Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit: In dubio pro reo

Die internationale Entwicklungszusammenarbeit hat in ihrer mitunter unrühmlichen Geschichte bereits eine Vielzahl von Paradigmenwechseln durchlaufen und war und ist somit permanentes Objekt ökonomischer, politischer, technologischer und normativer Diskussionen.

·

    Die internationale Entwicklungszusammenarbeit hat in ihrer mitunter unrühmlichen Geschichte bereits eine Vielzahl von Paradigmenwechseln durchlaufen und war und ist somit permanentes Objekt ökonomischer, politischer, technologischer und normativer Diskussionen. Alle diese Bereiche müssen in den Überlegungen zur Zukunft einer effizienten Entwicklungszusammenarbeit mittels neuer innovativer Ideen und kreativer Ansätze immer wieder neu gedacht werden, um die eigentliche Zielstellung dieser besonderen Form der internationalen Kooperation nicht aus den Augen zu verlieren.

    Die an dieser Stelle dargelegten Ausführungen beschäftigen sich insbesondere mit den normativen Bedingungen einer effizienten internationalen Entwicklungszusammenarbeit, die gemäß den eigenen Ansprüchen einige der wesentlichen Zukunftsfragen der Menschheit zu adressieren versucht. Themenfelder wie Umweltschutz, Gerechtigkeit & Fairness in internationalen Handelsbeziehungen, absolute Armut, Zugang zu Nahrung, Unterkunft, Bildung und Kultur werden dabei in der Regel im Rahmen spezifischer Interventionsprojekte mehr oder weniger systematisch diskutiert, beforscht und projektiert. Es herrscht dabei im operativen Alltag ein Primat ökonomischer, politischer und technologischer Ansätze vor, die allerdings ohne eine systematische Analyse und Integration normativer Zielsetzungen in isolierter Form nicht nachhaltig zielführend sein werden.

    Der in diesem Beitrag zugrunde gelegte Gesellschaftsbegriff ist dabei theoretisch offen und in vielen Bereichen unterbestimmt, bzw. in konkreten Anwendungskontexten notwendigerweise zu spezifizieren. Er bezeichnet eine Gruppe von Individuen, die ihre Handlungen und Unterlassungen auf Basis gemeinsamer Regeln und sozialer Institutionen mittels politisch konstituierter Staatlichkeit koordinieren. Die Einflussrelation zwischen Individuen und den in ihrem Zusammenleben wirkenden Regeln und sozialen Institutionen ist reziprok, da die Entwicklung des Individuums von den es umgebenden gesellschaftlichen Strukturen im Rahmen seiner Sozialisation abhängig ist, diese Strukturen aber ebenfalls durch die sie gestaltenden und tragenden Individuen konstituiert, adaptiert und aktiv aufrecht erhalten werden.

    Gesellschaftliche Entwicklung bedeutet in diesem Sinne die Entwicklung der die Gesellschaft konstituierenden Individuen durch die Anpassung der sie beeinflussenden sozialen Institutionen. Eine Gesellschaft entwickelt sich, wenn sich die in ihr lebenden Individuen entwickeln können und je besser die sie umgebenden sozialen Institutionen diese Entwicklung befördern, desto höher ist der gesellschaftliche Entwicklungsstand. Adressat der internationalen Entwicklungszusammenarbeit sind ausgehend von dieser Konzeption die sozialen Institutionen sowie die sie prägende internationale globale Struktur. Die Individuen, um deren Entwicklung es eigentlich geht werden, zumindest in effizienten Konzeptionen, nur in seltenen Fällen als Direktempfänger adressiert, da die oben skizzierte Reziprozität individuelle Erfolge im Sinne der angestrebten Nachhaltigkeit oftmals negiert. Die in der jüngsten Zeit sehr erfolgreichen direkten monetären Zuwendungsstrategien an bestimmte Zielgruppen (etwa Frauen) sind in dieser Lesart eher Verlegenheitslösungen, die bestehende konzeptionelle und organisatorische Defizite verschiedener Ansätze umgehen, um überhaupt zeitnah bestimmte Unterstützungsleistungen in Notkontexten leisten zu können. Sie sind in der Regel effektiv, aber bis auf wenige Ausnahmen nur bedingt effizient.

    Gemäß diesem individualistischen Zugang beginnt auch die Analyse der normativen Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklung mit der Ontogenese der Moralität, um die reziproke Entwicklung menschlicher Moralität eingebettet in soziale Beziehungen skizzieren zu können. Dieser Weg führt von den ersten Stufenmodellen zur kognitiven Entwicklung Jean Piagets (Piaget, 1972, 1973) und den zugehörigen Erweiterungen Lawrence Kohlbergs (Kohlberg, 1974, 1976, 1996) über die „intuitive primacy“ Prinzipien (Haidt, 2007; Zajonc, 1980) zu den ethischen Dilemmata der philosophischen Ethik (Singer, 1972, 1994; Unger, 1996) samt deren experimenteller Aufarbeitung seitens der Moralpsychologie (Cushman & Greene, 2011; Greene, 2003; Lind, 2008). Durch eine basale Synthese dieser verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze zeichnet sich ein alle Menschen grundlegend verbindendes Moralverständnis ab, dass dabei zwar notwendigerweise einen hohen Abstraktionsgrad aufweist, dadurch allerdings nicht an Bedeutung verliert.

    Der dieser Herangehensweise entsprechende Entwicklungsbegriff ist dadurch definiert, dass unter Entwicklung nicht die Konstruktion oder Erfindung von etwas Neuem verstanden wird, sondern dass sich bereits vorhandene Grundanlagen entwickeln, deren individueller Entwicklungspfad zwar stets einzigartig ist, deren Ursprung aber zugleich übereinstimmt. Dieser letztlich an Kant und Leibnitz orientierte intransitive und aktive Entwicklungsbegriff stellt somit die Verbindung zwischen der Individualität der Menschen und ihren Entwicklungsperspektiven her, indem er die Naturanlagen jedes Menschen zwar als auf ihre tatsächliche Entfaltung hin ausgerichtete Anlagen beschreibt, gleichzeitig aber ihre tatsächliche Entwicklung als abhängig von der individuellen Tätigkeit spezifizieren kann.

    Die primäre Aufgabe einer normativ konstituierten Entwicklungszusammenarbeit besteht also nicht darin entsprechende Entwicklungsprozesse zu initiieren oder mittels verschiedener Impulse steuern zu wollen, sondern darin Entwicklungshindernisse zu reduzieren und entsprechende Hemmnisse abzubauen.

    Basierend auf dem Prinzip der Selbstbestimmung (vgl. Gerhardt, 1999) wird die Autonomie als basale Kategorie gesellschaftlicher Entwicklung also eine besondere Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit der Zukunft einnehmen müssen, die wiederum die kooperative Partizipation (vgl. Gerhardt, 2007; Nida-Rümelin, 1999) als politische Konsequenz nach sich zieht.

    Die Entwicklungszusammenarbeit der Zukunft wird entsprechend zweierlei normative Richtungen integrieren müssen. Die normative Frage bzw. Aufgabe, die sich als inhaltliche Problematik stellt (z. B. Umweltschutz, absolute Armut, Gerechtigkeit internationaler Handelsbeziehungen usw.) und die Herausforderung, die sich aus der Rolle normativer Regeln bei der gesellschaftlichen Entwicklung für die internationale Entwicklungszusammenarbeit selbst ergibt.

    Neben den hierfür formulierten Prinzipien der Wohltätigkeit (vgl. Singer, 1972; Unger, 1996) oder distributiven Gerechtigkeit (vgl. Beitz, 1975) werden insbesondere die Prinzipien der Schadensvermeidung (vgl. Barry & Pogge, 2005; Pogge, 2001) hier zielführend sein, denn wenn eine zukünftige Entwicklungszusammenarbeit die oben skizzierten normativen Grundlagen und Erkenntnisse der Ontogenese der Moralität tatsächlich berücksichtigt, wird ein weiterer Paradigmenwechsel unvermeidbar sein.

    Hinsichtlich der internationalen Sicherheitsarchitektur, der globalen Ressourcenallokation, des Umweltschutzes etc. bestehen vielfältige und oftmals komplexe Strukturen internationaler Kooperation. In der Entwicklungszusammenarbeit sind aber (oder sollten vielmehr) primär die Entwicklungsinteressen der am meisten benachteiligten Individuum im Fokus der gemeinsamen Arbeit stehen. Dazu kann es sinnvoll sein Infrastrukturmaßnahmen in den unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens aufzubauen (Verkehr, Wasser, Bildung, Nahrungsmittel, Gesundheitsversorgung etc.) und diese im Sinne des capacity buildings derart aufzubauen, dass die involvierten Individuen und administrativen/staatlichen Strukturen nicht nur beteiligt sind, sondern zeitgleich entsprechende Handlungs- und Steuerungskompetenzen aufbauen, die Persistenz und Multiplikation sicherstellen respektive ermöglichen. Vielfältige Konzeptionen der Partizipation der sogenannten stakeholder sind dabei im Laufe der Zusammenarbeit entwickelt, erprobt und teilweise zu Standards erhoben worden, die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Helfern und Hilfsempfängern blieb davon aber stets unberührt.

    Die normativen Überlegungen des ersten Abschnittes zu berücksichtigen bedeutet nun nicht mehr nur Partizipation und Eigenverantwortung innerhalb dieser Strukturen zu fördern, sondern das System der internationalen Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich zu überdenken, denn die Analyse der Ontogenese der Moralität zeigt, dass jede menschliche Gesellschaft ein genuines Entwicklungsinteresse hat und dieses auch im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv verfolgen wird.

    Daher wäre innerhalb der internationalen EZ ein Handeln durch Unterlassen von Schädigungen bzw. durch Abbau von strukturell bedingten Benachteiligungen ein adäquateres Vorgehen, als kompensatorische Aktivitäten. Weniger ist in diesem Falle also deutlich mehr.

    Bedeutet ein solches Fazit nun, dass die Bemühungen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit im Optimalfall einfach einzustellen sind? Die Antwort auf diese Frage findet sich bereits im Titel dieses Beitrages: Nein, das bedeutet es nicht. Auch wenn viele, insbesondere wirtschaftspolitische Initiativen zur Sicherstellung der politischen und ökonomischen Interessen der jeweiligen Gebenationen oftmals mehr Schaden als Nutzen brachten, gilt auch hier der Grundsatz: In dubio pro reo. Eine normativ reflektierte Konzeption der internationalen Entwicklungszusammenarbeit kann, insofern sie ihre genuinen Ziele ernsthaft vertritt, im Rahmen einer globalen Strukturpolitik wichtige Impulse setzen und wäre in seriöser Ausrichtung und unabhängig von nationalen Politikinteressen ein probates Mittel zur Sicherstellung der menschlichen Entwicklung im Rahmen internationaler Kooperation.

     


    Barry, C., & Pogge, T. W. M. (Hrsg.). (2005). Global institutions and responsibilities: achieving global justice. Malden, MA ; Oxford: Blackwell.

    Beitz, C. R. (1975). Justice and international relations. Philosophy & Public Affairs, 4(4), 360–389.

    Cushman, F., & Greene, J. D. (2011). Finding faults: How moral dilemmas illuminate cognitive structure. Social neuroscience. http://doi.org/10.1080/17470919.2011.614000

    Gerhardt, V. (1999). Selbstbestimmung : das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam.

    Gerhardt, V. (2007). Partizipation : das Prinzip der Politik. München: Beck.

    Greene, J. (2003). From neural „is“ to moral „ought“: what are the moral implications of neuroscientific moral psychology? Nature reviews. Neuroscience, 4(10), 846–849. http://doi.org/10.1038/nrn1224

    Haidt, J. (2007). The new synthesis in moral psychology. Science (New York, N.Y.), 316(5827), 998–1002. http://doi.org/10.1126/science.1137651

    Kohlberg, L. (1974). Zur kognitiven Entwicklung des Kindes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

    Kohlberg, L. (1976). Moral stages and moralization: The cognitive-developmental approach. New York/Chicago: Holt, Rineheart and Winston.

    Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

    Lind, G. (2008). The Meaning and Measurement of Moral Judgement Competence. In D. Fasko & W. Willis, Contemporary Philosophical and Psychological Perspectives on Moral Development and Education (S. 185–220). Creskill, New York: Hampton Press.

    Nida-Rümelin, J. (1999). Demokratie als Kooperation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

    Piaget, J. (1972). Urteil und Denkprozess des Kindes. Düsseldorf: Schwann.

    Piaget, J. (1973). Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Pogge, T. (2001). Priorities of Global Justice. Metaphilosophy, 32(1–2), 6–24. http://doi.org/10.1111/1467-9973.00172

    Singer, P. (1972). Famine, Affluence, and Morality. Philosophy and Public Affairs, (vol.1, 1 [revised edition]), 229–243.

    Singer, P. (1994). Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam.

    Unger, P. (1996). Living High and Letting Die. Oxford University Press. Abgerufen von http://www.oxfordscholarship.com/view/10.1093/0195108590.001.0001/acprof-9780195108590

    Zajonc, R. B. (1980). Feeling and thinking: Preferences need no inferences. American Psychologist, 35(2), 151–175. http://doi.org/10.1037/0003-066X.35.2.151