„Heimat“: ein verzichtbarer Begriff?

Diese breite Palette an Bedeutungen, die man meinen kann, wenn man von „Heimat“ spricht, wirft die Frage auf, ob es nicht manchmal sinnvoller wäre auf den Begriff zu verzichten.

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    Eine Schwierigkeit die sich fast zwangsläufig stellt, wenn man über „Heimat“ nachdenkt, ist die Vagheit des Begriffes seine „Bedeutungsoffenheit“, wie es Thomas Schaarschmidt in seinem Essay für diesen Blog nennt, die so stark ausgeprägt ist wie sonst nur bei wenig anderen Begriffen. Denn der Begriff der „Heimat“ könne – so Schaarschmidt – „für Herkunft, Kindheitserinnerungen und Tradition ebenso stehen wie für die Gewinnung und Gestaltung einer neuen Heimat.“ Diese breite Palette an Bedeutungen, die man meinen kann, wenn man von „Heimat“ spricht, wirft die Frage auf, ob es nicht manchmal sinnvoller wäre auf den Begriff zu verzichten.

    Auch viele der anderen Autorinnen und Autoren, die bisher zu diesem Blog-Projekt beigetragen haben, setzten sich mit der Vagheit von „Heimat“ auseinander. So fragt Uta-D. Rose: „Gibt es Heimat unabhängig vom Ort? Hat Heimat mit mir zu tun? Mit den Menschen in meiner Umgebung?“ und Sahra Styger führt diesen Fragenkatalog weiter: „Ist Heimat ein Ort? Ein Raum? Eine Landschaft? Oder handelt es sich bei „Heimat“ vielmehr um ein Gefühl?“

    Aufgrund dieser Vieldeutigkeit, also der Möglichkeit, verschiedene Dinge zu meinen, wenn man von „Heimat“ spricht (und der Vermutung, dass viele vielleicht gar nicht genau benennen können, was sie meinen, wenn sie von „Heimat“ sprechen), ist oft nicht klar, worauf sich das gegenüber in einer Diskussion bezieht, wenn sie oder er von „Heimat“ spricht. „Heimat“ sei denn auch ein „[…] ganz und gar unphilosophischer Begriff“, wie Susanne Schmieden in ihrem Beitrag bemerkt, weil er direkt das Gemüt und nicht den Verstand anspreche.

    „Ist der Begriff vonnöten oder verzichtbar?“ fragt deshalb Friedemann Schmoll, verwirft diesen Gedanken aber sogleich wieder: „Vielleicht schon eine falsche Frage: Wenn er immer wieder mit unterschiedlicher Intonation und Akzentuierung aufgerufen wird, dann sind ihm offenkundig bestimmte Erfahrungen und Bedürfnisse eingeschrieben, die nicht einfach sprach- und gesinnungspolizeilich zensiert werden können.“

    Natürlich liegt er mit dieser letzten Beobachtung richtig: Eine Zensur des Begriffes – aus welchen Gründen auch immer – ist nicht wünschenswert. Das bedeutet aber nicht, dass die Frage nach der Notwendigkeit des „Heimat“-Begriffes deshalb eine falsche oder sinnlose ist, zumindest nicht, wenn man sie abschwächt und danach fragt, ob „Heimat“ nicht vielleicht in gewissen Kontexten verzichtbar ist, in denen er heute so heiss diskutiert wird, ja dass es unter Umständen sogar ratsam sein könnte, darauf zu verzichten.

    Klarerweise ist das Wort ein nützliches Instrument künstlerischen Schaffens, da es bei der Leserin eines Gedichtes, dem Hörer eines Liedes, dem Publikum eines Theaterstückes Assoziationen unterschiedlichster Natur hervorrufen kann und es den Künstlerinnen und Künstlern so erlaubt, mit der Bedeutungsoffenheit des „Heimat“-Begriffes zu spielen. Doch viele (und ich zähle mich hier dazu) meinen, dass es in wissenschaftlichen Debatten sinnvoll ist, zunächst die verwendeten Begriffe, sofern diese nicht eindeutig sind (was ja oft nur bei technischen Begriffen der Fall ist) oder im Kontext eindeutig verwendet werden, zu klären. Und ich wage die Behauptung, dass es eine Frage der guten Diskussionskultur ist, sich in gesellschaftlichen und politischen Debatten gegenüber den anderen Diskussionsteilnehmern möglichst klar und verständlich auszudrücken. Natürlich bedeutet dies nicht, dass man in solchen Diskussionen grundsätzlich auf mehrdeutige oder vage Begriffe verzichten soll, aber der „Heimat“-Begriff steht diesem Unterfangen durch seine so stark ausgeprägte Vagheit im Weg.

    Zudem scheint gerade in politischen Diskussionen die Verwendung des „Heimat“-Begriffs problematisch. Zwar würde ich nicht so weit gehen wie Anatol Stefanowitsch, der in einem Beitrag für die TAZ die Meinung vertritt, dass diejenigen Akteure, die „Heimat“ zu einem politischen Begriff machen, eine Spaltung der Bevölkerung in solche, „die dazugehören [und solche,] die im besten Fall Gäste und im schlimmsten Fall Feinde, aber auf jeden Fall Fremde sind“, zumindest in Kauf nehmen. Und doch halte ich die Verwendung von „Heimat“ als politisches Schlagwort (jedenfalls in einer Demokratie) insofern für problematisch als ich die Meinung vertrete, dass politische Akteure aus Respekt für die demokratische Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger auf die Verwendung solch assoziativer Begriffe, die stärker auf das Auslösen von Emotionen als auf die Überzeugungskraft von Argumenten abzielen, verzichten sollten. Und zwar gerade weil die Verwendung solcher Schlagworte oft dazu führt (und dies von den entsprechenden Akteuren meist auch beabsichtigt ist), dass eine Debatte aufgeheizt, man könnte sagen „emotionalisiert“, wird und so die Meinungsbildung anhand reiner Argumente erschwert.

     

    Resümierend denke ich also, kann es unter bestimmten Umständen angezeigt sein, auf den Begriff „Heimat“ zu verzichten: in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussionen, weil er durch seine stark ausgeprägte Vagheit den Sinn einer Aussage eher vernebelt, als dass er zu mehr Klarheit beiträgt. Und in politischen Debatten, weil er einer dieser Begriffe ist, die als Schlagworte bei Bürgerinnen und Bürgern bestimmte (in diesem Fall wohl positive) Emotionen auslösen sollen und so eine auf Argumenten basierende Diskussion zumindest erschweren.

    Aus diesem Grund wäre es möglicherweise klüger, den „Heimat“-Begriff den Künstlerinnen und Künstlern zu überlassen, die von seiner Mehrdeutigkeit Gebrauch machen können, und den Zug der „Heimat“-Diskussion, wenn er jeweils in zuverlässig wiederkehrenden Zyklen durch die öffentliche, politische und geisteswissenschaftliche Landschaft braust, wort- und kommentarlos an einem vorüberziehen zu lassen.

     

    Ein Vorhaben, das mit diesem Beitrag kolossal verfehlt wurde.

     

    Quellen

    Alle zitierten Texte (ausser demjenigen von A. Stefanowitsch) sind im Rahmen des Blogprojektes „Nachdenken über Heimat“ entstanden und können hier nachgelesen werden:
    https://www.philosophie.ch/philosophie/highlights/nachdenken-ueber-heimat

    Stefanowitschs Text erschien in der Online-Ausgabe der TAZ und findet sich hier:
    http://www.taz.de/Kommentar-Gruener-Heimatbegriff/!5450730/

     

    Die zitierten Texte sind:

    Rose, U.-D.: Nachdenken über Heimat – ein Aspekt philosophischer Lebenskunst
    Schaarschmidt, T.: Vom Nutzen und Nachteil der Heimat für das Leben
    Schmieden, S.: Nachdenken über Heimat oder: Denken heisst Überschreiten
    Schmoll, F.:
    Stefanowitsch, A.: „Wir“ und „Die“, TAZ-online vom 05.10.17
    Styger, S.: Heimatfragen