Offener Brief von HSGYM Philosophie zur "Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität"

SIe ist überall. Doch niemand spricht über sie (1).

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    «Die Zeit ist deshalb reif, den Fächerkatalog und die Inhalte der obligatorischen Grundlagenfächer zu überdenken, dies aber systematisch auf den grundsätzlichen, übergeordneten normativen Grundlagen der finalen Ziele.»

    Franz Eberle, 2018 (GYMNASIUM HELVETICUM 1/2019, 9d)

    Wir sorgen uns um die «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität», darum, was Maturand/-innen jetzt und künftig vermehrt brauchen, in einer synthetisierenden Perspektive.

    Wir beziehen uns im Folgenden auf die Auslegeordnung zur gymnasialen Maturität (letzte Fassung vom 18. 9. 2019, für die wir anerkennend danken) und auf Artikel in Gymnasium Helveticum zu diesem Thema.

    Einige Beobachtungen

    • Die Allgemeinbildung, als Befähigung zu einem Hochschulstudium, und die vertiefte Gesellschaftsreife sollen weiterhin übergeordnetes Ziel sein und womöglich gestärkt werden.
    • Die bereits angelaufene Weiterentwicklung soll «keine Revolution» sein; doch werden viele zusätzliche Fächer, bis dato auch zusätzliche Schwerpunktfächer (zudem solche, die zugleich Grundlagenfächer sind) oder Ergänzungsfächer ins Spiel gebracht.
    • Die reelle Gefahr einer Überladung des Systems (durch weitere Fächer und/oder obligatorische Stunden) wird gesehen.
    • Den individuellen Interessen der Schüler/-innen soll mit mehr Wahlmöglichkeiten (und damit eventuell Abwahlmöglichkeiten) entgegengekommen werden.
    • Die Vergleichbarkeit der Maturitäten und damit der Studierfähigkeit soll gewährleistet und wenn möglich gestärkt werden.
       

    Unstimmigkeiten

    Diese Punkte bergen bereits Widersprüche in sich, die nicht leicht oder jedenfalls nur in einer grösseren Synthese zu lösen sind. – Weiter gibt es Unstimmigkeiten in der Abfolge:

    • Im Herbst 2020 wurde intensiv und in einem kleinen Zeitfenster am Rahmenlehrplan gearbeitet, eine Arbeit, die sehr sinnvoll ist – nur von der Abfolge her verkehrt: bevor überhaupt einigermassen klar wäre, wie die neue Maturität aussehen würde.
    • Die Idee einer Stufung der Maturitätslehrgänge, die einiges früher schon aufkam, scheint dagegen aufgeschoben zu sein. Aus einer solchen Stufung, wie auch immer sie gestaltet wäre, ginge wiederum ein Widerspruch hervor, wenn sie in den zwei Jahren vor der Maturität lediglich noch mehr Wahlmöglichkeiten beinhalten würde. Damit würden übergeordnete Ziele wie die Vergleichbarkeit der Studierfähigkeit gerade nicht erfüllt. – An sich aber ist die Idee einer solchen Stufung bedenkenswert und sollte unseres Erachtens weiterverfolgt werden. Sie könnte zu einer grösseren Synthese beitragen.
       

    Förderung einer grossen Synthese

    Wir führen diese Zusammenhänge, mit Blick auf Studierfähigkeit und Gesellschaftsreife, im Folgenden aus, ebenfalls in Bezug auf die Auslegeordnung und andere Dokumente.

    1. Die Konzepte «Wissenspropädeutik» und «Wissenschaftspropädeutik» wurden eingebracht. Beide sind sinnvoll, solange Wissenspropädeutik nicht auf eine blosse Aneignung von Wissen oder ein Know how beschränkt ist, sondern ein wirkliches Verstehen des Know why. In diesem Zusammenhang war auch die Rede von Theory of Knowledge. Maturand/-innen sollen ihr (Selbst-)Reflexions- und Urteilsvermögen schärfen, die Begründetheit (oder eben Unbegründetheit) von Aussagen einsehen, Modelle beurteilen, Grenzen von Wissen erkennen – was anderswo «critical thinking» genannt wird und sicherlich erweiterte basale Kompetenzen im Argumentativen erfordert. Selbstverständlich fällt der Maturitätsarbeit in der Wissenschaftspropädeutik eine besondere Rolle zu (diese muss allerdings konzeptuell vorbereitet werden). – Doch all die genannten Konzepte können nicht allein in einzelnen Wahl-Fächern, sondern müssen allgemein, von allen Maturand/-innen, angeeignet werden können.
    2. Die «vertiefte Gesellschaftsreife», die Verantwortung in Gesellschaft und Politik, auch politische Bildung im Sinne der Förderung von Zivilgesellschaft («citoyenneté») oder auch die «Nachhaltigkeit», sind nicht allein durch Wissen zu erlangen. Es bedarf dazu einer vertieften Reflexion von Werten und deren Begründungen, nur schon des Begriffs der Verantwortung selbst oder der Bedingungen von Entscheidungen: und damit einer spezifisch ethischen Reflexion.

    Ein Fach, Ursprung und Ressource

    Was sich all dieser Aufgaben annimmt und sie allererst überhaupt erst einmal entworfen hat, vor 2500 Jahren, und sie weitertreibt bis heute, ist bisher nicht MAR-Fach (sondern allenfalls kantonal obligatorisches Fach).

    Es wäre, wie anfangs gesagt, nicht allein damit getan, dass nun dafür ein neues Fach eingeführt würde – und sei dies Philosophie als Grundlagenfach, wie es der Ruf nach all diesen genuin philosophischen Fertigkeiten in der Auslegeordnung eigentlich nahelegt. Zu überlegen sind auch neue Formen wie das Transdisziplinäre, dessen Förderung ebenfalls anvisiert wurde. Methodische Kompetenzen sind primär fachlich, kritische Reflexion und Methodologie sind fächerübergreifend; sie sind zugleich als Logik, Wissenschafts- oder Erkenntnis-Theorie und Ethik auch Philosophie-spezifisch.

    Wenn all die genannten Kompetenzen ernsthaft gefördert werden sollen, dann muss der Philosophie darin eine besondere Rolle zukommen.

    Eine notwendige Entwicklung

    • Wir wünschen uns in der «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» den Versuch einer grossen Synthese, die alle die genannten Anliegen zusammenfasst. (Es mag sein, dass diese Synthese mehr Zeit bräuchte.)
    • Wir wünschen uns einen öffentlichen Diskurs über eine – gesamtheitliche – Weiterentwicklung. Es darf nicht sein, dass Lobbys über die zukünftige Maturität entscheiden.
    • Wir wünschen uns, dass das Gymnasium insgesamt «philosophischer» werde.

     


     

    P.S. Die Verfassung dieses «offenen Briefs» wurde an der Fachkonferenz HSGYM Philosophie vom 19. 11. 2020 beschlossen. «HSGYM» ist ein kantonalzürcherisches Projekt mit dem Ziel, den Übergang vom Gymnasium an die Hochschulen zu verbessern. Organisiert ist HSGYM in einer kantonalen Projektleitung und sogenannten Fachkonferenzen (von Mittelschul-Lehrpersonen und Hochschul-Dozierenden), wie eben die Fachkonferenz Philosophie.