Gemeinschaft und Liebe

Gruppen oder, spezifischer, Gemeinschaften prägen unser soziales Leben wie kaum ein anderes Phänomen. Der Umgang mit ihnen beginnt sehr früh in unserer Entwicklung:

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    Die meisten von uns können sich erinnern, dass wir in der Schule zu einer bestimmten Gruppe gehören wollten und zugleich wussten, dass diese oder jene andere Gruppe zu vermeiden war. Seitdem haben wir wiederholt Gruppen gebildet und aufgelöst: Wenn man z.B. beginnt, sich regelmäßig mit anderen Personen für eine Weinverkostung zu treffen, hat man eine Gruppe gebildet. Und wenn man langsam das Interesse daran verliert und sich nicht mehr trifft, hat sich die Gruppe wieder aufgelöst. Obwohl daraus der Eindruck entstehen könnte, Gruppen und unsere etwaigen Mitgliedschaften seien letztlich nur ein flüchtiges Element unserer Existenz, so trifft dies im Allgemeinen wohl nicht zu. Sicherlich sind nicht alle Gruppen, denen wir zugehören, im gleichen Maße bedeutsam für uns. Allerdings scheinen ganz bestimmte Gruppen entscheidend für unsere Existenz zu sein –manchmal in so erheblichem Masse, dass unser Wohl und Wehe von dem Wohl und Wehe der jeweiligen Gruppe abhängt: Hat eine Familie Probleme, so haben alle ihre Mitglieder Probleme. Ist eine Familie froh, sind alle ihre Mitglieder froh.

    Wenn man also die soziale Natur von menschlichen Wesen genauer unter die Lupe nimmt, dann sollte man sich nicht darüber wundern, dass Gruppen in verschiedenen Formen und Gestalten existieren. Max Scheler, einer der wichtigsten Sozialwissenschaftler und Philosophen der sog. „phänomenologischen Bewegung“ des 20. Jahrhunderts, hat eine differenzierte Beschreibung von sozialen Gruppen und ihren Haupttypen entwickelt. Nach Schelers Auffassung existieren vier Haupttypen von Gruppen (von denen hier nur drei erwähnt werden sollen[1]), die sich in ihren konkreten Ausformungen überschneiden können. Der erste Typ ist die Masse. Eine Masse zeichnet sich durch ein Phänomen aus, das Scheler als „Gefühlsansteckung“ bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist ein Schwarm von Vögeln, die – sobald ein Vogel angesichts einer Gefahr aus Angst wegfliegt – allesamt wegfliegen, da sie von derselben Angst angesteckt worden sind, selbst wenn sie den Auslöser dieser Emotion nicht kennen. Ein ganz anderer Typ ist die Gesellschaft: Wenn mehrere Individuen (individuelle) Ziele verfolgen, welche aber – aus welchem Grund auch immer – zusammenfallen, wenn sie also das gleiche (aber nicht dasselbe!) Ziel verfolgen, dann ist es sehr oft so, dass man zusammenzuarbeiten beginnt, obwohl jeder ausschließlich darin interessiert ist, sein (eigenes) Ziel zu erreichen. Der dritte und vielleicht faszinierendste Typ von Gruppen ist die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft beschreibt Scheler als eine Gruppe, die Emotionen, Entscheidungen oder Überzeugungen erleben kann. Diese Emotionen, Entscheidungen oder Überzeugungen werden von den Gruppenmitgliedern miteinandererlebt. Schelers Idee, dass mentale Zustände von einer Pluralität von Individuen geteilt werden können, wurde in den letzten dreißig Jahren neu entdeckt und ist nun unter der Bezeichnung „kollektive oder Wir-Intentionalität“ Gegenstand einer heftigen Debatte nicht nur in der Philosophie des Geistes, sondern auch in mehreren empirischen Disziplinen geworden.

    Eine der Hauptfragen dieser Debatte bezieht sich darauf, ob solche geteilten Zustände nicht letztlich doch auf individuelle Zustände zurückgeführt werden können, oder ob sie sog. „emergente“, d.h. nicht weiter reduzierbare Zustände sind, die man der Gruppe als solcher (und nicht – oder nicht nur – den Individuen) wörtlich zuschreiben kann. Eine weitere Frage ist, wie Gemeinschaften eigentlich entstehen. Dass man keine eindeutige Antwort auf diese letzte Frage formulieren kann, sollte intuitiv erscheinen, denn offenbar können Gemeinschaften auf höchst unterschiedliche Weise zustande kommen. Wenn man auf das obige Beispiel zurückgreift, ist es plausibel, zu vermuten, dass, sobald mehrere Individuen ähnliche Interessen (eben an Wein) haben und sich regelmäßig treffen, daraus eine Gemeinschaft resultieren kann: Diese Individuen werden zu einer Gruppe von Gleichgesinnten. Denn sie werden vermutlich gemeinsam entscheiden, welche Sorte von Wein als nächstes bestellt wird, und sie werden sich auch gemeinsam freuen, wenn endlich die neue Flasche geöffnet und gekostet wird. Hier könnte man diese Entstehung einer Gemeinschaft mit einer ganz anderen Entstehungsweise kontrastieren. So kann z.B. eine Gemeinschaft auch ohne spezifisch-gemeinsame Interessen entstehen, wie z.B. bei der Gemeinschaft zwischen Mutter und Kind.

    Die vermutlich intimste Form von Gemeinschaft entsteht allerdings aus gegenseitiger Liebe, denn diese Wir-Einigung, worauf die Liebe abzielt, geht viel tiefer als die Gemeinschaft der Weintrinker. Zudem haben schon die PhilosophInnen der Antike (z.B. Platon) die Idee, dass romantische oder erotische Liebe eine innere Tendenz auf Vereinigung hat, ausführlich beschrieben. Aber wie lässt sich das erklären? Wie kommt es, dass aus individuellen Emotionen, seien sie auch noch so tief und lebensumfassend, etwas Neues erzeugt wird? Ein anderer Phänomenologe, der sich ausführlich mit dem Thema der Liebe auseinandergesetzt hat, ist Dietrich von Hildebrand. Er schlägt folgendes vor: Gegenseitige Liebe begründet einen einzigen Lebensstrom, in welchem die „Sache des Geliebten“ gleichsam zur Sache der Liebenden (und natürlich auch umgekehrt) wird. Dieser Lebensstrom ist eine neue einheitliche Realität und es ist der Liebenden Lebensstrom, oder besser: unser Lebensstrom (von der Perspektive der Liebenden aus gesehen). Ist das realistisch? Ich glaube schon – man denke nur an den Verlust des geliebten Anderen und an die sich unmittelbar anschließende Trauer. Viele Betroffene berichten, dass etwas in oder von ihnen gestorben sei. Nun ist natürlich der Andere gestorben, aber was rechtfertigt das Gefühl, dass etwas in der anderen noch lebenden Person gestorben ist? Warum ist es oft schlichtweg unmöglich, sich von der Trauer zu befreien? Wenn man von Hildebrands Vorschlag folgt, lässt sich sagen, dass nicht nur der Andere, sondern auch die Liebesgemeinschaft (oder wiederum: das Wir) gestorben ist. Deswegen ist auch in dem noch lebenden Partner etwas gestorben, wenn er den Anderen verloren hat.


    [1] Der hier vernachlässigte Haupttyp ist, in Schelers Terminologie, die „Gesamtperson“. Der interessierte Leser findet Schelers Theorie in seinem „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“.