Ein bisschen Menschlichkeit zum "Black Friday"

Eine Helferin erzählt über den frustrierenden Umgang mit den Behörden

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    Ich begleite einen Klienten, welcher seit mehr als drei Jahren in der Nothilfe festsitzt. 2018 ist auch er ein Opfer der Praxisverschärfungen des SEM gegenüber eritreischen Asylsuchenden geworden.

    Eines Abends Anfang November erhalte ich einen Anruf. Er sitze im Regionalgefängnis, er müsse bis Ende November dort bleiben. Eine Nachfrage beim zuständigen Sachbearbeiter ergibt, dass der junge Mann diverse Bahnbussen aus dem Jahr 2020 absitzen muss, welche er mit 8 Franken Nothilfe täglich natürlich nicht bezahlen konnte.

    Mit einem Besuch in der selben Woche, einer Packung Parisienne und Schweizer Schokolade im Gepäck, bemühe ich mich, die Moral meines Klienten einigermassen aufrecht zu erhalten. Ich kann mich nicht dagegen wehren, dass ich mich persönlich verpflichtet fühle, das Unrecht, das diesem Jungen widerfährt, ein bisschen gut zu machen. Er stammt aus einem eritreischen Dorf, sein einziges Vergehen besteht darin, nicht in die Diktatur, aus der er geflohen ist, zurückkehren zu wollen.

    Die freundlichen Securitas-Leute bitte ich, mir den Termin seiner Entlassung frühzeitig mitzuteilen, damit ich meinen Klienten nahtlos beim Migrationsdienst zurückmelden könne. Zusätzliche Einträge wegen Untertauchens scheinen mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum förderlich, wir möchten nämlich ein Wiedererwägungsgesuch stellen.

    Drei Wochen später:

    Mein Gewissen plagt mich bereits heftig, weil ich es trotz gegenteiliger Versprechen nicht geschafft habe, meinen Klienten im Gefängnis nochmals zu besuchen. Ich entschuldige mich wortreich. Vergangene Woche ruft er mich an. Er werde morgen entlassen um 4 Uhr. "Um 4 Uhr nachmittags?" frage ich. "Dann hole ich dich ab und wir schauen, ob wirs noch zum Migrationsdienst schaffen." "Nein, nein", entgegnet er. " 4 Uhr morgens." "Unmöglich!" rufe ich aus. "Um 4 Uhr morgens werden doch keine Leute entlassen." "Ich habe extra den Securitas gefragt, der hat mir das heute bestätigt."

    Ich bitte den Jungen, mich nach einer Viertelstunde nochmals anzurufen und wähle die Nummer des Regionalgefängnisses. "RRRRR", bellt eine resolute weibliche Stimme in den Hörer.

    "Müller vom Verein Give a Hand.ch", belle ich zurück. "Ich habe da einen Klienten.... Können Sie mal kurz nachsehen?"

    "Moment." Es tippt im Hintergrund. "Ach ja, genau, er wird um Viertel nach vier am Morgen entlassen."

    "Sind Sie wahnsinnig!" Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass sie mich auf den Arm nimmt.

    "Wenn Sie so weitermachen, hänge ich sofort auf."

    Ups! Das war kein Witz. Achtung! Ruhig bleiben. Durchatmen.

    "Aber hören Sie. Mein Klient ist abgewiesener Nothilfe-Empfänger. Der muss sich nach der Haftentlassung erst mal beim Migrationsdienst melden, um wieder einem Rückkehrzentrum zugewiesen zu werden. Der Migrationsdienst ist eine Behörde. Die arbeitet mitten in der Nacht nicht."

    Vor meinem inneren Auge sehe ich bereits, wie mein Klient, frühmorgens ziellos am Bahnhof herumstreunend, gleich in die nächste Polizeikontrolle gerät und eine Anzeige wegen illegalen Aufenthaltes riskiert. Spätestens, wenn er mit dem ersten Zug zu seinem Freund nach Langenthal fährt, wie er dies beabsichtigt, würde er die nächste Bahnbusse kassieren. Zwanzig Franken, welche ich ihm beim letzten Besuch dagelassen hatte, waren ihm aus mir unerklärlichen Gründen nicht ausgehändigt worden. Wahrscheinlich waren damit Fernseh- oder Telefonkosten berappt worden.

    "Das ist nicht unser Problem. Wir führen nur aus."

    "Aber es ist mitten im Winter. Sie können die Leute doch nicht bei Temperaturen um den Gefrierpunkt einfach vor die Tür stellen und dann nach mir die Sintflut!"

    "Der Mann ist um Viertel nach vier in der Nacht verhaftet worden, somit müssen wir ihn genau um diese Zeit wieder entlassen, sonst hat er Überhaft."

    "Aber können wir das hier nicht mit gesundem Menschenverstand regeln? Der Mann läuft gleich in die nächste Anzeige rein...."

    "Da müssen Sie mit dem Justizvollzug reden. Wir führen nur aus."

    "Aber der Mann sagte mir, er würde heute Nacht entlassen. Auch die Justizvollzugsbehörde ist eine Behörde, und jetzt haben wir halb sieben Uhr abends."

    Langsam aber sicher verliere ich die Geduld.

    "Der wird aber nicht morgen Nacht, sondern erst am 26. entlassen."

    "Okay", gebe ich zurück. Meine Zunge hat mittlerweile den Sieg über meine diplomatischen Fähigkeiten errungen. Ich koche vor Wut über eine solche Menschenverachtung.

    "Aber mit der Ausrede, dass Sie nur Befehle ausführen, kommen Sie mir nicht durch. Derjenige, der um vier Uhr Nachts diese verdammte Tür aufmacht und meinen Klienten bei Minustemperaturen sich selbst überlässt, ist verantwortlich. Und Sie selbst würden so etwas mit ihrem eigenen Sohn auch nicht machen." Ich rede mich in Rage. Tut, tut, tut! Wenigstens weiss ich jetzt, was zu tun ist, und mir bleibt noch ein Behördentag Zeit.

    Am folgenden Tag werde ich auf allen drei Justizvollzugsämtern in Bern telefonisch vorstellig. Das erste Amt ist nicht zuständig, doch ein freundlicher Walliser stellt mich in ein anderes Büro durch, erneut schildere ich mein Anliegen. "Dafür ist die Regionalstelle zuständig, hier haben sie die Nummer."

    Tief durchatmen, erneut wählen, Tut, tut, tut! "Regionale Justizvollzugsdiente Meier." Erneut spule ich mein Anliegen ab. "Das sollten Sie mit dem Regionalgefängis direkt regeln."

    Panik! "Nein! Da habe ich doch schon angerufen, die führen nur aus. Ich wurde explizit an Sie verwiesen." Wut, Verzweiflung, das Gespräch droht in eine ungute Richtung zu kippen.

    "Können wir diese Sache um Himmels Willen nicht mit etwas gesundem Menschenverstand regeln?" flehe ich schon beinahe.

    "Lassen Sie mich mal sehen", erwidert Frau Meier und tippt.

    "Phhh...Da müssten eigentlich nur noch Restbussen bezahlt werden..."

    "Wieviel?" Ich ergreife den Strohhalm sofort.

    "Einen Hunderter pro Tag, wenn das bezahlt ist, kann Ihr Klient entlassen werden."

    "Super!" Meine Erleichterung wirkt nun auch auf Frau Meier ansteckend.

    "Selbstverständlich geht das. Sie haben zwei Möglichkeiten..."

    Anderthalb Stunden später stehe ich mit meinem Blindenführhund Oak und einem Hunderter am Schalter ausserhalb des Regionalgefängnisses. Eine weitere halbe Stunde später - übrigens ungefähr 4 Uhr nachmittags - habe ich meinen Klienten mit seiner Migros-Tasche voller Kleider wieder in Freiheit. Zudem habe ich die Aussicht, ihm über eine Black Friday-Aktion des Migrant Solidarity Networks ein Halbtax-Abo organisieren zu können. Schliesslich hat er gerade vier Wochen lang Bahnbussen abgesessen... Erst einmal aber setzen wir uns gemeinsam in ein Café im Bahnhof, wo ich meinen ganz persönlichen Sieg über die Bürokratie mit einer Tasse Kaffee und einer Marlboro, die mir mein Klient aus dem mitgebrachten Tabak gedreht hatte, in vollen Zügen geniesse.

    Zwar ist Black Friday erst Morgen. Für mich aber ist es gerade Black Friday und Cyber Monday auf einmal!