Nomadisierende Heimat

Und so entsteht möglicherweise der Begriff einer nomadisierenden Heimat, die vielen von uns noch immer fremdartig anmuten mag.

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    Da Österreich, wo ich geboren bin und lebe und vermutlich auch sterben werde, gerade eine Reihe von Wahlen hinter sich hat, in denen der Begriff „Heimat“ heftig plakatiert wurde, verursacht dieser Begriff bei mir ein hässliches, Tinnitus-artiges Geräusch. Das ist meiner Heimat, Österreich, gegenüber ungerecht, und es entspricht auch nicht meinem üblichen Heimatgefühl, aber ich kann mir nicht helfen: Auf Wahlplakaten wird der Begriff, der doch ein Friedensbegriff sein sollte, zur Mobilisierung verwendet.

    Man verspricht dem Wahlvolk, dass man für den Fall, gewählt zu werden, die „Heimat“ gegen all jene verteidigen werde, die keine der Unsrigen sind. Im speziellen Fall ging und geht es natürlich gegen die Asylanten, die zu uns strömen und unsere Kultur mit ihren fremden Sitten und Gebräuchen bedrohen. Und dabei rückt die „Heimat“ gleich tüchtig nach rechts, nach dorthin, wo mit Menschen- und Bürgerrechten, geschweige denn mit den Tugenden menschlicher Solidarität, mit Caritas und Mitgefühl nicht lange gefackelt wird.

    Auf der anderen Seite ist es irgendwie zu blass, ja leblos, weil zu wenig bildhaft, sinnlich, geschichtsmächtig, die Heimat derart zu denken, wie der Sozialphilosoph Jürgen Habermas vorschlägt: Demnach wäre Heimat das Land der Verfassungspatrioten, also jener guten Bürgerinnen und Bürger, die sich unter dem Dach der obersten Prinzipien einer liberaldemokratischen Rechtsordnung zusammenfinden. Dem ist entgegenzuhalten: „Heimat“ im Vollsinn des Wortes sind, was immer sie sonst noch sein mögen, Nationen, die – zu Recht oder Unrecht (meist zu Unrecht) – auf ihre ruhmreiche Vergangenheit, ihre große Tradition zurückblicken, gar auf ein Menschheitserbe“ stolz sein können. Heimat ist, so gesehen, ein sakralpolitischer Geborgenheitsort, d.h. ganz und gar keine ungefährliche Kategorie.

    Da kann und darf Österreich mit seiner schändlichen Verstrickung in den Hitler-Faschismus nicht mitmachen. Deshalb neigen unsere Kulturinstitutionen dazu, das Erbe der habsburgischen K.-u-k. Tradition, also im Wesentlichen die Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie mit ihrer staatsmännischen Übermutter Maria Theresia, dem aufklärerisch gesinnten Josef II., der ungarnfreundlichen Kaiserin Elisabeth („Sisi“) und dem unselig-seligen Kaiser Franz Joseph zu verklären. Doch das mittlerweile kleine Österreich erstreckt sich vom Burgenland bis zu Tirol und Vorarlberg, also ländlichen und gebirgigen Regionen mit äußerst unterschiedlichen Mentalitäten; daher wird sich ein Heimatbegriff, der auf das großstädtische Wien mit seiner historistischen Ringstraße zugeschnitten ist, schwerlich als „umschließend“ bezeichnen dürfen.

    Was Heimat substanziell bedeutet, das erfahren die Millionen und Abermillionen, die emigrieren mussten und müssen, um zu überleben. Mir wurde von der Witwe des berühmten Medientheoretikers Vilém Flusser bei einem Rundgang durch ihre Geburtsstadt Prag Folgendes berichtet: Beide mussten als Kinder jüdischer Eltern vor den Nazis fliehen, über England nach Brasilien, um dort – und später auch wieder in Europa – unter fürchterlichem Heimweh zu leiden, viele Jahre lang, bis beide schließlich das Gefühl hatten, keiner Heimat mehr bedürftig zu sein und überall gleichermaßen leben zu können. Angesichts dieser erzwungenen Heimatlosigkeit fiel mir ein Wort von Peter Handke ein: „Wunschloses Unglück“.

    Aber das war vielleicht bloß die Reaktion eines österreichischen Stubenhockers. Denn angesichts einer mobilen und globalen Weltsituation, in welche die jungen Generationen hineinwachsen (und hoffentlich weiterhin hineinwachsen werden), „verflüssigt“ sich – um ein philosophisches Modewort zu verwenden – auch das Heimatgefühl. Man ist nicht mehr an einem einzigen Ort zuhause, dem Ort der Abstammung, der Geburt, des Familienclans oder einfach des Erwachsenenwerdens. Man sucht nicht mehr, mit Goethes Iphigenie gesprochen, „das Land der Griechen mit der Seele“. Um im Bild zu bleiben: In der fortgeschrittenen Moderne sind aus dem Land der Seele eher Lebensabschnittskontinente geworden, die da oder dort liegen mögen, wo einen das Leben, der Beruf oder die eigene Mobilitätslust eben hinführt.

    Und so entsteht möglicherweise der Begriff einer nomadisierenden Heimat, die vielen von uns noch immer fremdartig anmuten mag. Trotzdem passt jener Heimatbegriff am besten zur utopischen Vorstellung einer Menschheit, die durch alle Vielfalt hindurch ein- und dieselbe Gemeinschaft – Solidargemeinschaft im Denken, Handeln und Fühlen – geworden wäre.