Störenfriede in der modernen Gesellschaft

Angesichts der Komplexität und Kontingenz der modernen Welt kommt bei vielen Menschen der Wunsch nach einer störungsfreien Welt hoch – ein Wunsch, der ebenso verständlich ist wie verfehlt. Nachdenken über Störenfriede zeigt wieso.

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    Einer der berühmtesten Werbespots aller Zeiten ist Apples „Think Different“-Kampagne von 1997. Gefeiert werden darin die „Verrückten, Außenseiter, Rebellen und Störenfriede“, die „denken, sie könnten die Welt verändern“, und dies dann tatsächlich schaffen.

    Als Beispiele werden u.a. Thomas Alva Edison, Albert Einstein, Martin Luther King und Bob Dylan angeführt. Die ehrwürdige Vorgeschichte dieses Werbespots reicht zurück bis zu John Stuart Mill, der die „exzentrischen Menschen“ als „Salz der Erde“ bezeichnete, und zu Henry David Thoreau, dem Vorkämpfer des „zivilen Ungehorsams“.

    Der Störenfried ist freilich keine rundum positive, sondern eine zutiefst ambivalente Figur: Er kann Querulant oder Querkopf, Dickschädel oder Leichtfuß, Barbar oder Narr, Trittbrettfahrer oder Künstler, Gewaltttäter oder Freiheitsheld sein. Der Umgang mit dem Störenfried ist ein Lebensthema der modernen, freiheitlichen, dynamischen Gesellschaft.

    Besonders gut lassen sich die Bewegungsmuster der Störenfriede im Reich der Politik studieren – und zwar deshalb, weil sie über viele Jahrhunderte hinweg anhand einer einzigen Figur erkundet worden sind: des puer robustus.

    Heute ist dieser „kräftige Knabe“ oder „starke Kerl“ seltsamerweise in Vergessenheit geraten, aber viele große Geister haben sich ihren eigenen Reim auf ihn gemacht, ihn bekämpft oder begrüßt.

    Mitte des 17. Jahrhunderts verschaffte Thomas Hobbes dem puer robustus seinen ersten großen Auftritt. In der Schrift Vom Bürger erschien er als „böser Mensch“, der Ruhe und Ordnung stört. Gemeint war ein Typ mit „kindischem Sinn“, dem es an Einsicht in Regeln mangelt und der auf eigene Faust agiert.

    Hobbes gelang es nicht, diesen puer robustus zum Verschwinden zu bringen. Vielmehr ist das intellektuelle Feuerwerk, das er um diese Figur herum entzündete, über viele Jahrhunderte hinweg nicht erloschen.

    Den vorerst letzten auffälligen Auftritt auf der politischen Bühne hatte der kräftige Kerl in China, während einer kurzen Phase politischer Liberalisierung im Frühjahr 1957.

    „Lasst hundert Blumen blühen“ – so lautete der Aufruf Mao Zedongs. Der Pekinger Student Tan Tianrong nahm Mao beim Wort und veröffentlichte ein Pamphlet mit der Überschrift „Giftiges Unkraut“.

    Es begann mit einem Heraklit-Zitat, wonach die „Regierung der Stadt an bartlose junge Männer übergeben werden“ sollte, und war unterzeichnet mit der – lateinischen! – Formel „Puer robustus sed malitiosus“. Dieser Typ trat – ganz anders als bei Hobbes – als demokratischer Aktivist auf: als guter Störenfried.

    Nicht ein, sondern viele verschiedene Störenfriede verbergen sich im puer robustus. Er gelangte vom London des 17. ins Peking des 20. Jahrhunderts – und überdies an zahlreiche andere Orte. Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot, Victor Hugo, Alexis de Tocqueville, Karl Marx, Sigmund Freud, Leo Strauss und viele andere haben sich über der Frage entzweit, was mit dem puer robustus gemeint und von ihm zu halten sei.

    Das ganze Spektrum vom ultimativen bad boy bis zur Lichtgestalt wird dabei ausgeschritten. Immer ist der puer robustus verwickelt in ein Spiel von Ordnung und Störung, Ausgrenzung und Grenzüberschreitung. Wenn man seine verschiedenen Verkörperungen sortiert, stößt man auf vier Typen, die noch heute für Unruhe sorgen.

    Der erste Typ ist Hobbes’ Originalversion des puer robustus, also der egozentrische Störenfried, der meint, seinen Nutzen ohne oder gegen die staatliche Ordnung maximieren zu können.

    Er ist Vorbild für zahllose Kriegsgewinnler und Schmarotzer sowie auch für die Protagonisten der Finanzkrise von 2008, die mit faulen Geschäften Menschen um ihre Existenz und Staaten an den Rand des Abgrunds gebracht haben.

    Neben den Egozentriker tritt ein Typ, der gleichfalls nichts von Regeln hält, aber dabei nicht seinem Eigeninteresse folgt – und zwar aus einen ganz einfachen Grund: Er kann nicht auf sich fixiert sein, denn er weiß noch nicht, was er will, sondern ist erst zu einem anderen Ich und einem neuen Leben unterwegs.

    Die Geburt dieses Typs fällt in die Jahre um 1770. Im Roman Rameaus Neffe deutet Diderot den puer robustus gegen Hobbes zu einem exzentrischen Störenfried um und feiert ihn als genialen Kindskopf, der die „gesellschaftlichen Konventionen“ wie „ein Krümchen Sauerteig“ durcheinanderbringt. Dessen Nachfolger treten heute als politische Rebellen, aber auch in der sogenannten Kreativwirtschaft auf.

    Nicht jeder Störenfried ist auf dem Egotrip oder setzt auf Extravaganz. Manche haben eine größere gesellschaftliche Vision. So gibt es einen dritten Typ des Störenfrieds, der sich mit dem Status quo anlegt, um eine andere, bessere Ordnung durchzusetzen. Rousseau macht sich fast zur gleichen Zeit wie Diderot zum Fürsprecher dieses – ganz anderen – puer robustus und betont dabei dessen jugendliche Unverdorbenheit und Tatkraft. Rousseaus Held will das Gesetz (griechisch: nomos) nicht – wie die anderen „starken Kerle“ – unterlaufen oder überspielen, sondern erneuern.

    Deshalb kann man ihn als nomozentrischen Störenfried bezeichnen. Zu den legitimen Erben dieses Störenfrieds gehören heute die Verfechter einer „kreativen“ oder „rebellierenden“ Demokratie.

    Unter den Störenfrieden, die zurzeit aktiv sind, gibt es noch einen vierten – abscheulichen – Typus. Wenn man die Geschichte des puer robustus heranzieht, dann kommt man ihm am nächsten, wenn man sich an Max Horkheimers Beschreibung der „kleinen Wilden“ hält.

    Diese Wilden – Horkheimer meinte die faschistischen Schlägertrupps – stehen für so etwas wie eine gestörte Störung, denn in ihre Hetze und Härte mischt sich ein Motiv, das dem Selbstbild des Störenfrieds eigentlich zuwiderläuft: der unbedingte Gehorsam, das Aufgehen in der Masse, die Selbstpreisgabe für eine große Sache.

    Wenn dieser Typus denn einen Namen verdient hat, so allenfalls den des massiven Störenfrieds. Heutzutage tritt er nicht nur als Faschist auf, sondern auch – in abgeschwächter Form – als Populist und – in besonders brutaler Form – als Islamist.

    Angesichts der Komplexität und Kontingenz der modernen Welt kommt bei vielen Menschen der Wunsch nach einer störungsfreien Welt hoch – ein Wunsch, der ebenso verständlich ist wie verfehlt.

    Egal wie Ordnungen aufgestellt sind, sie müssen Grenzen ziehen, also auch Ausgrenzungen vornehmen, und so schaffen sie selbst den Rand und das Abseits, wo Störenfriede heranwachsen. Es kann nicht darum gehen, sie loszuwerden, auf einige von ihnen kann man sich sogar freuen.

    Seit 1779 weiß man, dass es „fast unmöglich“ ist, „die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen“ (Georg Christoph Lichtenberg).

     

     

    Frage an die Leserschaft

    Wo finden sich in unserer Gesellschaft "konstruktive Störenfriede"?