Migration und politische Philosophie

Die Aus- und Einwanderung von Menschen aus ihren eigenen Staaten in andere Gemeinwesen stellt die Politische Philosophie vor große Probleme.

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    Die Aus- und Einwanderung von Menschen aus ihren eigenen Staaten in andere Gemeinwesen stellt die Politische Philosophie vor große Probleme. Diese drehen sich u.a. um die Plausibilität eines Emigrations- und Immigrationsrechts, um legitime Interessen eines Nationalstaates oder um das Recht auf demokratische Selbstbestimmung.

    Einige Analysen sind den Beweggründen von Immigrierten gewidmet. Auf diese Weise erhoffen sich Philosophen, ein genaueres Bild über die Freiwilligkeit der Immigration zu bekommen. In der Regel, so die Annahme, immigrieren Studierende, Auszubildende, Saisonarbeiter, (hoch-) qualifizierte Arbeitskräfte, Familienangehörige etc. freiwillig. Sie entschließen sich aus freien Stücken dazu, ihrem eigenen Staat den Rücken zu kehren. Andere hingegen müssen fliehen, weil ihr Leib und Leben aufgrund von politischer Verfolgung, Krieg oder Naturkatastrophen akut gefährdet sind. Mit dieser Differenzierung versuchen Philosophen, die Dringlichkeit der Aufnahme bzw. den Verpflichtungsgrad des aufnehmenden Gemeinwesens genau zu bestimmen. Letztgenannte Migrationsgründe gelten als schwerwiegender und daher dringlicher.

    Auch Autoren, die sich für eine Aufrechterhaltung und Fortführung einer tradierten (liberalen) Kultur stark machen, bedienen sich diese Unterscheidung (vgl. Kymlicka 1995: 95). Bürger, argumentieren sie, haben ein Recht auf die eigene Kultur. Dieses ergibt sich aus der Staatsbürgerschaft und verpflichtet den Staat dazu, Rahmenbedingungen für die Ausübung dieser bestimmten Kultur herzustellen. Mit einer freiwilligen Immigration jedoch verzichtet man auf dieses Recht. Der aufnehmende Staat ist ceteris paribus durch keine entsprechende Pflicht gebunden. Infolgedessen kann er von Immigrierten berechtigterweise eine Integration in seine eigene (liberale) Kultur fordern. Bei Flüchtlingen hingegen soll dieser Staat je nach konkretem Fluchtgrund bei der Aufrechterhaltung und Pflege der Herkunftskultur helfen.

    Gegen diese Argumentation lässt sich einwenden, dass jeder liberale Staat auch dem Ideal gleicher Freiheit verpflichtet ist. Anzunehmen ist, dass sich diese Freiheit am besten verwirklichen lässt, wenn jeder einen sicheren Zugang zu Lebenschancen hat. Hierbei kommt der Bewegungsfreiheit eine erhebliche Rolle zu. Können sich Menschen frei bewegen, so können sie leichter an lebenserhaltende, und für die Sicherung gleicher Lebenschancen unverzichtbare, Ressourcen kommen. Durch ihre Bewegungsfreiheit könnten sie den Einfluss zufälliger Faktoren auf Lebenschancen wie Geburt in einen bestimmten Staat, Ethnie, Geschlecht usw. reduzieren. In dieser Hinsicht spricht nichts gegen eine Emigration, wenn die Aussicht besteht, die eigene Lebenssituation anderswo zu verbessern.

    Darüber hinaus unterstreicht Will Kymlickas Forderung, dass ein liberaler Staat Platz für unterschiedliche Konzeptionen des guten Lebens schaffen muss. Innerhalb seiner Grenzen müssen gleichgesinnte Bürger zusammenkommen können, um sich zu entfalten. Die auf diese Weise entstandenen Gruppierungen müssen ihrerseits Mitglieder ungehindert austreten lassen. Betrachtet aus einer globalen Perspektive aber sind gewisse Parallelen nicht zu übersehen: Auch ein liberaler Staat kann weder einen Austritt aus seiner staatlichen Mitgliedschaft verhindern, noch kann er Ersuche von Menschen, die seine Mitglieder werden möchten, pauschal zurückweisen.

    Genau an diesem Punkt setzt die Kritik von Michael Walzer an. Nach Walzer sind Emigration und Immigration „moralisch asymmetrisch“ (1983: 40). Ein Recht auf Auswanderung korreliert moralisch gesehen nicht mit einem Recht auf Aufnahme. Analog zu einem Verein können Staaten den Weggang ihrer Bürger nicht verhindern, da sie sie nicht zwingen können, dazuzugehören. Sie dürfen aber sehr wohl bestimmen, wie ihre Mitgliedschaft zusammengesetzt werden soll. Zu diesem Zweck steht es ihnen durchaus zu, Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder festzulegen.

    Spätestens an dieser Stelle dürfte einem die Diskrepanz zwischen dem Emigrations- und dem Immigrationsrecht auffallen. In der Politischen Philosophie wird anscheinend das Auswanderungsrecht (sowohl aus Gruppierungen wie aus Staaten) entweder als sehr gewichtig oder gar als ein Menschenrecht eingestuft; dem Einwanderungsrecht hingegen wird eine ähnliche Bedeutung nicht beigemessen. Das Emigrationsrecht generiert zumindest in diesen Darbietungen keine allgemeine Pflicht zur Aufnahme, die ihrerseits dann zu einem Immigrationsrecht führen könnte.

    Positionen, die auf liberalen Werten wie Freiheit, Gleichheit oder Menschlichkeit beruhend für ‚offene‘ bzw. ‚offenere‘ Grenzen‘ plädieren, sind verbreitet. Ein allgemeines Menschenrecht auf Immigration glänzt jedoch durch seine Abwesenheit, auch wenn die Bewegungsfreiheit als der zentrale Wert liberaler Theorie ausgemacht wird (Kukathas 2005). In erster Linie hat dies mit Begründungsschwierigkeiten zu tun. Will man mit einem Menschenrecht auf Immigration lediglich darauf aufmerksam machen, wie willkürlich es ist, die Bewegungsfreiheit innerhalb von Staatsgrenzen einzuschränken? Oder soll aufbauend auf dieser Freiheit ein separates Menschenrecht, ein Menschenrecht auf Einwanderung, plausibilisiert werden? Wie soll man außerdem seine Pflichtenträger genau bestimmen? Man kann den von Immigrierten aufgesuchten Staat nicht kurzerhand als den Rechtsadressaten bzw. Pflichtenträger ausmachen, wenn besagter Staat nicht einwilligt bzw. eingewilligt hat. Auch die genaue Bestimmung des Pflichtenumfanges ist schwierig. Verpflichtet dieses Menschenrecht Pflichtenträger lediglich dazu, Handlungen zu unterlassen, welche eine Einwanderung verhindern könnten (Grenzkontrollen etwa)? Oder ergeben sich auch aktivere Maßnahmen aus diesem Recht? Doch je nach Maßnahme müssten eventuelle Gründe, welche die Aufnahmegesellschaft vor Ort gegen die Immigration vorbringen würde, außer Kraft gesetzt werden. Demnach könnte bzw. müsste die Einwanderung auch gegen den Willen der Menschen vor Ort durchgesetzt werden. Dies wirkt kontraintuitiv.

    Kritiker monieren, dass das Gros der Ansätze auf diesem Gebiet innerhalb des vom nationalstaatlichen Denken abgesteckten Rahmens verbleibt. Dadurch geriert Immigration häufig zu einem ‚Problem‘, welches die vermeintliche homogene und friedliche nationalstaatliche Gemeinschaft gefährdet. Diese Sicht verkennt aber zweierlei: die globalen Interdependenzen heutiger Staaten und die durch die Migration verursachten Veränderungen in der Zusammensetzung heutiger, pluralistischer Gesellschaften. Daher ist es an der Zeit, dieses Denken kritisch zu durchleuchten.

     

     


    Literatur

    C. Kukathas, „The Case for Open Immigration“, in A. Cohen/ Wellman (Hg.), Contemporary Debates in Applied Ethics, Malden Mass. 2005, S. 207-220.

    W. Kymlicka, Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford etc. 1995.

    M. Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983 [dt. Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/New York 1992].