Essay-Wettbewerb Weisheit

Misosophie - Die Weisheit hassen und sie trotzdem nicht loslassen können

 Misosophie (griechisch)

misos= Hass  -sophia=Weisheit

Philosophie (griechisch)

Philos=Liebe  -sophia=Weisheit

 

„Die Philosophie hat mir das Leben verleidet“1, schrieb Kierkegaard in einem seiner Tagebücher. Wie kann einer der renommiertesten Philosophen so etwas sagen? Schließlich definieren wir den Begriff Philosophie wortwörtlich aus dem griechischen übersetzt als Liebe zur Weisheit.

Warum bezeichnen wir die großen Denker der Weltgeschichte wie Friedrich Nietzsche, der meinte „Wer zu viel Weisheit erlangt, verliert oft die Freude am Leben2 nicht als Misosophen?

Misosophie ist ein Begriff, der in der Theorie nicht, in der Praxis aber sehr wohl existiert und bezeichnet die Ablehnung tieferen Wissens, philosophischen Denkens und Weisheit. Platon beschreibt die Misosophie in seinen Dialogen als gefährlich, da sie den Menschen daran hindern würde aktiv nach Wahrheit und Erkenntnissen zu suchen.3

In der Praxis sind es viele Philosophen, die unfreiwillig von der Weisheit verfolgt und eingenommen wurden, ohne sie jemals wieder loslassen zu können. Im Folgenden stelle ich Ihnen einige Gründe für diese Hassliebe zur Weisheit vor:

·        Das Zustandekommen von Weisheit:

Der Weg zur Weisheit ist steinig, anstrengend und oft unfreiwillig. Viele Philosophen sind sich schon lange einig: „Weisheit kommt allein durch Leiden".4 Im Leben lernt man aus Fehlern und ihren Konsequenzen, aus Hürden, die man nicht leicht überwinden kann. Unglück, Enttäuschung, Trauer und Armut können den Menschen emotional überfordern, fördern im besten Fall jedoch seine Resilienz und lehren ihn Frieden, Empathie, Einsicht und Weisheit. Jemand, der nie höher springen muss als er kann, wird niemals lernen nach dem Scheitern aufzustehen, um es besser zu machen. Aufgrund des hohen Preises, den man für seine Weisheit zu zahlen hat, gibt es Philosophen, die lieber auf ihre Weisheit verzichten würden. „Wenn Leiden Weisheit bringt, würde ich mir wünschen, weniger weise zu sein.“5

 

·        Weisheit zerstört Illusionen:

Weise zu sein bedeutet oft, die Dinge klar zu sehen und direkt an die ungefilterte Wahrheit geführt zu werden. Sei es die emotionale Intelligenz, die den weisen Menschen zwischen falschen Zeilen lesen lässt oder seine Erfahrung, die ihn dazu befähigt schlechte Intentionen, abschweifende Emotionen und kleine, aber gravierende Veränderung in seiner Umgebung wahrzunehmen – die Wahrheit zu sehen kann schmerzhaft und frustrierend sein. Gerade beim Lesen von Literatur von Autoren, die ich persönlich für weise halte, macht sich der scharfe, kalte Blick auf die Missstände der Gesellschaft bemerkbar, den man in keinem Soziologiestudium dieser Welt erlernen könnte. Dostojewski schrieb zum Beispiel: „Es gibt nichts Gespenstischeres als einen Menschen, der vollständig frei ist.“6 Der weise Mensch nimmt die Welt in all seinen Grautönen wahr. Er erkennt die Vergänglichkeit allen Seins, die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, sich wiederholende Muster kollektiven Verhaltens und vieles mehr. Die Weisheit besteht darin, trotz allem mit dieser Welt im Einklang leben zu können und den eigenen Frieden zu bewahren.

 

·        „Ich weiß, dass ich nichts weiß“:

Je mehr Weisheit der Mensch erlangt, desto mehr wird er sich seiner Unwissenheit bewusst. Es kann überfordernd und lähmend sein zu spüren, dass es so viele erforschte und unerforschte Phänomene in und außerhalb der Welt gibt, die man nicht kennt und niemals kennen wird. Der Mensch wird sich seiner Ohnmacht in komplexen Angelegenheiten bewusst, die er nicht versteht. Die Wahrheit, die einst so klar und deutlich schien, ist auf den zweiten Blick relativ und fragmentarisch, sodass es oft keine klare Antwort auf große und auch kleine Fragen gibt. Der Weise spürt die Tiefe des Ozeans und merkt, dass er die ganze Zeit auf der Oberfläche schwimmt. Das natürliche Bedürfnis des Menschen, sich selbst und seine Umwelt in all seinen Facetten zu begreifen, wird von der Unendlichkeit von allem Beständigen und nicht-Beständigen in diesem Universum nichtig gemacht. Denn jede Antwort wirft neue Fragen auf, jeder Standpunkt ist relativ und jedes Wissen ist kontextgebunden. Der Weise spürt eine lauernde Gefahr und die Kontrolllosigkeit, die er als kleiner Mensch auf der Erde hat.

 

·        Weisheit als Indikator für Entfremdung und Einsamkeit:

Im besten Fall kommt die Weisheit mit innerer Ruhe und mentalem Frieden einher. Oft verantwortet sie jedoch auch das Gefühl fremd, einsam und anders zu sein. Wenn dies nicht gerade zur Isolation und Entfremdung von der Gesellschaft führt, findet der Weise sich in einem anhaltenden Zustand der Anpassung oder Resistenz wieder. Das liegt nicht etwa daran, dass die Weisheit unter den Menschen nicht genug verbreitet ist, sondern viel eher daran, dass jeder Mensch seine eigene Weisheit in sich trägt. Jeder von uns hat einen steinigen Weg hinter sich, der uns jedoch auch an verschiedenste Erkenntnisse und moralische Prinzipien gebunden hat. In der Gesellschaft – oder sei es bloß eine Gruppe von Individuen – muss der weise Mensch entscheiden, ob er seine eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen von Vernunft und richtigem Handeln unterdrückt, um dazuzugehören, oder ob er sich der Gruppe gegenüber resistent erweist. In einer Welt, die Konformität schätzt, bedeutet das oft: Fremdsein. Das macht frei – aber auch ungewöhnlich.

„Dem anderen sein Anderssein verzeihen, das ist der Anfang der Weisheit.“7

Ich könnte verschiedenste Philosophen fragen und trotz meiner Argumentation bin ich mir fast sicher, dass keiner von ihnen sich seine Weisheit im Nachhinein nehmen lassen würde. Wer einmal vom Schicksal weise gezeichnet wurde, wird es nicht für den Preis von bequemer Naivität oder Zugehörigkeit aufgeben wollen. Wer einmal den steinigen Weg gegangen ist, will ihn nicht umsonst gegangen sein. Das ist der Grund, warum Misosophie niemals zum gängigen Begriff werden wird – wir werden uns niemals Misosophen nennen. Zu Recht! Der echte Philosoph kennt die Versuchung zur Misosophie, doch er arbeitet sich immer wieder an ihr ab. Das ist kein Widerspruch, sondern Teil der tiefen Auseinandersetzung mit dem Denken selbst. Die Weisheit kann man nicht lange hassen, bevor man sie schätzen und lieben lernt.

References

1. Soren Kierkegaard, Entweder-Oder, 1843.
2. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 1872.
3. Platon, Phaidon.
4. Aischylos, Agamemnon.
5. William Butler Yeats, 1865-1939, gefunden auf azquotes.com
6. Fjodor Dostojewski, Die Dämonen, 1872.
7. Aus China, gefunden auf Aphorismen.com