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Nur Schall und Rauch? Über Sprache, Machtverhältnisse und Philosophie

Über Sprache, Machtverhältnisse und Philosophie

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    Unter dem Titel „Männerwelten“ präsentierten die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf vor wenigen Monaten einen etwa 15-minütigen Fernsehbeitrag zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen. In dem Beitrag, der zur Hauptsendezeit auf Pro 7 ausgestrahlt wurde, schildern prominente und nicht-prominente Frauen ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt – online wie offline. Das Video wurde seit seiner Erstausstrahlung im Mai viele Millionen Mal angeschaut und geteilt und vielfach lobend kommentiert.i Vereinzelte Stimmen in den Diskussionsforen größerer Onlinemedien mahnten angesichts des Beitrags aber auch an, dass die Grenze zwischen Worten und Taten nicht verschwimmen dürfe. Solche Kommentare legen nahe, dass – bei aller berechtigten Empörung über die entsprechenden Phänomene – das Versenden obszöner Bilder oder das Aussprechen (oder Ausschreiben) von sexualisierten Beleidigungen oder Vergewaltigungsandrohungen etwas vom Handeln Grundverschiedenes sei; getreu dem englischen Kindervers: „Sticks and stones may break my bones / But words will never hurt me.“

    Kommentare wie diese haben nicht nur einen unangenehmen Beigeschmack von Relativierung, sondern sind auch sachlich falsch. Selbstverständlich ist eine Drohung aussprechen nicht dasselbe wie eine Drohung wahrmachen. Und sicherlich verletzt eine Beleidigung ihr Opfer nicht in demselben Sinne wie der sprichwörtliche Schlag ins Gesicht. Aber dass wir handeln, wenn wir sprechen oder schreiben, und dass unsere Sprachhandlungen oftmals handfeste Konsequenzen haben, ist heute – mehr als fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung von John L. Austins sprechakttheoretischem Grundlagenwerk How to Do Things with Wordsii – ein sprachphilosophischer Gemeinplatz.

    Wie wir mit- und übereinander reden ist keine Nebensache. Sich die (geringe) Mühe zu machen, die bevorzugte Eigenbezeichnung einer Gruppe oder das bevorzugte Pronomen einer Person zu verwenden ist ebenso ein Zeichen des Respekts wie seinen Mitmenschen nicht die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Und die verbale Beleidigung eines Gegenübers ist nicht nur eine Sache mangelnden Anstands, sondern ein Straftatbestand nach § 185 des deutschen StGB. Auch wie wir über die Welt reden, spielt eine Rolle: Die eigene Erfahrung angemessen verbalisieren zu können, in der Lage zu sein, „dem Kind einen Namen zu geben“ – das ist zentral für unser Selbst- und Weltverständnis.

    Die Philosophin Miranda Fricker macht darauf aufmerksam, dass das Fehlen gemeinschaftlicher sprachlicher Ressourcen manchmal einer Ungerechtigkeit gleichkommt. Dort, wo eigentlich ein Wort die charakteristische soziale Erfahrung einer bestimmten – im relevanten Kontext marginalisierten – Gruppe auf den Punkt bringen sollte, klafft eine „hermeneutische Lücke“. Die soziale Erfahrung bleibt damit diffus, sie wird weder von den Betroffenen noch von anderen Mitgliedern der Gesellschaft in ausreichendem Maße verstanden. Frickers Beispiel für eine solche hermeneutische Lücke ist das Fehlen des Terminus sexual harrassment: Bevor der Ausdruck in den 1970er Jahren von Aktivist*innen und Frauenrechtler*innen popularisiert wurde, konnten Betroffene sexueller Belästigung ihre Erfahrungen oft nur unzureichend beschreiben. Hermeneutische Lücken bergen die Gefahr der Bagatellisierung sozialer Erfahrungen von Angehörigen marginalisierter Gruppen durch solche mit mehr Deutungsmacht: Statt von sexueller Belästigung ist dann von Flirten die Rede, oder misogyne Äußerungen werden zu locker-room talk verklärt.iii

    Kann die Philosophie dazu beitragen, hermeneutische Ungerechtigkeiten zu verringern? Ich glaube schon. Unter dem Stichwort conceptual engineering werden aktuell verschiedene Formen philosophischer Begriffsarbeit kontrovers diskutiert.iv Im Zentrum der metaphilosophischen Debatte stehen Versuche, bestehende Begriffe zu verbessern – etwa den Begriff der Ehe oder die Begriffe Mann und Frau. In einem weiteren Sinne umfasst conceptual engineering aber auch die Schöpfung neuer Begriffe (und der ihnen entsprechenden sprachlichen Ausdrücke): Supervenienz und Implikatur sind zwei Beispiele aus der Metaphysik und der Sprachphilosophie, die David Chalmers anführt.v

    Kate Manne plädiert in ihrer 2018 erschienenen Monografie für ein re-engineering – eine Verbesserung – des Begriffs der Misogynie und für dessen scharfe Abgrenzung vom Begriff des Sexismus.vi Weder besteht Misogynie Manne zufolge in der pauschalen Ablehnung aller Frauen, noch ist sie gleichzusetzen mit dem pathologischen Frauenhass Einzelner. Misogynie ist in erster Linie überhaupt keine Einstellung einzelner Personen, sondern ein strukturelles Phänomen. Sie ist weniger einer Frage individueller Gefühle als eine Begleiterscheinung bestehender repressiver sozialer Normen und trifft deshalb manche Frauen häufiger als andere: nämlich genau jene, die als Bedrohung des patriarchalen status quo wahrgenommen werden. Misogyne Feindseligkeiten – von Spott, Herabsetzungen oder Beschämungen bis hin zu Androhungen von Gewalt – sind laut Manne eine Form der sozialen Kontrolle, welche „böse“ (d.h. nicht-normkonforme) von „guten“ (d.h. normkonformen) Frauen unterscheidet und erstere sanktioniert. Die Ausübenden sind sich häufig keiner Schuld bewusst, sondern wähnen sich in ihren Handlungen durch existierende soziale Normen legitimiert. Sexismus liefert den theoretischen Überbau zur „Vollstreckungsgewalt“ der Misogynie: Er umfasst eine Menge von Überzeugungen, welche genau jene patriarchalischen Normen und Erwartungen rechtfertigen sollen, auf deren Einhaltung misogyne Akte pochen. Ein Beispiel: Die pseudowissenschaftliche These, Frauen seien von Natur aus in erster Linie für Pflegearbeit geeignet und deshalb in der klassischen Versorgerehe am zufriedensten, ist sexistisch. Die Beleidigung einer berufstätigen Mutter als „Rabenmutter“ ist misogyn.vii

    In derselben Monografie prägt Manne aber auch einen neuen Ausdruck, der das „oft übersehene Spiegelbild der Misogynie“ auf den Begriff bringen soll: himpathy, ein Kofferwort aus „him“ (engl. „er“) und „sympathy“ (engl. „Sympathie“). Gemeint ist das oft unangemessen große Wohlwollen, das männlichen Ausübenden sexualisierter Gewalt von (Teilen) der Gesellschaft entgegengebracht wird. Damit einher geht eine Tendenz, sexualisierte Gewalt gegen Frauen zu entschuldigen, etwa indem man dem Opfer eine Mitschuld unterstellt – ein Phänomen, das auch unter dem Schlagwort victim blaming firmiert.

    Inwiefern fördern Vorschläge zur Begriffsschärfung oder -neuschöpfung, wie sie etwa von Manne vorgebracht werden, nun aber das Verständnis charakteristischer sozialer Erfahrungen? Zum Beispiel, indem sie überhaupt erst ermöglichen, einige der im Fernsehbeitrag „Männerwelten“ präsentierten Phänomene als Ausdruck eines strukturellen Problems – Misogynie – zu interpretieren. Und das ist unter anderem deshalb wichtig, weil strukturelle Probleme andere Lösungen erfordern als individuelle.


    i Vgl. z.B. Blatz, Anika & Von Blazekovic, Aurelie: „Muss man gesehen haben“. Süddeutsche Zeitung Online, 15.05.2020. Online verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/medien/joko-und-klaas-pro-sieben-maennerwelten-1.4909060. Einige Kommentator*innen äußerten sich auch kritisch, etwa zur Auswahl der Sprecher*innen und zur Kooperation mit der Organisation Terres des Femmes.

    ii Austin, John Langshaw: How To Do Things with Words. [2. Ausgabe, hrsg. von M. Sbisà und J.O. Urmson] Oxford/New York: Oxford University Press, 1975.

    iii Fricker, Miranda: Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing. Oxford/New York: Oxford University Press, 2007, S. 147–175.

    iv Vgl. z.B. Burgess, Alexis; Cappelen, Herman & Plunkett, David (Hrsg.): Conceptual Engineering and Conceptual Ethics. Oxford/New York: Oxford University Press, 2020.

    v Chalmers, David: „What Is Conceptual Engineering and What Should It Be?“ Online verfügbar unter: http://consc.net/papers/engineering.pdf.

    vi Manne, Kate: Down Girl. The Logic of Misogyny. Oxford/New York: Oxford University Press, 2018.

    vii Über Kate Mannes Explikation der Ausdrücke „Sexismus“ und „Misogynie“ habe ich auch an anderer Stelle – im Zusammenhang mit dem Phänomen Hate Speech – geschrieben: https://philosophie-indebate.de/3587/indepth-shortread-was-ist-hate-speech-ein-vorschlag-zur-begriffsexplikation/.