Vertrauen als Gegenstand der Philosophie

Vertrauen ist ein Phänomen, das uns im Alltag auf Schritt und Tritt begegnet.

·

    In zahllosen Kontexten vertrauen wir anderen Personen, andere Personen setzen Vertrauen in uns, und wir können sowohl in unserem unmittelbaren Umfeld als auch in Nachrichten, Romanen oder TV-Serien Vertrauensverhältnisse verschiedenster Art beobachten. Dass Vertrauen in unserem Leben allgegenwärtig ist, merken wir allerdings oft erst dann, wenn es brüchig wird, wenn wir uns fragen, ob wir einer anderen Person überhaupt vertrauen sollten oder wenn ein Vertrauensbruch stattgefunden hat. So kann etwa ein Freund das Vertrauen, das wir in ihn gesetzt haben, enttäuschen, wenn er das Geheimnis ausplaudert, das wir ihm anvertraut haben; bei Verhandlungen über einen Waffenstillstand in einer militärischen Auseinandersetzung kann von Unterhändlern das gegenseitige Vertrauen beschworen werden; eine Wirtschaftskrise kann als Vertrauenskrise analysiert werden; ein Patient kann sich fragen, ob er seiner Hausärztin vertrauen und eine bestimmte Therapie beginnen sollte; ein Fussballspieler kann seinen Trainer bitten, Vertrauen in ihn zu setzen und ihn für das kommende Spiel aufzustellen. – Auf diese Weise liesse sich beliebig ausführlich fortfahren.

    Angesichts der Tatsache, dass Vertrauen eine wichtige Rolle in so vielen verschiedenen Bereichen unseres Lebens spielt, verwundert es kaum, dass es zum Gegenstand empirischer Disziplinen wie der Entwicklungspsychologie, der Politikwissenschaft, der Soziologie oder der Ökonomie wurde. Was kann aber die Philosophie im Hinblick auf dieses Phänomen leisten? Zunächst können PhilosophInnen begriffsklärende Arbeit leisten, indem sie darauf reflektieren, worum es sich ganz grundsätzlich bei Vertrauen handelt bzw. welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir überhaupt von Vertrauen reden können. Dabei können sie durchaus zu Ergebnissen gelangen, die dem alltäglichen Gebrauch des Wortes ‘Vertrauen’, aber auch der Verwendung dieses Terminus in den empirischen Wissenschaften zuwiderlaufen. Die Leistung der Philosophie besteht hier darin, Klarheit in unsere begrifflichen Schemata zu bringen, um Inkonsistenzen und Widersprüche in unseren wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Urteilen über Vertrauen zu verhindern.

    Was soll man sich aber unter einer philosophischen Klärung des Vertrauensbegriffs vorstellen? Zunächst kann etwa darauf hingewiesen werden, dass Vertrauen und Wissen einander ausschliessen. „Marie vertraut darauf, dass Laura am Mittwoch nach Bern kommen wird“ ist auf den ersten Blick ein vollkommen unproblematisches Urteil, das von einer aussenstehenden Person wie Peter gefällt werden kann. Die Situation sieht allerdings weit weniger unbedenklich aus, wenn wir uns vorstellen, dass Peter gleichzeitig das folgende Urteil fällt: „Marie weiss, dass Laura am Mittwoch nach Bern kommen wird, weil sie Laura hypnotisiert hat, und davon ausgehen kann, dass Laura alles tun wird, was sie ihr sagt.“ Sollte Peter beide Urteile gleichzeitig fällen, müssten wir schliessen, dass er nicht verstanden hat, wie der Begriff des Vertrauens funktioniert, und zwar weil er nicht verstanden hat, dass es für jemanden, der ganz sicher weiss, dass eine andere Person X tun wird, bereits völlig unmöglich ist, darauf zu vertrauen, dass diese Person X tun wird. Vertrauen impliziert ein gewisses Ausmass an epistemischer Unsicherheit auf Seiten der vertrauenden Person: Ich kann nicht darauf vertrauen, dass mich eine paralysierte Person nicht schlägt oder dass ein Neugeborenes meine Tagebücher nicht liest.

    Gleichzeitig scheint Vertrauen aber eine Rolle für uns zu spielen, die durchaus verwandt mit der Rolle ist, die Wissen in unserem Leben spielt. In Situationen, in denen wir darauf vertrauen, dass eine andere Person etwas tun wird, und von anderen gefragt werden, woher wir das wissen, neigen wir deshalb manchmal zu uneigentlichen Antworten wie „Ich weiss es einfach...“, die aber keinesfalls implizieren, dass wir im streng philosophischen Sinn über irgendeine Art von Wissen verfügen. Vertrauen scheint uns also gerade in Situationen, in denen wir – aus welchen Gründen auch immer – etwas nicht wissen, dennoch eine Art von Sicherheit zu verleihen. Gleichzeitig handelt es sich dabei aber nicht um völlig beliebige Kontexte, sondern ausschliesslich um Kontexte, die eine bestimmte praktische Relevanz für uns haben. Sollte eine Person ein Urteil wie „Marie vertraut darauf, dass Laura am Mittwoch nach Bern kommen wird, aber es ist ihr völlig egal, ob Laura nach Bern kommen wird“ fällen, würden wir wiederum schliessen müssen, dass diese Person nicht verstanden hat, was der Begriff des Vertrauens impliziert – in diesem Fall weil sie nicht verstanden hat, dass Vertrauen beinhaltet, dass das, worauf vertraut wird, der vertrauenden Person irgendwie wichtig ist.

    Mit all dem ist noch nicht besonders viel im Hinblick auf eine positive Bestimmung dessen, worum es sich bei Vertrauen überhaupt handelt, gewonnen. In einem nächsten Schritt lässt sich von philosophischer Warte aus auf eine Unterscheidung aufmerksam machen, die in den vergangenen Jahren besonders intensiv von PhilosophInnen diskutiert wurde. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Vertrauen und blossem Sich-Verlassen.1 Letztere Einstellung kann ich auch im Hinblick auf unbelebte Gegenstände einnehmen, etwa wenn ich mich (bloss) darauf verlasse, dass mein Computer funktionieren wird, solange ich an einem Aufsatz schreibe. Auf Personen kann ich mich ebenfalls (bloss) verlassen, etwa wenn ich davon ausgehe, dass jemand etwas aus einer festen Charakterdisposition machen wird, oder weil er Angst hat, oder weil es in dem egoistischen Eigeninteresse dieser Person liegt. Wenn ich beispielsweise davon ausgehe, dass Peter mir beim Renovieren helfen wird, weil ich weiss, dass er mich für einen brutalen Mafiaboss hält und Angst hat, meine Bitte auszuschlagen, dann handelt es sich dabei nicht um einen Fall, in dem ich Peter vertraue, sondern um einen Fall, in dem ich mich lediglich darauf verlasse, dass er mir beim Renovieren helfen wird. Beim Vertrauen ist auf eine spezifische Weise „mehr im Spiel“, und das sieht man daran, dass eine Person, deren Vertrauen verletzt wird, nicht nur darüber enttäuscht ist, dass etwas nicht so geklappt hat, wie sie es sich vorgestellt hat, sondern sich auf eine tiefere Weise von der Person, der sie vertraut hat, betrogen fühlt.

    Die grosse Aufgabe für PhilosophInnen, die sich mit dem Begriff des Vertrauens beschäftigen, besteht darin, eine Begriffsbestimmung von Vertrauen vorzulegen, die diesem Unterschied zwischen Vertrauen und blossem Sich-Verlassen gerecht wird. Versuche dazu erfolgen standardmässig, indem diskutiert wird, ob Vertrauen eine emotionale Einstellung oder eher ein kognitiver mentaler Zustand wie eine Überzeugung ist. Wie solche Positionen im Einzelnen beschaffen sind und inwiefern sie überzeugend sind, kann an dieser Stelle nicht angedeutet werden. Es ist allerdings interessant, abschliessend darauf zu reflektieren, warum eine Antwort auf die Frage danach, was Vertrauen ist, wichtig sein könnte. Zum einen liesse sich dadurch, wie bereits angemerkt, unsere alltägliche Verwendung des Vertrauensvokabulars auf eine begrifflich klare Grundlage stellen, von der aus besser darüber geurteilt werden könnte, bei welchen Phänomenen es sich überhaupt um Vertrauen handelt. Zum anderen stellt eine Antwort auf die Frage danach, um was für einen mentalen Zustand es sich bei Vertrauen handelt, eine zentrale Voraussetzung für eine weitere Frage dar – die Frage nach Kriterien für die Angemessenheit bzw. Rechtfertigung von Vertrauen. Auch im Alltag machen wir die Unterscheidung zwischen angemessenem und irrationalem bzw. blindem Vertrauen. Gerade weil Vertrauen uns in so vielen empfindlichen Bereichen unseres Lebens betrifft, wäre es wichtig, zu wissen, unter welchen Bedingungen Vertrauen angemessen ist. Diese normative Frage lässt sich nicht von der Warte empirischer Disziplinen beantworten – hier ist die Philosophie gefragt.


     1 Vgl. zu diesem Unterschied den für die philosophische Debatte sehr wichtigen Text von Annette Baier: ‘Trust and Antitrust’, in: Ethics 96 (1986): 231–260.