Philosophie in der Schweiz

Abstimmung Waffenrecht

Um was geht es bei der Vorlage "Umsetzung einer Änderung der EU-Waffenrichtlinie (Weiterentwicklung von Schengen)" und was sind mögliche Pro- und Kontra-Argumente aus philosophischer Sicht?

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    Worüber wird bei der Vorlage über das «Waffenrecht» genau abgestimmt?

    Das folgende Video des Bundes erklärt in kurzer und einfacher Weise, worum es bei der Vorlage «Umsetzung einer Änderung der EU_Waffenrichtlinie (Weiterentwicklung von Schengen)» geht.

     

    Vimentis, das einfache und neutrale Texte zu Abstimmungen und anderen politischen Themen veröffentlicht, fasst die Ausgangslage zur Vorlage folgendermassen zusammen.

    Ausgangslage der Abstimmung

    Wie die EU will auch die Schweiz den Missbrauch von Waffen eindämmen. Da die Schweiz ein Mitglied des Schengen- wie auch des Dublin-Abkommens ist, hat der Bundesrat im Mai 2017 mitgeteilt, die Richtlinie unter Vorbehalt der „Erfüllung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen“ zu übernehmen und umzusetzen. Dieses Vorhaben wurde dann im September 2018 von der Bundesversammlung genehmigt und eine Änderung des Schweizer Waffengesetzes verabschiedet.
    Momentan sind halbautomatische Sturmgewehre in der Schweiz weit verbreitet, wie etwa das Sturmgewehr 90 der Schweizer Armee, welches auch von Sportschützen genutzt wird. Die EU-Waffenrichtlinie will unter anderem die Benutzung halbautomatischer Gewehre und Pistolen mit Magazinen mit grossem Fassungsvermögen einschränken. Darunter würde auch das Sturmgewehr 90 fallen. Bei den Verhandlungen über die Umsetzung der Richtlinie hat der Bundesrat seinen Spielraum genutzt und vorgeschlagen, halbautomatische Gewehre mit einem Magazin von mehr als zehn Schuss und Pistolen mit über zwanzig Schuss zu verbieten. Damit solle sich für Armeeangehörige, Jäger und Sportschützen nichts bis sehr wenig ändern.

    Was wird geändert?

    In Zukunft braucht es für den Erwerb halbautomatischer Schusswaffen eine Ausnahmebewilligung. Solch eine Ausnahmebewilligung bekommen Mitglieder eines Sportschützenvereins und Personen, welche regelmässiges Training mit einer Waffe vorweisen können. Wer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Gesetzesänderung bereits eine halbautomatische Waffe besitzt, kann sie behalten. Er muss sie aber innert drei Jahren beim kantonalen Waffenbüro melden, falls sie noch nicht registriert ist.
    Auch müssen Waffenhersteller die Einzelbestandteile der Waffen künftig markieren, damit die Polizei eine Waffe leichter identifizieren kann.
    Informationen darüber, wem eine Waffe aus Sicherheitsgründen verweigert worden ist, sollen unter den Schengen-Staaten ausgetauscht werden. Wie bereits erwähnt, werden halbautomatische Gewehre mit einem Magazin von mehr als zehn Schuss und Pistolen mit über zwanzig Schuss verboten. Die Übernahme der Ordonnanzwaffe nach der Militärdienstpflicht ist weiterhin möglich.

    Auswirkungen

    Bei einem JA zur Änderung der EU-Waffenrichtlinie gibt es Verschärfungen im Schweizer Waffenrecht. Es ändert sich nichts bis wenig für Armeeangehörige, Jäger und Sportschützen und die Schweiz bleibt weiterhin im Schengen-/Dublin-Abkommen.

    Bei einem NEIN wird die Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie und damit das verschärfte Waffengesetz nicht übernommen, die Schweiz riskiert jedoch einen automatischen Austritt aus dem Schengen-/Dublin-Abkommen, weil sie ihr Waffengesetz nicht an die geänderte EU-Waffenrichtlinie anpasst. Die Zusammenarbeit würde damit automatisch enden, wenn nicht die EU-Kommission und sämtliche EU-Staaten der Schweiz innerhalb von 90 Tagen entgegenkommen. Dies hätte Folgen für die Schweiz, da das Schengen/Dublin-Abkommen viele Regelungen betreffend Sicherheit, Asylwesen, Tourismus, Reisefreiheit und Volkswirtschaft in der Schweiz mit sich bringt.


    Was sagen PhilosophInnen zur Zersiedlungsinitiative? Finden Sie hier sowohl eine mögliche Pro- als auch eine mögliche Kontra-Argumentation. Wir danken an dieser Stelle Prof. Dr. Josette Baer Hill und Prof. em. Dr. Georg Kohler für das Verfassen der beiden Positionen.

     

    KONTRA: Was spricht philosophisch gegen die Annahme der Vorlage?

    Von Josette Baer Hill

    Als parteilose Liberale stimme ich aus den folgenden drei Sachkontexten gegen eine Verschärfung des Waffenrechts.

    1. Was in der Theorie falsch ist, ist auch in der Praxis falsch

    Bis jetzt verfügt in der Schweiz jede unbescholtene Bürgerin über einen Rechtsanspruch auf den Erwerb und Besitz aller Feuerwaffen, mit Ausnahme sogenannter Vollautomaten. Mit dem neuen Waffengesetz würde nicht nur dieser Rechtsanspruch abgeschafft, sondern auch ein explizites Erwerbs- und Besitzverbot für den Grossteil der Waffen in Privatbesitz erlassen. Beschlossen wurden diese einschneidenden Verschärfungen, um die Bestimmungen unseres Waffengesetzes in Einklang mit denen der neuen EU-Waffenrichtlinie zu bringen. Diese EU-Richtlinie wird als gezielte Reaktion auf vier islamistische Terrorserien von 2015 legitimiert. Nur: Zur Verübung dieser Verbrechen wurde keine einzige legal erworbene Waffe benutzt. Beim grössten Teil der Waffen handelt es sich um Sturmgewehre aus den Balkankriegen, die nicht nur über die Schengen-Aussengrenze, sondern auch quer durch halb Europa geschmuggelt wurden. Deshalb: legale Waffen zu verbieten, nützt zur Verhinderung solcher Verbrechen rein gar nichts, das heisst, solche Verbote sind ungeeignet und damit per se nicht verhältnismässig.

    Ausserdem hat selbst Bundesrätin Karin Keller-Sutter, die das bundesrätliche Ja zu den Verschärfungen vertreten muss, klar zu verstehen gegeben, dass für die Verschärfungen gar kein Handlungsbedarf besteht. Ihre Pressekonferenz vom 14. Februar dieses Jahres leitete sie mit folgenden Worten ein: „Es gibt in der Schweiz vergleichsweise viele Waffen; trotzdem gibt es kaum Probleme, man staunt in vielen Teilen der Welt darüber.“

    In der Theorie würde niemand abstreiten, dass unnötige und ungeeignete Freiheitsbeschränkungen Staats-Willkür und deshalb ein Indiz für Unrechtsstaatlichkeit sind. Warum ein in der Theorie falsches, illegitimes Gesetz in der Praxis „zumutbar“ sein soll, wie dessen Befürworter behaupten, entzieht sich meinem Verständnis.

    2. Ohne privaten Waffenbesitz keine echten Grundrechte

    Jede Form des Liberalismus beruht letztlich auf dem moralischen Axiom, dass jeder Mensch erstens gleich und frei geboren wird und zweitens kraft seiner Geburt über gewisse unveräusserliche Grundrechte verfügt. Die Vorstellung, dass wir unser Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, etc. von unserer Regierung erhalten, erscheint in unseren Breitengraden den allermeisten Personen mit gutem Grund als völlig verquer. Ein Recht, das unabhängig vom Staat besessen wird, ist aber nur dann unabhängig vom – von Natur aus bewaffneten – Staat durchsetzbar, das heisst, auch ohne oder gegen ihn, wenn derjenige, der es durchsetzen muss, selbst über Waffen verfügt.

    Dies bedeutet nicht, dass jede Person alle Waffen besitzen können muss. Ebenso wie das Recht auf Freiheit Mörder nicht vor Gefängnisstrafe schützt, ist es für eine menschen-rechtsorientierte Gesellschaft nicht zwingend, das Recht auf Waffenbesitz auch jenen zuzugestehen, die bewiesen haben, dass sie dieses Recht mit hoher Wahrscheinlichkeit missbrauchen, das heisst, zur Verletzung von Menschenrechten Dritter gebrauchen werden.

    Hingegen: Legalwaffenbesitz als Privileg ist mit dem Axiom unveräusserlicher Grundrechte völlig inkompatibel, weswegen in einem Rechtsstaat die Behörden über keine gesetzliche Handhabe verfügen dürfen, einer unbescholtenen Bürgerin den Erwerb und Besitz handelsüblicher Feuerwaffen zu verbieten. Mit der Ablehnung der linksgrünen „Schutz vor Waffengewalt“- Initiative von 2011 haben die Schweizerinnen und Schweizer auf ihrem Recht auf Waffenbesitz bestanden. Sie sind gut beraten, dieses für die Verhinderung von Willkür zentrale Freiheitsrecht auch in zwei Wochen nicht aus der Hand zu geben - und schon gar nicht wegen der völlig haltlosen Drohung, die Schweiz werde bei einem Nein aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen. Der Bundesrat, welcher das Schengener Abkommen ausgehandelt hat, hat 2004 und 2005 Parlament und Stimmvolk schriftlich darüber informiert, dass die Nichtübernahme einer Weiter-entwicklung des Schengen-Acquis im Normalfall nicht zur Beendigung des Abkommens führe und dass das liberale Schweizer Waffenrecht zum Verbleib im Schengen-Raum nicht aufgegeben werden müsse. Dass der Bundesrat nun, gute zehn Jahre später, das exakte Gegenteil hiervon behauptet und dabei nicht einmal begründet, warum nun plötzlich dieses Gegenteil gelte, erachte ich als eigentlichen Skandal - aber sicher nicht als Grund für ein Ja. Ausserdem haben Ungarn sowie die tschechische und die slowakische Republik ihr Waffenrecht ebenfalls nicht angepasst: Es ist absolut unnötig, dass die Schweiz nicht nur - einmal mehr - den Musterschüler gibt, sondern ihn im Übernehmen willkürlicher, unnützer Gesetze gibt.

    3. Selbstentwaffnung heisst Selbstentmündigung

    Wer wie ein Kind behandelt wird, benimmt sich irgendwann auch wie eines, und: Wer sich wie ein Kind behandeln lässt, hat aufgehört, ein mündiger Bürger zu sein. Die auf Eigenverantwortung und dem Milizgedanken basierende direkte Demokratie ist ein System für Erwachsene. Mit dem flächendeckenden Halbautomatenverbot, das über 80% der im Schiesssport verwendeten Waffen beträfe, inklusive der zivilen Varianten unserer eigenen Armeesturmgewehre, beschnitte man nicht nur zentrale Freiheitsrechte, sondern würde unbescholtene Bürger auch als zu irrational, unvernünftig und verantwortungslos für den Besitz einer handelsüblichen Waffe deklarieren. Es sind nota bene dieselben Bürger, denen man nicht nur zutraut, sondern von ihnen verlangt, im Rahmen ihrer Militärdienstpflicht neben Gewehren auch Sprengstoff, Geschütze und Panzer zu beherrschen. Es sind dieselben Bürgerinnen und Bürger, die seit 1848 bewiesen haben, dass sie in der Lage sind, verantwortungsvoll mit Feuerwaffen umzugehen, denn sowohl Gewalt-Delikte mit Legalwaffen wie auch Unfälle mit ihnen sind absolute Ausnahmen. Und es sind auch dieselben Bürgerinnen und Bürger, die jedes Jahr mehrmals über Verfassungs- und Gesetzesänderungen abstimmen. Einerseits an der Urne und in der Armee Verantwortung übernehmen, andererseits im Privatleben entmündigt zu werden: Das geht nicht zusammen.

    Zu dieser staatsbürgerlichen Selbstentmündigung kommt auch noch eine handfestere: die notwehrrechtliche. In der ganzen Schweiz gibt es circa 20‘000 Polizisten – das ist gut die Hälfte (!) der ca. 38‘000 Polizisten des NYPD, die im bevölkerungsmaässig vergleichbaren New York City Recht und Ordnung durchsetzen. Diese geringe Polizeidichte in unserem Land bedingt, dass die Sicherheitskräfte nachts zwanzig bis dreissig Minuten brauchen können, bis sie bei einem Notfall vor Ort sind. Einer unbescholtenen Frau, die abgelegen alleine oder mit ihren Kindern wohnt, das Recht zu nehmen, eine Waffe zu besitzen, finde ich vor diesem Hintergrund geradezu obszön. Der Einwand, in der Schweiz werde kaum je jemand zuhause überfallen, und deshalb bräuchten die Bürger zuhause auch keine Waffen, ist ein Trugschluss: Genau weil die Kriminellen sich nicht darauf verlassen können, nicht auf bewaffneten Widerstand zu treffen, passieren bei 40‘000 Einbruchs- und Einschleichdiebstählen pro Jahr praktisch keine Raubdelikte in Wohnungen. In England, wo der Legalwaffenbesitz seit längerem verboten ist, findet hingegen etwa jeder zweite Einbruch in Anwesenheit der Bewohner statt, die sich nicht wehren können.

    Ich will keine Gesetze, die grundsätzliche rechtsstaatliche Prinzipien verletzen und die unvereinbar sind mit dem liberal-aufgeklärten Axiom der unveräusserlichen Grundrechte. Und ich will keine Gesetze, die mich als Staatsbürgerin entmündigen und Kriminalität fördern, anstatt sie zu bekämpfen. Darum stimme ich am 19. Mai NEIN.

    Details zu den Folgen der Verschärfung des Waffenrechts sind auf der Website des Referendumskomitees einsehbar.

     


     

    PRO: Was spricht philosophisch für die Annahme der Vorlage?

    Von Georg Kohler

    Zur Argumentation von Prof. J. Baer Hill:

    Vorweg: Ich kenne J. Baer seit vielen Jahren. Während langer Zeit haben wir am Philosophischen Seminar der Zürich zusammengearbeitet. Ich schätze ihre Forschungen auf dem Gebiet der osteuropäischen politischen Philosophie. Das hindert mich jedoch nicht, ihrer Argumentation im Zusammenhang der Abstimmung vom 19.Mai entschieden zu widersprechen. Nicht in erster Linie deshalb, weil ich selber den Bundesbeschluss, die neuen Waffenrichtlinien der EU anzunehmen für richtig halte, sondern aus meinem prinzipiellen Interesse an Staatstheorie. Frau Baers Vorstellung von Recht und Staat, wie diese in Punkt 2 ihres Textes zum Ausdruck kommt, ist nach meiner Meinung falsch.
    Man kann das unwichtig finden. Doch ich denke, dass die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Recht und Staat so wesentlich ist, dass es sich lohnt, darüber zu reden.

    Mit Punkt 1 von Frau Baers Überlegungen bin ich in vielem einverstanden. Nicht einleuchtend scheint mir allerdings, dass der Bundesbeschluss Ausdruck von „Staatswillkür“ sei. Es gibt ja nicht wenige Gründe, die für ihn sprechen; die ich jetzt aber nicht wiederholen möchte. Soll heissen: Unter dem Aspekt von Punkt 1 kann man in guten Treuen für oder gegen das Referendum sein. Ich selbst, wie gesagt, bin dagegen. Doch ich verstehe, wenn jemand glaubt, die Drohung des Ausschlusses aus dem Schengen-Raum sei nicht besonders glaubwürdig.

    Hingegen werfe ich Baers Argumentation, die sie in Punkt 2 vorträgt, eine schwer wiegende Inkonsistenz vor.
    Was J.B. hier zum Thema macht, lässt ich auf diese Frage reduzieren: Gibt es deshalb ein primäres Recht auf privaten Waffenbesitz, um stets die Möglichkeit haben zu können, den Staat zu stürzen, der nach Ansicht der Waffenbesitzerin nicht leistet, was er den Bürgern und Bürgerinnen in Hinsicht auf deren Grundrechte zu leisten versprochen hat?
    Frau Baer sagt „ja“; ich entschieden „nein“.
    Wer diese Frage bejaht, nimmt in Kauf, dass der fundamentale Sinn von staatlicher Ordnungsgewalt – den Rechtsfrieden zu ermöglichen – von vornherein durchkreuzt wird. In Baers These ist also ein schwer wiegender Selbstwiderspruch enthalten.

    Im Folgenden meine Replik auf den Punkt 2 von J.B. Ich gliedere sie in vier Schritte (A-D).

    A: Was ist/ heisst „Recht“?
    Es gibt verschiedene Arten von Recht. Frau Baer hat jene Rechtsform im Sinn, die man beschreibt als den Anspruch eines Akteurs auf etwas (einen Gegenstand, eine Dienstleistung, Rechtstitel usw). Damit dieser Anspruch „Recht“ ist in genauer Bedeutung des Begriffs, muss er (a) als gesetzlich von einem Gericht bestätigt werden und (b) dann auch durchgesetzt werden, was (c) eine Instanz (= den Staat) voraussetzt, die über Legitimität und – dank ihres Gewaltmonopols – über die unbestrittene Fähigkeit verfügt, das zu implementieren, was das Gericht entschieden hat.
    Fehlen (a-c), dann ist vielleicht nicht der Anspruch als solcher erloschen, aber seine Realisierbarkeit hängt letzten Endes allein von der Durchsetzungsmacht des Akteurs ab, der ihn geltend macht. Das heisst: Wenn jene staatliche Instanz fehlt, die einen subjektiven Anspruch zum einklagbaren und durchsetzbaren Recht macht, wird er zu einer Sache, die lediglich von der Macht und letztlich von der Gewaltfähigkeit der Person abhängt, die ihn erhebt.
    Unter diesen Umständen ist Recht dann aber nichts anderes als das „Recht des Stärkeren“. Da aber die „Stärkeren“ immer wieder auch schwächer werden, ergo angefochten, ist diese Form eines vor- und nichtstaatlichen „Rechts“ die permanente Einladung zum „Krieg aller gegen alle“. Darum gilt: Ohne einen Staat, der die Kriterien der Legitimität und Effizienz erfüllt, gibt es kein Recht, das diesen Namen verdient, sondern nur die Ordnung des Wilden Westens bzw. den Bürgerkrieg.

    B: Was, wenn der Staat selbst zum blossen Machthaber und Tyrann wird?
    Das ist die Möglichkeit, die Frau Baer erwägt und aus der sie das prekäre Recht auf privaten Waffenbesitz ableitet. Sie markiert damit unzweifelhaft ein Grundproblem für jedes Nachdenken über die Bedingungen einer politischen Ordnung.
    Die Antwort auf dieses Problem ist in der klassischen neuzeitlichen politischen Philosophie die Idee des „Gesellschaftsvertrags“. Deren Entfaltung wäre eine komplizierte Geschichte, auf die ich hier verzichten muss. Deshalb nur die Quintessenz im Hinblick auf die Baer-These:
    Selbst da, wo (wie bei John Locke) ein ausdrückliches Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt angenommen wird, bedeutet das nicht weniger als das absolute Ende des Rechtsfriedens, also den Rückfall in den „Krieg aller gegen alle“. In diesem haben dann zwar alle das Recht, sich aller Mittel zu bedienen, die ihnen geeignet erscheinen, nur ist das eben kein Rechtszustand mehr: Wo alle das Recht auf alles haben, hat niemand mehr ein Recht auf etwas, ergo alle ein wertloses Recht; ein „Recht“ auf nichts.

    C: Widerstandsrecht ist nicht mehr Recht im eigentlichen Sinn.
    Voraussetzung des staatlich gesicherten Rechtszustandes ist der Verzicht der Bürger, sich ihr „Recht“ selber zu holen; mithin der Verzicht auf Gewaltgebrauch im Rahmen und auf dem Gebiet der staatlichen Ordnungszuständigkeit. Und das bedeutet umgekehrt, dass ein Staat (solange er nicht im Krieg aller gegen alle untergegangen ist) das alleinige Recht haben muss zu bestimmen, wer und in welchem Ausmass überhaupt Waffen besitzen und einsetzen darf.
    Daraus folgt nicht, dass der private Waffenbesitz notwendigerweise verboten ist. Es bedeutet nur, dass der Staat prinzipiell berechtigt ist, diesen Besitz zu regulieren. Vor allem: Es bedeutet, dass es kein vorstaatliches Recht auf Waffen und auf deren eventuellen Einsatz gegen den Staat geben kann.
    Wenn aber eine Staatsmacht nach Auffassung ihrer Bürger so sehr den gemeinsamen Grundvertrag verletzt hat, dass diese ihre Vertragstreue aufkündigen und gegen ihn zu kämpfen gewillt sind, dann existiert eben gar kein Recht mehr im Vollsinn des Wortes, sondern die Logik des Bürgerkriegs, in der jeder und jede sein/ihr „Recht“ für das richtige hält: Es gilt das Recht der Stärkeren.

    D: Eine letzte Bemerkung.
    Frau Baer argumentiert nicht auf der Basis der aktuellen Menschenrechtstheorie, die aus guten Gründen gar kein Menschenrecht auf privaten Waffenbesitz kennt, sondern – eher implizit – auf der Basis der neuzeitlichen Staatstheorie; in besonderer Weise im Rekurs auf John Locke.
    Was dieser postuliert, ist in der Tat, dass es legitim sein kann, einer Staatsmacht, die das Vertrauen („Trust“) ihrer Bürger verspielt hat, den Gehorsam aufzukündigen, also eine Revolution zu beginnen. Damit begründet Locke aber nicht, dass es diesen Akt im Rahmen der Staatsordnung, also legal, geben kann, sondern nur als deren mögliches Ende; also nicht als Recht im eigentlichen Sinn, sondern als Erinnerung des Machthabers an die Basis seiner Befugnisse: den gemeinsamen Willen des Volkes, den Krieg aller gegen alle nicht beginnen zu lassen. – So verstanden würde ich Frau Baer zustimmen, doch das ist nicht, was sie behauptet.

    Georg Kohler, 13.5.2019

     


     

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