Liebe diesseits absoluter Sicherheit

Endliches Begehren versus theologisierte Theorie des Erotischen

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    Wir kommen als rückhaltlos Anderen Ausgesetzte zur Welt – auf sie angewiesen, aber auch ihnen ausgeliefert. Einer neueren Theorie der Liebe zufolge können wir in dieser Lage nur im Leben spendenden und erhaltenden Licht des Erotischen gedeihen. Mehr noch: nur das Erotische könne glaubhaft eine absolute Sicherheit in Aussicht stellen, nach der es uns angeblich verlangt. Und zwar unbedingt. Mit weniger als solcher Sicherheit geben wir uns nicht zufrieden, stellt Jean-Luc Marion fest. Dieses Begehren ist durch nichts in der Welt zu befriedigen. Deshalb muss es sich an Andere als solche wenden. Können aber ausgerechnet sterbliche Wesen das Begehren nach absoluter Sicherheit befriedigen? Handelt es sich nicht um ein geradezu maßloses Begehren, das sehnsüchtig ins Unendliche zielt, aber keine Be­friedigung zulässt und sich bestenfalls durch immer neuen Mangel an Erfüllung erneuern kann? Daran ändert Selbstliebe (amour propre) nichts. Aber auch das (endliche) Geliebtwerden muss versagen, insofern es niemals versprech­en kann, was es, an jenem hohen Anspruch gemessen, ‚leisten’ soll.

    „Belügt die Mutter das Kind“, fragt der Religionssoziologe Peter Berger, wenn sie ihm aus Liebe versichert: „Hab’ keine Angst“; „alles ist [oder wird] wieder gut“ ‒ und zwar ‚letztlich’? Diese „Grundformel des elterlichen Trostes“ wird nicht nur gegen eine Angst, gegen einen Schmerz, sondern gegen jegliche Störung eines Weltvertrauens aufgeboten, die besagen wür­­­­de, die Welt sei irreparabel out of joint, wie es in Shakespeares Hamlet von der Zeit behauptet wird. Berger meint, der aus Liebe gespendete Trost laufe nur dann nicht auf eine bloße Lüge wider besseres Wissen oder auf eine gnädige Täuschung hinaus, wenn er auf ein letztlich nur religiös zu motivierendes Vertrauen gegründet sei. In Wirklichkeit werde eben nicht alles wieder gut. Dafür stehen Begriffe wie das Irreparable, das Unverzeihliche, das Böse usw. Es genügt früher oder später darüber Aufgeklärten nicht, in der Weise fortgesetzter Täuschung geliebt zu werden. Wenn die Erfahrung dieser Passivität unvermeidlich mit dem Versprechen einhergehen muss, dass eine von Gewalt versehrte Welt wieder „in Ordnung kommt“, so muss dieses Versprechen übermäßig sein ‒ und jegliche innerweltliche Realisierung übersteigen. Es kann auch als übermäßiges jedoch nicht versprechen, dass (in der Welt) letztlich alles wieder gut wird. Würde die Liebe so aufgefasst, müsste ihr dann nicht misstraut werden? Und sie würde dann nicht riskieren, Verachtung auf sich zu ziehen, sobald sie als Lüge oder gnädige Täuschung entlarvt ist? „Die Welt, der zu trauen dem Kinde anempfohlen worden ist, ist eben die Welt, in der es sterben wird. Wenn es keine andere Welt geben sollte, so ist die letzte Wahr­heit dieser Welt, daß sie Mutter und Kind tötet“, schreibt Berger. Nur dann, wenn das als unvermeidlich eingesehen wird, wäre der laut Freud „ersten Pflicht“ gerecht zu werden, das Leben zu ertragen, wenn auch als vielfach unerträgliches. Und zwar im Zeichen der „Ent-Täuschung“ jeglicher illusionären Transformation eines verlorenen Objekts ‒ sei es eine idealisierte Mutter, sei es ein idealisierter Vater ‒ in ein Ideal der Erlösung.

     

    Die Liebenden können, wie Nietzsche lehrte, weder Liebe selbst noch gar absolute Si­ch­erheit versprechen. Sie können allenfalls für das Geliebtwerden Anderer im Nichtwiedergut­zu­machenden einstehen. Einstehen heißt: praktisch bewähren im effektiven Widerstand gegen das, was die Liebe zu ruinieren droht. Mehr als das zu verlangen hieße, jegliche (endliche) Liebe vorweg zum Scheitern zu verurteilen, um ihr vorzurechnen, was sie unmöglich halten kann. Verdienen nicht gerade diejenigen, die ihr (gegebenenfalls mit Beihilfe der fremden Liebe eines ganz Anderen) gerecht zu werden behaupten, unnachsichtige Kritik, da sie eine absolute Enttäuschung heraufbeschwören? Wer die Liebe am Maßstab des Verlangens nach vollkommener Sicherheit misst, beschwört von vornherein ihr Versagen herauf. Ich sehe darin eine fragwürdige Theologisierung der zutreffenden Einsicht, dass unser Selbst zunächst nur „erotisch“ verbürgt wird: durch eine allerdings endliche Liebe, die bezeugt, dass der Andere wirklich existiert. Doch wer das Erotische auf ein hyperbolisches Verlangen ausrichtet, sieht sich am Ende dazu gezwungen, endliche Liebe als höchst minderwertiges Surrogat unerreichbarer Sicherheit abzuweisen und sie gar der Täuschung darüber zu bezichtigen, dass man sich nichts dergleichen von ihr versprechen kann.

     

    Vielleicht gibt es zwischen einer theologisierten Philosophie des Erotischen einerseits und einer uferlosen Empirie seiner Verirrungen andererseits noch einen anderen Weg: den Weg über konkret begegnende Andere, der sie nicht mit Blick auf eine verabsolutierte „unendliche“ Alterität umgeht (und letztlich entwertet), sondern erprobt, wie das Begehren mehr sein kann als bloß Begierde oder ein Bedürfnis, das sich am Anderen sättigt: als Begehren nach einem Begehren, das den Anderen frei gibt und entlässt aus jeglicher Objektivierung, die wir als leibhaftige, endliche Subjekte doch niemals ganz vermeiden könn­en und wollen. Auch dann nicht, wenn wir uns jeglicher Vereinnahmung Anderer zu widersetzen versuchen, um so überhaupt erst einen Weg zu ihnen zu bahnen. Es mag sein, dass der bzw. die Andere zumindest als Verlorene(r) immer schon im Spiel ist, wo psychisches Leben anhebt und sich gleichsam umwendet, um seiner Erinnerung auf den Grund zu gehen. Doch der und die Andere wird als solche(r) erst nach und nach ‚realisiert’ als ein Reales, das wirklich gerade dadurch ist, dass es sich uns entzieht. Wenn überhaupt, dann machen wir diese Erfahrung nicht im Modus des Wissens, der Information und digitaler Daten, die heute angeblich jeden restlos erfassen können, sondern des Begehrens, das erst auf langen Umwegen herausfinden kann, worum es in ihm geht, worauf es hinaus will und wie es sich dabei (nicht) verfehlt.