Muss die Philosophie nach Einstein von neuen Prämissen ausgehen?

Wissenschaft und Forschung müssen sich frei von praktischen Zwecken, Erwartungen, und Planvorgaben entfalten und ungehindert Neues ausprobieren können.

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    Tilman Sauer von der Universität Bern beantwortet die Frage:

    Muss die Philosophie nach Einstein von neuen Prämissen ausgehen? (Artikel online)

    Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Ja, und zwar in dreierlei Hinsicht. Vor Einstein glaubten erstens viele Philosophen, das menschliche Erkenntnisvermögen sei vor aller Erfahrung in seinen wesentlichen Eigenschaften fest bestimmt. Sie meinten, sie könnten etwas über die menschliche Erkenntnis lernen, indem sie nur genau genug in den eigenen Geist hineinschauten. Sie glaubten auch, dass viele Grundbegriffe unserer wissenschaftlichen Erkenntnis uns ein für alle Mal gegeben sind. Der Raum, so glaubten sie, sei in seinen Eigenschaften bestimmt durch die euklidische Geometrie, die Zeit flösse absolut und überall gleichförmig im gesamten Universum.
    Einstein zeigte mit seiner Relativitätstheorie, dass diese Voraussetzungen falsch waren. Indem er das Verhältnis unserer wissenschaftlichen Grundbegriffe zur empirischen Erfahrung tiefer analysierte, zeigte er, dass wir tief verwurzelte Ansichten über Raum und Zeit revidieren mussten. Die Struktur des Raumes ist komplizierter als es die Geometrie der Griechen lehrt. Unsere Urteile über zeitliche Vorgänge und über die Gleichzeitigkeit räumlich entfernter Ereignisse hängen vom Bewegungszustand des Beobachters ab. Die Struktur des Kosmos und unsere Ansichten über seine Entstehung und Entwicklung sind Gegenstand physikalischer Spekulationen, die auf der Relativitätstheorie basieren müssen und dabei mit vielfältigen astrophysikalischen Beobachtungsdaten in Übereinstimmung zu bringen sind.


    Grundbegriffe kritisch überprüfen
    Indem Einstein zeigte, dass Grundbegriffe unserer naturwissenschaftlichen Erkenntnis, Raum, Zeit, Geschwindigkeit, Masse und Energie, andere Eigenschaften haben, als die Menschen über viele Jahrhunderte glaubten, veränderte er zweitens auch das Verhältnis der Philosophie zur Naturwissenschaft überhaupt. Der Wissenschaftler, so schrieb Einstein einmal, wisse und fühle selbst am besten, wo ihn der Schuh drückt. Es gebe Situationen, in denen der Wissenschaftler die kritische Betrachtung der Grundlagen der Physik nicht den Philosophen überlassen, sondern selbst in die Hand nehmen müsse. Es seien dies Situationen, in denen die Fundamentalbegriffe und Fundamentalgesetze zweifelhaft geworden seien und der kritischen Überprüfung bedürften.


    Für die Philosophie bedeutet dies, dass sie sich im Nachdenken über die Grundlagen der Erkenntnis nicht mehr nur auf sich selbst und ihre eigene Geschichte beziehen kann. Wenn die Philosophie etwas zur Klärung der Grundlagen und Grundbegriffe moderner Naturwissenschaft beitragen möchte, muss sie sich mit den Methoden und Ergebnissen einer arbeitsteilig organisierten Wissenschaft auseinandersetzen. Philosophie der Naturwissenschaft kann seit Einstein nur noch im Dialog und in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften stattfinden.


    Es gibt noch eine dritte Voraussetzung moderner Philosophie der Naturwissenschaften, die sich mit Einstein verändert hat. Einstein selbst wurde wider seinen Willen nicht nur zu einer Ikone moderner Wissenschaft; er wurde auch zu einem Symbol für einen gesellschaftlichen Konflikt, der für unsere moderne Naturwissenschaft charakteristisch ist. Seine tiefgreifenden Reflexionen auf die begrifflichen Grundlagen unseres Naturverständnisses waren zwar durch empirische Erfahrungen begründet, wurden von ihm aber unabhängig von praktischen Anwendungsfragen angestellt.


    Sich der Verantwortung stellen
    Wissenschaft und Forschung müssen sich frei von praktischen Zwecken, Erwartungen, und Planvorgaben entfalten und ungehindert Neues ausprobieren können. Erst später stellte Einstein fest, dass das bessere und tiefere Naturverständnis, das sich durch seine begrifflichen Revolutionen ergab, auch zu einem mächtigeren Eingreifen der Menschen in die Naturvorgänge führte. Mit seiner berühmten Formel über die Äquivalenz von Energie und Masse E=mc² und mit der speziellen Relativitätstheorie von 1905 hat er begriffliche Grundlagen geschaffen, die Jahrzehnte später einem Heer von Wissenschaftlern und Ingenieuren in Los Alamos die technische Konstruktion der Atombombe ermöglichten.
    Einstein hat sich der Verantwortung, die sich für ihn aus der Anwendung seiner Grundlagenforschung ergab, durch gesellschaftliches und politisches Engagement gestellt. Sein Engagement gegen atomare Rüstung, für Menschenrechte und internationale Verständigung, war seine Antwort auf den grundlegenden Konflikt zwischen zweck- und anwendungsfreier Grundlagenforschung und zunehmender Gefährdung unserer Lebensgrundlagen durch die Freisetzung von Naturpotenzen, die wir nur teilweise technisch und gesellschaftlich kontrollieren können.


    Die Widerlegung eines erkenntnistheoretischen Apriorismus, der Notwendigkeit für die Erkenntnistheorie, sich auf die Ergebnisse und Methoden der Naturwissenschaft zu beziehen, und der Konflikt zwischen zweckfreier Grundlagenforschung und der Bedeutung ihrer Konsequenzen für unsere Lebensgrundlagen sind drei Grundvoraussetzungen moderner Wissenschaftsphilosophie seit Einstein.