

    Bis heute kommt dieser Auffassung der Natur-Technik-Differenz in lebensweltlichen Kontexten eine bevorzugte Anwendbarkeit zu. Die wahrnehmungsbezogene Lebenswelt ist in eine künstliche Welt, von der sich Natur meist leicht erkennbar durch ihre Selbstbewegung abhebt, eingelassen. In der Wissenschaft ist die mit der Differenz verbundene ontologische Entgegensetzung seit Beginn der Neuzeit, d.h. ungefähr seit dem 16. und 17. Jahrhundert, beseitigt. Während in antiken Naturtheorien die Überzeugung vorherrschte, dass Technik mehr als Natur zu leisten vermag, hat sich in der neuzeitlichen Wissenschaft zunehmend die Auffassung durchgesetzt, dass Naturgesetze (ein Begriff, den die Antike nicht kannte) uneingeschränkt auch für Technik gelten. Dennoch kann Technik immer noch wissenschaftlich im Geiste der Antike definiert werden als dasjenige, was durch Handeln entstand, womit auch die nicht intendierten Nebenfolgen von menschlicher Tätigkeit inbegriffen sind (z.B. Umweltverschmutzungen, soziale und kulturelle Auswirkungen). Umkehrt geht Natur dann aus einer negativen Bestimmung hervor, nach der Objekte zu Natur gehören, wenn sich mit allen zu einer Zeit verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden nicht überzeugend nachweisen lässt, dass sie durch menschliche Einwirkung hervorgebracht wurden. Der Nachweis fehlender menschlicher Einwirkung darf nicht auf die im Prinzip immer bestehende, aber meist nur sehr unwahrscheinliche Möglichkeit rekurrieren, dass Gegenstände, die normalerweise technisch erzeugt werden (z.B. Bronze), auch zufällig in der Natur entstehen können. Nach dieser Naturdefinition ist kein Objekt nur technisch, solange seine materiellen Träger aus natürlich vorkommenden Atomen bzw. Stoffen bestehen. Andererseits ist der irdische Kreis von Objekten, die ohne jeden technischen Einfluss sind, strikt beschränkt (z.B. Atome, Lava).[3] Die lebensweltliche und die davon abweichende wissenschaftliche Auffassung der Natur-Technik-Differenz müssen keine Gegensätze implizieren, wofür der Begriff des Hybrids beispielhaft steht.

    Als Bezeichnung für Gebilde aus verschiedenen Komponenten setzt der Begriff des Hybrids trivialerweise die Begriffe der Komponenten voraus. Ich möchte nun aber nicht jedes Gebilde aus verschiedenen Komponenten ein Hybrid nennen. Im Fall des Zusammentreffens von Natur und Technik sind differente Formen der Verbindungen zwischen den beiden Komponenten möglich. Im Anschluss an Hans Jonas hebe ich als grundlegende Unterscheidung auftrennbare und nichtauftrennbare Verbindungen voneinander ab.[4] Bei ersteren lassen sich die Komponenten auch nach dem Beginn der Verbindung identifizieren: ein hölzernes Bett, eine Metalllegierung, ein Elektromotor usw. Solange Auftrennbarkeit vorliegt, ist die Ermittlung des technischen Anteils in der Regel unproblematisch. Bei den nichtauftrennbaren Verbindungen verschmelzen natürlicher und technischer Anteil in einem Zustand, der nicht mehr eindeutig Natur oder Technik zugeordnet werden kann: Ein durch chemische Substanzen oder genetische Eingriffe verändertes Lebewesen, ein durch Technik beeinflusstes Verhalten usw.

    Als Hybride bezeichne ich nur Gegenstände mit nichtauftrennbaren Verbindungen. Diese Zuordnung unterstellt, dass der technische Anteil am Ursprung des hybriden Zustandes identifizierbar bleibt, was beispielsweise gegeben ist, wenn die Entstehungsgeschichte des Zustandes bekannt ist oder rekonstruiert werden kann. Oft ist eine Rekonstruktion möglich, wenn sich das Hybrid mit einem nachweislich nicht technisch veränderten natürlichen Zustand vergleichen lässt. Würden auch auftrennbare Verbindungen als Hybride gelten, wäre der Begriff wohl auf nahezu alle dem Menschen zugänglichen Bereiche bzw. Gegenstände anwendbar. Damit verlöre der Begriff sein kritisches Potential zur Kennzeichnung von Aufhebungen der Grenze zwischen Natur und Technik nur dann nicht, wenn er es durch eine eigene Differenzierung zwischen den Bedeutungen der Auftrennbarkeit und Nichtauftrennbarkeit, die wiederum auf Natur und Technik verweisen müsste, herstellte.[5]

    Auftrennbare und nichtauftrennbare Verbindungen spannen ein Kontinuum von Objekten auf, das von technischen Gebilden, die nur noch in stofflicher Hinsicht natürlich sind, bis zur unberührten Natur mit minimalem anthropogenen Einflüssen reicht. Trotz ihrer inneren Zusammensetzung können die auftrennbaren Verbindungen als Gegenstände Natur und Technik im Sinne von Wirklichkeitsbereichen zugeordnet werden. Meist ist die Klassifikation noch eindeutig – in den eben genannten Beispielen gehören Gegenstände zur Technik, bei denen sich der Naturanteil auf die materiellen Träger reduziert, und zur Natur, wenn sich der auf Handlung zurückgehende Anteil gering ausnimmt. Wo die Zuordnung uneindeutig ausfällt, verschwimmt teilweise die Grenze zwischen den auftrennbaren Verbindungen und den Hybriden. Hybride lassen sich ihrerseits nach Qualität und Quantität der Naturbestandteile oder technischen Eingriffe graduell abstufen.

    Eine letzte Bemerkung betrifft eine mögliche Selbstaufhebung des Hybridbegriffes, die mit einer Aufhebung der Begriffe von Natur und Technik einherginge. Aus dem Vorangehenden folgt, dass ein für hybrid gehaltener Gegenstand als natürlich gelten muss, wenn der mutmaßliche technische Anteil nicht zu ermitteln bzw. der Erkenntnis nicht zugänglich ist. Eine natürlich anmutende Landschaft, deren kulturelle Vergangenheit uns nicht bekannt ist, oder ein Tier, von dessen Züchtungsgeschichte wir nichts wissen, halten wir heute schon mit guten Gründen, obwohl irrtümlich, für reine Naturphänomene. Näherte sich eine Technik zukünftig einer – vielleicht schon technisch weitgehend veränderten - Natur soweit an, das neue technische Einflussnahmen in ihrer Differenz zu Natur nicht nachweisbar wären, könnte von Hybriden keine Rede mehr sein, worauf ich zurückkommen werde.

     

    Natur und Technik in der Moderne

    Die negative Bestimmung des Naturbegriffes als Bezeichnung für alles, was nicht von menschlicher Einwirkung hervorgebracht worden ist, und der entsprechend auf Handlung bezogene Technikbegriff sind zur Einschätzung der gegenwärtigen Umwelt des Menschen immer noch hervorragend geeignet. Natur existiert nicht nur mit Technik vermischt, sondern auch in reiner und für das irdische Leben unabdingbarer Form im Erdinneren und in dem die Erde umgebenden Kosmos. Auf der Erdoberfläche können die mit dem Ausdruck „Wildnis“ bezeichneten und teilweise für nichtmenschliche Organismen überlebenswichtigen Wirklichkeitsbereiche als Natur oder Hybrid mit allenfalls nur sehr schwachem technischen Anteil beschrieben werden. Die handlungsbezogene Technikvorstellung ist ferner Grundlage für die Feststellung des fortschreitend besser nachweisbaren anthropogenen Anteils an der Klimaveränderung. Auch der Begriff der sogenannten Technosphäre, mit dem sich das ungefähre Ausmaß der gesamten irdischen Technisierung berechnen lässt, knüpft an diese Technikvorstellung an. So umstritten die Voraussetzungen und Folgerungen solcher Abschätzungen auch sein mögen, vermitteln sie doch einen Eindruck von der Größenordnung der materiellen Veränderungen, die aus menschlichem Handeln resultieren. Nach einer vorläufigen Kalkulation beläuft sich die Masse der technologischen Artefakte auf 30 Billionen Tonnen, was umgerechnet auf die Erdoberfläche 50 kg/m^2 bedeutet und die menschliche Biomasse um das Fünffache übersteigt.[6] Schließlich schafft der handlungsbezogene Ansatz eine Voraussetzung für die immer noch mögliche Ermittlung der Verursacher:innen von technischen Eingriffen in Natur und damit eine unerlässliche Bedingung für die Beendigung der Gefährdung der materiellen Lebensgrundlagen.

    Für die mit dem 19. Jahrhundert einsetzende Moderne lassen sich Entwicklungstendenzen für das Verhältnis von Natur und Technik angeben, die bis heute anhalten und durchaus divergierenden Charakter haben. Es handelt sich um generelle Trends, die in vielfältigen kontextabhängigen Beziehungen stehen und dementsprechend in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten. Sie werden hier nur schlagwortartig formuliert, um die Verschiedenartigkeit der zwischen Natur und Technik bestehenden und möglichen Beziehungen hervortreten zu lassen.[7]

    1. Zunehmende Naturferne der Technik: Technik bildet verstärkt eigene Strukturen und Entwicklungspfade aus, die kein Vorbild in der (nichttechnischen) Natur haben. Dieter Birnbacher nennt drei solcher Kennzeichen der modernen Technik:

    Die Welt der Werkzeuge, Geräte und Maschinen ist so alt wie der Mensch selbst. Als die Sphäre des vom Menschen bewußt Gemachten […] war sie immer schon von der Natur als der Sphäre des Gewachsenen und Vorgefundenen unterschieden. Aber noch nie war dieser Unterschied so ausgeprägt und so offen sichtbar. […] Von den verwendeten Materialien wie von den Formen her sind die modernen technischen Objekte der Natur weiter entrückt als die früheren Zeiten. [… E]in weiteres Kennzeichen der modernen Technik [ist] ihre Globalität [… .] Ein drittes […] Merkmal […] ist ihr gewaltiges Zerstörungspotential. (Birnbacher 1985, S. 608 ff.)

    Schon die Technik der frühen Kulturen weist spezifische Differenzen zum natürlich Gegebenen auf. Paradigmatisch dafür ist das Rad, das mit seiner potenziell unendlichen Rotationsmöglichkeit um eine Achse kein natürliches Vorbild hat. Die von Birnbacher für die Moderne genannten Merkmale heben heutige Technik deutlich von vorangehenden Formen ab. Mithin lässt sich die Technikentfernung von Natur als eine weitreichende Entwicklungstendenz postulieren. Zu ihren möglichen zukünftigen, allerdings wohl noch sehr entfernten Fluchtpunkten muss man die Entkopplung von Natur und Technik rechnen. Die technische Datenerfassung der Welt könnte unabhängig von menschlichen Wahrnehmungsleistungen, die Entwicklung von Theorien der Welt eigenständig von künstlicher Intelligenz organisiert werden.[8]

    2. Zunehmende Naturnähe der Technik: Die moderne Technik vermag sich umgekehrt, stärker an Natur als in vormodernen Zeiten anzunähern. Schon die antike Technik wurde mitunter in Analogie zu Natur gedacht. Aristoteles spricht davon, dass Technik der Natur nacheifere.[9] Doch finden sich in seinen Schriften bezeichnenderweise nur wenige Behauptungen tatsächlich vorhandener Strukturanalogien zwischen natürlichen und technischen Gegenständen.[10] Ganz anders verhält es sich in der Moderne, in der sich die zur Naturentfernung gegenläufige Tendenz deutlich ausgebildet hat. Als Beispiele kann auf die Bionik oder die Technologien der Simulation hingewiesen werden. Das interdisziplinäre Forschungsfeld der Bionik versteht Natur als Vorbild für Technik. Bionische Konstrukte ahmen Natur für Problemlösungen im Kontext menschlicher Zwecksetzung nach.[11] Ähnliches gilt für bestimmte Simulationstechniken, die reale Vorgänge so weitgehend imitieren, dass an ihnen vergleichbare Erfahrungen gewonnen werden können wie an Naturphänomenen (z. B. Molekulardynamik- oder Klimasimulationen). Aber auch jenseits dieser Hochtechnologien nähert sich Technik der Natur an. Die Industrie stellt etwa künstliche Lebensmittel oder Bekleidungen aus synthetischen Stoffen her, die ohne aufwendige Analysemethoden nicht mehr von ihren natürlichen Gegenstücken zu unterscheiden sind (z. B. synthetische versus natürliche Aromastoffe oder Fasern).

    3. Vermehrte Hybridzustände von Natur und Technik: Die Technisierung von Natur führt insbesondere dann zur Bildung von Hybriden, wenn sie Veränderungen von lebender Natur betrifft. Lebende Natur entwickelt sich nach bestimmten technischen Veränderungen eigenständig weiter, so dass oft nicht mehr entscheidbar ist, welcher Entwicklungsaspekt auf die technische Veränderung und welcher auf die vor dieser Veränderung bestehende natürliche Disposition zurückgeht. Beispiele finden sich bei der agrarwirtschaftlichen Bodennutzung, der Züchtung, dem Einsatz von pharmazeutischen Mitteln und der Biotechnologie. Der seit dem 19. Jahrhundert forcierte und teilweise industrialisierte Ausbau der bevorzugt hybridbildenden Bereiche hat zu ihrem starken Anstieg beigetragen.

    4. Zunehmende Eindringtiefe der Technik in Natur: Mit der Miniaturisierung von Technik hat die Eindringtiefe in Natur zugenommen. Moderne Verfahren gestatten, bis hinab in die Größenordnungen von Elementarteilchen künstliche Objekte herzustellen. Für die technische Verwertung von Naturveränderungen in den atomaren und molekularen Dimensionen sind die – auch hybridbildende - Nanotechnologie und synthetische Biologie paradigmatisch. In beiden Bereichen wird die Auffassung vertreten, dass die Herstellung von künstlichem Leben – sei es durch die genetische Modifikation vorhandener Arten, sei es aus anorganischer Materie – ein realistisches Ziel darstelle.[12] Allerdings sind die bisherigen Forschungen weit entfernt von der Schaffung artifizieller Wesen, die den schon existierenden Lebewesen an Komplexität auch nur annähernd ähnlich wären. Noch ist es der Technik nur gelungen, Leben partiell zu modifizieren. Der an die Antike anschließende Naturbegriff ist in seiner negativen Fassung in besonderer Weise geeignet, die im Wesentlichen fortbestehende kategoriale Differenz zwischen den evolutionär entstandenen Lebewesen und den komplexesten Produkten der demgegenüber jungen Technik hervortreten zu lassen.

    Die teils gegenläufigen, teils die Grenze von Natur und Technik verwischenden Tendenzen machen eine einheitliche Beurteilung der gegenwärtigen Situation problematisch. Man gewinnt den Eindruck, dass sich die Entwicklung der Natur-Technik-Differenz gegenwärtig möglicherweise in einem Übergangsprozess befindet, aus dem gegensätzliche Szenarien hervorgehen können. Einerseits ist es denkbar, dass Natur und Technik zukünftig nur ausnahmsweise unterscheidbar sein werden. Andererseits sprechen Hinweise für eine vorerst andauernde kulturelle Relevanz der Differenz, wobei sich die Beziehung der beiden Relata allerdings völlig neu ordnen könnte.

     

    Natur und Technik in der erwartbaren Zukunft

    In einigen Bereichen hat sich die Differenz von Natur und Technik weiter vergrößert, insofern Naturgegenstände – vor allem Lebewesen – gegenüber dem rasanten Wandel der technischen, sich von Natur absetzenden Gegenstände nahezu unverändert geblieben sind. Da es sich bei diesem Trend um eine Entwicklung handelt, die sich bis auf die Ursprünge von Technik zurückverfolgen lässt, verweist sie auf tieferliegende Unterschiede zwischen Natur und Technik, die bestimmend bleiben könnten. In der erwartbaren Zukunft[13] könnten sich Organismen, namentlich der Mensch, womöglich als nur bedingt technisierbar herausstellen. Sollte sich zugleich die Tendenz einer zunehmend eigenständigen und sich von Natur distanzierenden Technik fortsetzen, verlöre vermutlich der humane Lebensbereich als Referenz für technische Innovationen an Bedeutung. Wenn sich die Aufhebung der Natur-Technik-Differenz als zu problematisch und nicht unbedingt notwendig für die Technikentwicklung erwiese, könnten sich technische Kulturen generell in größerem Abstand als heute von einer sich selbst überlassenen Natur etablieren. Diese Überlegungen zu einem irgendwann möglichen Verhältnis von Natur und Technik haben nur den modellhaften Charakter eines Idealtypus. Ich möchte dieses Szenario das aristotelische Szenario nennen.[14] In ihm kämen Hybridzustände eher nur ausnahmsweise vor. Im Hinblick auf die Gewichte von Natur und Technik erlaubt das Szenario differente Varianten. Die Naturverhältnisse könnten weiterhin den gegenüber der Technik dominanten Rahmen abgeben. Vorstellbar ist, dass technische Innovationen auch zukünftig maßgeblich von den vorhandenen natürlichen Rohstoffen abhängig oder die Kreativitätsleistungen künstlicher Intelligenz denen des Menschen unterlegen blieben. Eine hochentwickelte eigenständige Technik wäre unter Umständen aber dazu in der Lage, das Relevanzverhältnis von Natur und Technik umzukehren, wenn sie sich – etwa mit Hilfe nanotechnologischer Verfahren – eine synthetische Materialbasis verschaffen, für die verbleibende Natur gleichsam Reservate vorgeben und ihr Grenzen setzen würde.[15]

    Insofern aber Natur und Technik heute schon vermehrt Hybride bilden und sich Technik immer perfekter der Natur anzunähern vermag, hat sich die Differenz von Natur und Technik in anderen Bereichen vermindert oder bereits aufgehoben. Käme es bei einer Verallgemeinerung der Technisierung in der den Menschen einbegreifenden Umwelt zukünftig zu einer weitgehenden Verstärkung dieser Tendenzen, wären sie in der Lage, das Gewicht der Entfernung von Natur und Technik in diesem Bereich des Humanen zu konterkarieren. Ich möchte den idealtypischen Fluchtpunkt einer Entwicklung, mit der die Differenz von Natur und Technik jede übergreifende Relevanz verloren hätte, das nichtaristotelische Szenario nennen.[16] Technik wäre von Natur nicht mehr oder kaum noch zu unterscheiden bzw. hätte mit Natur neuartige Wirklichkeiten geschaffen, die weder Natur oder Technik zuzuordnen noch Hybride wären. Die Nichtfeststellbarkeit anthropogener Eingriffe stellte kein hinreichendes Kriterium mehr für Natur dar. Die Pointe dieses Szenarios besteht darin, dass die ansteigende Hybridisierung der Welt zur Aufhebung des Hybridbegriffes führen würde. Denn ohne Referenz zur Differenz von Natur und Technik verlöre der Begriff seine Anwendungskontexte. Auch wenn sich das nichtaristotelische Szenario durch den Verlust der Unterscheidbarkeit von Natur und Technik auszeichnete, entzöge es sich selbst nicht der historischen Charakterisierung durch diese Differenz. Die umfassende Technisierung, der es sich verdankte, hätte Natur als dominanten Rahmen der Technikentwicklung beseitigt und damit das bislang bestimmende Relevanzverhältnis von Natur und Technik außer Kraft gesetzt.

    Würde eine andere Begrifflichkeit für die Beschreibung der menschlichen Lebenswirklichkeit an die Stelle von Natur und Technik treten? Welche Begriffe kämen hierfür in Frage? Anknüpfend an eine Überlegung von Philippe Descola könnte eine universelle Unterscheidung von Interiorität und Physikalität eine Alternative darstellen. Interiorität meint, „dass eine Entität Eigenschaften besitzt, die ihm innewohnen oder die ihm entspringen“; Physikalität bezeichnet das Äußere einer Entität inklusive seiner darauf bezogenen Aktivitäten.[17] Diese Begrifflichkeit lässt sich auf alle Entitäten anwenden, die hinreichend komplex strukturiert sind, um sich gegen ein Äußeres abzugrenzen und mit diesem in Wechselwirkung zu treten. Zum Begriffsumfang gehören damit auch natürliche und technische Systeme des aristotelischen Szenarios mit entsprechender innerer Ausstattung.

     

    Schluss

    Aus der Perspektive der hier vorgestellten Differenz von Natur und Technik gehört der Mensch wesentlich einer Natur zu, die als sich selbstbewegender bzw. nicht vom Menschen gemachter Teil der Welt gedacht wird. Als Kulturwesen tritt dem Menschen Natur in der Moderne aber zugleich als fremde Realität gegenüber. Obwohl die Entfernung menschlicher Wirklichkeiten von Natur allgemein zunimmt, kommt der auf Natur bezogenen Abgrenzung von Technik immer noch eine orientierungs- und handlungsleitende Funktion zu. In dieser anhaltenden Relevanz spiegelt sich die Ambivalenz einer Bestimmung von Natur als das unabhängig vom Handeln Bestehende und zugleich dem Menschen wesentlich Zugehörige.

    Technisierungen haben die von ihr unterschiedene Natur noch lange nicht beseitigen können. Gleichwohl ist eine Aufhebung der Differenz von Natur und Technik oder auch eine Umkehr des bisherigen Verhältnisses von Natur und Technik, so dass nicht mehr die Natur der Technik, sondern die Technik der Natur Grenzen setzen würde, denkbar. In dieser unübersichtlichen Situation stürmischer Entwicklung kommt es darauf an, an traditionellen Bestimmungen festzuhalten, solange sie ihre bewährte Funktion, Kriterien für die Beurteilung der Wandlungsprozesse zu bieten, nicht verloren haben. Nicht zuletzt erlauben sie die Festlegung von normativen Setzungen, wenn gute Gründe gegen Technisierungen von Natur sprechen.

     

     

    Literaturangaben:

    Aristoteles (1987 f.): Physik: Vorlesung über Natur. 2 Bde. Üb.: Hans G. Zekl. Hamburg: Meiner.

    Birnbacher, Dieter (1985): „Technik“. In: Ekkehart Martens/Herbert Schnädelbach (Hrsg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 2. Reinbek: Rowohlt, S. 608–641.

    Birnbacher, Dieter (2006): Natürlichkeit. Berlin: de Gruyter.

    Blumenberg, Hans (1963): „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“. In: Ders.: Theorie der Lebenswelt. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2010, S. 181-224

    Descola, Philippe (2014): Beyond Nature and Culture. Translation by Janet Lloyd. Chicago: University of Chicago Press.

    Grunwald, Armin (2020): „Das Reden über Natur im Lichte technischen Denkens“. In: Klaus Feldmann/Nils Höppner (Hrsg.): Wie über Natur reden? Philosophische Zugänge zum Naturverständnis im 21. Jahrhundert. Freiburg: Karl Alber Verlag, S. 25–37.

    Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main: Campus.

    Jonas, Hans (1987): Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

    Köchy, Kristian (2014): „Konstruierte Natur? Eine Fallstudie zur Synthetischen Biologie“. In: Gerald Hartung/Thomas Kirchhoff (Hrsg.): Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts. Freiburg/München: Karl Alber, S. 299–316.

    Koselleck, Reinhart (1977): „,Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘: Zwei historische Kategorien“. In: Ders. (1995): Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 349–375.

    Latour, Bruno (1994): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin: Suhrkamp.

    Nachtigall, Werner (2010): Bionik als Wissenschaft. Erkennen -> Abstrahieren -> Umsetzen. Heidelberg/Dordrecht/London/New York: Springer.

    Recki, Birgit (2021): Natur und Technik. Eine Komplikation. Berlin: Matthes und Seitz.

    Schiemann, Gregor (2005): Natur, Technik, Geist: Kontexte der Natur nach Aristoteles und Descartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung. Berlin/New York: De Gruyter.

    Schiemann, Gregor (2006): „Kein Weg vorbei an der Natur. Natur als Gegenpart und Voraussetzung der Nanotechnologie“. In: Alfred Nordmann/Joachim Schummer/Astrid Schwarz (Hrsg.): Nanotechnologie im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven. Berlin: Akademische Verlagsgesellschaft, S. 115–130.

    Schiemann, Gregor (2019): „The Coming Emptiness. On the Meaning of the Emptiness of the Universe in Natural Philosophy“. In: Gordana Dodig-Crnkovic/Marcin J. Schroeder (Hrsg.): Contemporary Natural Philosophy and Philosophies – Part 1. Basel: Multidisciplinary Digital Publishing Institute, S. 180–194.

    Schiemann, Gregor (2021): Lebenswelt und Wissenschaft. Berlin/Boston: De Gruyter.

    Schneider, Birgit (2019): „Mensch-Maschine-Schnittstellen in Technosphäre und Anthropozän“. In: Kevin Liggieri/Oliver Müller (Hrsg.): Mensch-Maschine-Interaktion. Handbuch zu Geschichte - Kultur – Ethik. Berlin: Metzler, S. 95–105.

    Trischler, Helmuth/Will, Fabienne (2017): „Technosphere, Technocene, and the History of Technology“. In: Icon. The Journal of the International Committee for the History of Technology. Vol. 23, S. 1–17.

    Zalasiewicz, Jan et al. (2017): „Scale and Diversity of the Physical Technosphere. A Geological Perspective“. In: Anthropocene Review. Vol. 4/1, S. 9–22.


    Fussnoten

    [1] Vgl. z.B. Blumenberg 1963, Haraway 1995 und Latour 1994. Donna Haraway und Bruno Latour thematisieren weniger das Verhältnis von Natur und Technik als das von Natur und Kultur. Ich verstehe Technik mit Recki 2021: 29 als ein „Extrem der Kultur“ und Kultur als traditionsbildende und integrierende Weitergabe von Errungenschaften einer Gemeinschaft.

    [2] Ein klassischer Autor für die Natur-Technik-Differenz ist Aristoteles. Vgl. Aristoteles 1987, Buch II, sowie zur Interpretation seiner Unterscheidung und ihrer Anwendung in der Lebenswelt Schiemann 2005: 29-161. Die weite Fassung seines Technikbegriffes erstreckt sich u.a. auch auf Kunstgegenstände (z.B. ein Theaterstück) und Handlungsschemata (z.B. in der Politik).

    [3] Diese Bestimmungen von Natur und Technik berühren sich mit den Begriffen der genetischen Natürlichkeit und Künstlichkeit von Birnbacher 2006: 7-13.

    [4] Vgl. Jonas 1987: 163 ff.

    [5] Meine Auseinandersetzung mit der zunehmenden Kritik an der Unterscheidung von Natur und Technik hat mich dazu bewogen, den Begriff des Hybrids nur auf nichtauftrennbare Verbindungen zu beziehen.

    [6] Vgl. Zalasiewicz et al. 2017: 19. Zur kritischen Diskussion vgl. Trischler and Will 2017: 9 f. mit weiteren Literaturangaben und Schneider 2019.

    [7] Nachfolgende Ausführungen stützen sich auf Schiemann 2021: 162-165.

    [8] Die Entkopplung von Natur und Technik gehört zur zweiten Variante des weiter unten diskutierten „aristotelischen Szenarios“.

    [9] Vgl. Aristoteles 1987: 88-91.

    [10] Vgl. Schiemann 2021: 163.

    [11] Zum Naturverhältnis der Bionik vgl. Nachtigall 2010.

    [12] Für die nanotechnologische Zielsetzung der Herstellung künstlichen Lebens vgl. Schiemann 2006: 127. Zur synthetischen Biologie vgl. Köchy 2014.

    [13] Unter der erwartbaren Zukunft verstehe ich eine kommende Zeit, auf die sich die denkmöglichen Entwicklungsoptionen erstrecken und hinter der „die Erschließbarkeit der Zukunft […] nicht mehr erfahrbar ist“ (Koselleck 1977: 356).

    [14] Vgl. Anmerkung 2.

    [15] In diesem Szenario könnten sich die immer noch wesentlich der Natur zugehörigen Menschen in technisch oder natürlich dominierten Bereichen befinden. Die zukünftig vielleicht mögliche Zweiteilung des Planeten Erde in Hightech-Reservate und menschenfreie Wildnis erwägt Grunwald 2020: 31.

    [16] Die Beschränkung dieses Szenarios auf die den Menschen einbegreifende Umwelt ist nicht nur auf die Erde als Lebensraum bezogen, sondern stellt auch eine Teilmenge der außerirdischen, allerdings sehr unwahrscheinlichen Existenzformen einer von der Erde abstammenden intelligenten Kultur dar. Zur Unwahrscheinlichkeit von interstellaren Auswanderungen vgl. Schiemann 2019. Jede dieser irdischen oder außerirdischen ursprünglich wesentlich technischen Existenzformen wird von reiner (kosmischer) Natur umgeben sein, was der Aufhebung der Natur-Technik-Differenz Grenzen setzen wird.

    [17] Descola 2014: 116 (meine Übersetzung). Während Descola Physikalität als Ausdruck innerer Vermögen definiert und damit der Interiorität unterordnet, rekurriert meine Bestimmung auf ein Vermögen zur Abgrenzung und Wechselwirkung mit einem Äußeren.