Ziel: Spielerischer Umgang mit der Realität.
1. Es ist und es ist nicht
Widersprüchlichkeit und Einheit.
2. Jede Sache unterscheidet sich von allen übrigen und hängt doch mit ihnen zusammen.
Der allgemeine Zusammenhang zwischen den Dingen.
3. Die Wirklichkeit steckt voller Widersprüche
4. Auch der Mensch und die Gesellschaft sind voller Widersprüche
5. Vom Unterschied zum Widerspruch. Ergänzung, Koexistenz und Ausschliesslichkeit
Widersprüchliches kann
⁃ sich gegenseitig ausschliessen (Monogamie und Polygamie)
⁃ nebeneinander existieren (Siegeswille zweier Fussballteams)
⁃ sich sogar ergänzen (praktischer Realitätssinn und kreativer Veränderungswille)
6. Alles unterliegt der Bewegung, der Veränderung
Die Veränderung, der Wandel, die Bewegung sind die Wesensart der Wirklichkeit.
7. Widersprüche sind der Motor der Bewegung
Der Umschlag von Quantität in Qualität.
Die dialektische Negation, der Prozess von der 'These' über ihre 'Antithese' zur 'Synthese'.
Im Neuen ist die ursprüngliche Qualität in doppeltem Sinne aufgehoben: sowohl 'eliminiert' als auch 'aufbewahrt'.
8. Äussere und innere Widersprüche
9. Wie gehen wir mit der ständigen Veränderung um?
Loslassen und gleichzeitig Festhalten.
Eine gute Navigationsfähigkeit ist unentbehrlich.
10. Wie gehen wir mit der Widersprüchlichkeit unserer Welt um? Beseitigen oder leugnen?
a. Buddhismus: Überwindung der Widersprüchlichkeit
b. Gegensätze leugnen.
c. Pythagoreer: Philosophie der "Symmetria", der "Gesetzlichkeit des Gleichmasses".
11. Dialektisch denken. Der weise Umgang mit der Widersprüchlichkeit und Veränderung:
- Wir akzeptieren Widersprüchlichkeit und Harmonie
- Wir leben zwischen Gegensatz und Vereinigung.
- Wir freuen uns sogar an Bewegtem.
- Wir sind froh, dass es das Gegenüber gibt.
- Wir bleiben starke Navigierende.
- Wir erkennen, ob ein Widerspruch nur partiell ist oder wirklich die gesamte Existenz gefährdet.
- Wir wählen bewusst zwischen Vermeiden/Rückzug (Igel), Nachgeben (Teddybär), Durchsetzen/Eskalation (Nilpferd) oder Konsens (Bonobo).
- Wir suchen die weniger blockierende und weniger zerstörerische Synthese.
Jede Handlung von uns wirkt dialektisch auch wieder auf uns zurück.
Auch mit unserem Gegner gibt es Gemeinsamkeiten.
12. Dialektik gibt dem Leben einen Sinn
Wir treffen Entscheide und beteiligen uns damit aktiv an der Gestaltung der Wirklichkeit.
13. Dialektisches Verhältnis von realem Objekt und Erkenntnis darüber
Das Objekt der Betrachtung einerseits und die Erkenntnis darüber andererseits stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis; sie sind verschieden und stimmen doch überein.
Die bisherigen Kenntnisse bleiben im neuen Wissen doppelt "aufgehoben": verändert und bewahrt.
Wie oft sind wir überrascht, was passiert, werden wir aus der Bahn unserer Vorstellungen geworfen. Wie kann Philosophie helfen, die Wirklichkeit besser zu verstehen?
Wenn wir die Grundgesetze der Wirklichkeit besser kennen, hilft dies uns, spielerischer mit der Realität umzugehen, bessere Schlussfolgerungen zu ziehen und bessere Entscheide zu treffen.
Dialektisches Denken ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Doch, durch was unterscheidet sich dialektisches Denken vom normalen Menschenverstand?
Im Nachfolgenden, eine kleine Einführung in die Gesetze der Dialektik, in die Art und Weise, unserer Wirklichkeit weise zu begegnen.
1. Es ist und es ist nicht
Mutig möchte ich eines der wesentlichen Prinzipien der Dialektik gerade vorwegnehmen: "Es ist und es ist nicht".
Ein Ding ist sowohl klein als auch gross (ein Molekül gegenüber einer Zelle, resp. gegenüber einem Atom), ist schnellund langsam zugleich (ein Auto gegenüber einem Velo, resp. gegenüber einem Flugzeug), bewegt und doch stabil(die Bewegung der Elektronen im Kupferdraht, der aber trotzdem erhalten bleibt), hart und weich (das Holz gegenüber meinem Po, resp. gegenüber einer Säge), je nachdem, mit was es sich misst. Selbst das Licht zeigt widersprüchliche Eigenschaften: einmal verhält es sich wie eine elektromagnetische Welle, das andere Mal wie ein Teilchen(Korpuskel).
In der Natur heisst es für das gleiche Tier: fressen und gefressen werden, Pflanzen sind Parasiten und Wirte zugleich. Der Mensch ist liebend und hassend, mutig und ängstlich, er vertraut und misstraut im gleichen Augenblick. Auch die Wahrheit birgt Widersprüche: was heute richtig, kann morgen falsch sein. Halbwahrheit sind wahr und falsch zugleich.
"Es ist und es ist nicht". In dieser Seinsweise steckt schon viel Dialektik drin: Widersprüchlichkeit und Einheit.
Im "Es" bildet sich die Einheit der Sache, sein Zusammenhang,
im "Sein" und "Nichtsein" seine Widersprüchlichkeit.
So schreibt Herakleitos, der Vater der Dialektik und grosser Denker der jungen antiken Filosofie:
"Der Weg aufwärts und der Weg abwärts ist ein und derselbe".
Im "Weg" steckt die Einheit dieses Umstandes, im "aufwärts" und "abwärts" seine Widersprüchlichkeit. Der Weg aufwärts und der Weg abwärts ist also derselbe und doch nicht derselbe. Natürlich liegt es daran, dass wir unter "Weg" verschiedene Sachen verstehen: Einerseits die physische Gestaltung des Bodens und deren Funktion, andererseits aber das Beschreiten, Nutzen dieses Zu- und Umstandes für unsere Fortbewegung, eben "aufwärts" oder "abwärts".
Herakleitos bringt es auf den Punkt:
"Beim Kreisumfang fallen Anfang und Ende auf einen gemeinsamen Punkt".
Die Einheit besteht also im "gemeinsamen Punkt", die Widersprüchlichkeit dieses Punktes als "Anfang" und "Ende" des Kreisumfangs.
Dieses dialektische Welt-Prinzip von Einheit und Gegensatz findet sich – zwar in einem Epos angewendet und nicht abstrakt formuliert - bereits beim Dichter Ferekydes, der als Wegbereiter der Filosofie gilt": "Ferekydes sagt, dass sich Zeus, als er im Begriff stand, die Welt zu schaffen, in Eros verwandelt habe, weil er den Kosmos aus den entgegengesetzten (Elementen) zur Eintracht und Liebe zusammenführte und allen Dingen dasselbe Streben einpflanzte und die Einheit, die alles durchdringt."
2. Jede Sache unterscheidet sich von allen übrigen und hängt doch mit ihnen zusammen.
Zuerst einmal erscheint uns die Welt wohl spontan als eine Vielheit von Dingen. Jedes unterscheidet sich auf irgendeine Weise von den anderen. Wo ich bin, bin nur ich, bist nicht du.
Aber die Elemente der Wirklichkeit bilden kein Chaos, denn jede Sache ist in ihrer Entstehung, in ihrer Existenz, in ihrer Veränderung und Entwicklung von anderen bedingt und von anderen abhängig. Ich trage deine Gedanken in mir mit, durch unseren Körper fliegen Neutronen und durchkreuzt sich die Gravitationsfelder der Erde und der Sonne.
Der allgemeine Zusammenhang zwischen den Dingen zeigt sich in ihrer gegenseitigen Bedingtheit und Abhängigkeit.
Zenon, der Schüler von Parmenides im griechischen Süditalien sagte es so: "Niemals wird irgendein Seinsteil ... ohne Beziehung zum anderen sein."
3. Die Wirklichkeit steckt voller Widersprüche
Die Dinge schliessen widersprüchliche Tendenzen in sich ein, Unterschiede, die bis zum Gegensatz gehen können. Der allgemeine Zusammenhang schliesst das Gegensätzliche, den Widerspruch zwischen den Dingen in sich ein, ebenso wie den Widerspruch zwischen ihren verschiedenen Elementen, Eigenschaften, Tendenzen. Der Widerspruch ist eine Grundform des allgemeinen Zusammenhangs.
Bereits die philosophische Gemeinschaft der Pythagoreer stellte fest, "dass es paarweise zusammengehörige Prinzipien gebe, Grenze und Unbegrenztheit, Ungerades und Gerades, Eines und Vieles, Rechtes und Linkes, Ruhendes und Bewegtes, Geradliniges und Gebogenes, Licht und Dunkelheit, ...".
Der Pythagoreer und Arzt Alkmaion von Crotone verallgemeinerte die pythagoreische Lehrmeinung von den bestimmten paarweise zusammengehörigen Prinzipien und postulierte, "dass sich die Vielheiten menschlicher Dinge auf … (Paarheiten) zurückführen lassen", ja, "dass die Gegensätze die Urgründe der Dinge sind".
4. Auch der Mensch und die Gesellschaft sind voller Widersprüche
Widersprüchlichkeit ist keine Eigenschaft nur der Dinge. Auch die menschliche Physis, Gedanken, Werte oder gesellschaftliche Strukturen sind voller Widersprüche.
So entwickelten der Pythagoreer Alkmaion und der grosse vorsokratische Filosof Herakleitos die Filosofie der Dialektik weiter. Nicht nur in den ‚Elementen‘, also z. B. zwischen Zusammenstrebendem und Auseinanderstrebendem, offenbaren sich Gegensätzlichkeiten, sondern auch zwischen biologisch Lebendigem und Totem, Weiblichem und Männlichem, Wachsein und Schlafen, Jungem und Altem, zwischen Kategorien wie Gut und Böse, rein und unsauberund auch auf gesellschaftlicher Ebene zwischen Sklaven und Freien.
5. Vom Unterschied zum Widerspruch. Ergänzung, Koexistenz und Ausschliesslichkeit
Wenn wir von Widersprüchen sprechen, gehen wir oft von sich gegenseitig Ausschliessendem aus.
Monogamie schliesst Polygamie aus und umgekehrt.
Wie wir wissen, sind die Gegensätze aber fliessend: Ein Flirt – also etwas Polygamie trotz Monogamie.
Widersprüche können aber auch nebeneinander existieren und sogar die Voraussetzung des Zusammenwirkens bilden: Zwei Fussballmannschaften sind sich ja ziemlich ähnlich, sogar in ihrem Siegeswille. Und trotzdem widerspricht das Ziel der einen Mannschaft jenem der anderen, also der widersprechende Siegeswille der einen kann – da er ja nur einen Teil des Systems ausmacht - ruhig neben jenem der anderen existieren.
Widersprüche können sich gar ergänzen. Zwei Partner, der eine mit praktischem Realitätssinn und der andere mit kreativem Veränderungswille ergänzen sich bestens und können ihre Gegensätzlichkeit zum gegenseitigen Vorteil nutzten.
Wichtig ist, zu erkennen, ob ein Widerspruch nur partiell ist oder tatsächlich die Existenz des Gegenübers in Frage stellt.
Mit einem partiellen Widerspruch ist nicht nur zu leben, sondern kann auch bereichernd sein. Ich kann die Beatles toll finden, mein Partnerin nicht.
Je mehr Widersprüche in einem System sich ansammeln, desto mehr werden sie zum Risiko des Zusammenhalts. Die Quantität schlägt um in eine neue andere Qualität. Die beiden Systeme können nicht mehr nebeneinander existieren und ergänzen sich nicht mehr, sie schliessen sich nun aus.
6. Alles unterliegt der Bewegung, der Veränderung
Zuerst erscheinen uns die Dinge stabil: Berge erscheinen unverrückbar, der Zyklus der Pflanzen regelmässigwiederkehrend, mein Glaube ist unerschütterlich und trotz Präsidentenwechsel bleibt alles beim Alten. Doch schauen wir genau hin, bröckelt das Gestein, verschieben sich Kontinentalplatten, sterben Tiere und Pflanzen aus, hat sich der Mensch vom Hominoidea zum Homo Sapiens entwickelt, zerfallen Glaubenskonstrukte und verändert sich auch das menschliche Zusammenleben täglich. Die Veränderung, der Wandel, die Bewegung sind die Wesensart der Wirklichkeit.
Bereits der historisch zweite Filosof - und Schüler von Thales – Anaximandros, schuf mit seiner Theorie der "ewigen Bewegung" mit die Grundlage der Dialektik.
Er bezeichnete "die Bewegung als etwas Ewiges. Denn ohne Bewegung könne es weder ein Entstehen noch ein Vergehen geben". Wenn die Bewegung zum innersten Wesen des ewigen Urgrundes gehört, so muss alles durch sie Geschaffene, müssen sogar die "unendlichen Welten ... infolge des allgemeinen Umschwungs entstehen und auch wieder vergehen".
Herakleitos, der Vater der Dialektik fasst es so zusammen: "Alles strömt, und nichts dauert" und hält sinnbildlich fest: "Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen".
In Bezug auf die Grundelemente hält er fest: "Das eine wird durch Verwandlung das andere, und in neuem Wechsel wird dieses wieder zu jenem"
7. Widersprüche sind der Motor der Bewegung
Führe ich einen Magneten zum anderen, wird offensichtlich, dass entgegengesetzte Magnetfelder das System in Bewegung versetzen. Widersprüche sind also der Motor der Bewegung - und dies auch im wortwörtlichen Sinne, z.B., wenn die Verbindung des positiven und negativen Pols einer Batterie, den dazwischen geschalteten Motor zum Laufen bringt. Die Erhitzung eines Eiswürfels verwandeln diesen in Wasser, der Widerspruch zwischen Schutz und Entfaltung lässt den Pflanzensamen aufspringen, die Widerlegung eines Gedankens durch die Wirklichkeit, zwingt mich, meine Erklärung zu verändern, der Wettkampf zwischen zwei Fussballteams sorgt für 90 Minuten Bewegung auf dem Rasen.
Während Anaximandros noch die Bewegung als Ursache der Gegensätze sah, also dass "mittels der ewigen Bewegung" die Dinge als "gegensätzlichen Stoffe" ausgesondert würden, d.h. entstehen, erhob Herakleitos umgekehrt die Gegensätzlichkeiten der Dinge zur Ursache der Bewegung.
Die Widersprüchlichkeit ist für Herakleitos der Antrieb und die Ursache der Veränderung, denn diese und alles Entstehen geschähe "durch gegenläufige Gewalt", "Kampf und Streit führen zum Werden der Welt".
Für die Veränderung spielen 2 dialektische Prinzipien eine wichtige Rolle:
a. Der Umschlag von Quantität in Qualität (also z.B. der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt) und
b. die dialektische Negation, also der Prozess von der 'These' über ihre 'Antithese' zur 'Synthese'. Die Synthese ist dabei nicht mechanisch zu sehen als einfache Negation des Ausgangszustandes, sondern beinhaltet sowohl Inhalte des alten Zustandes als auch Elemente seines Widerspruchs. Durch die Synthese (der Negation der Negation) wird damit etwas qualitativ Neues geschaffen. In ihr ist die ursprüngliche Qualität in doppeltem Sinne aufgehoben: sowohl 'eliminiert' als auch 'aufbewahrt', also die Ausgangsqualität wird bewahrend aufgehoben als auch aufhebend bewahrt.
8. Äussere und innere Widersprüche
Ganz entsprechend der Dialektik, sind Widersprüche nicht nur äussere, also zwischen den Dingen, sondern je nach Wahl 'des Systems', auch innere. Die Sklaven sehen und erleben zwar die Sklavenhalter als äussere Widersacher, das Verhältnis zwischen ihnen ist aber auch ein innerer Widerspruch der ganzen Sklavenhalter-Gesellschaft.
Herakleitos formulierte dies wie folgt: "Beides ... ist immer in uns: Lebendiges und Totes, das Wache und das Schlafende, Junges und Altes".
9. Wie gehen wir mit der ständigen Veränderung um?
Bekanntes kennen wir, Neues (noch) nicht. So neigt der Mensch, sich an Bestehendes zu halten. Hier wissen wir, wie 'es' funktioniert, welche Folgen es hat. Der Mensch sucht im Ozean der Bewegung Stabilität, Orientierung, einen Leuchtturm, der den Wogen trotzt.
Andererseits brauchen wir Veränderung, entwickelt sich Neues, gibt es neue Möglichkeiten, rufen die Umstände nach neuem Denken und neuem Verhalten.
In diesem Moment drohen 2 Gefahren, die beide gleich gefährlich sind:
- Entweder wir verharren im Alten, klammern uns an Überholtes oder
- wir lassen uns von jedem Wind, der aus einer Richtung bläst, ungeschützt beeinflussen und werden buchstäblich in der Weltgeschichte herumgewirbelt.
Auch hier gibt uns die Dialektik eine gute Methode in die Hand:
Halten wir den Widerspruch zwischen Altem und Neuem aus. Die Devise ist Loslassen und gleichzeitig Festhalten. Die Natur macht es uns vor: Je heftiger der Wind bläst, desto stärker biegt sich zwar der Baum, er passt sich an und bleibt trotzdem stabil. Erst durch das Biegen, durch die Veränderung kann der Baum die zerstörerische Kraft des Windes auffangen und seine Weiterentwicklung sichern.
Bleiben wir also nicht starr wie der Leuchtturm und hilflos wie ein treibendes Schiff, sondern nutzen wir die Stabilität des Schiffes und die Kraft der sich bewegenden Wellen, uns vorwärts zu bewegen. Wir sehen, eine gute Navigationsfähigkeit ist dabei unentbehrlich.
10. Wie gehen wir mit der Widersprüchlichkeit unserer Welt um? Beseitigen oder leugnen?
Der Mensch leidet unter den Widersprüchen rings um ihn herum und in sich selbst. Er ist betroffen vom Streit des Nachbars, dem Kampf zwischen Arm und Reich, der Kluft zwischen seinen Wünschen und seiner Realität.
a. Kein Wunder, gibt es ganze Weltanschauungen wie der Buddhismus, welche sich dem Ende des Leidens, der Erlösung von allem Werden und Vergehen durch die Überwindung der Widersprüchlichkeit selbst verschrieben haben. Ziel ist die Befreiung von allen Leidenschaften (Gier, Hass, Wahn), das "endgültige Verlöschen" (Mahâparinibbâna-Sutta) und das stufenweise Eingehen in das unterschiedsfreie Nirvâna.
So sagt die buddhistische Lehre von den 3 Merkmalen: "alle Gebilde sind vergänglich, ... darum leidvoll, alle Dinge sind nicht-ich" (Dhammapada).
b. Wenn der Widerspruch eine Grundform der Existenz ist, so erweist es sich eben schwierig, sie aus der Wirklichkeit zu eliminieren.
Eine zweite Möglichkeit, mit Gegensätzen umzugehen, ist, sie zu leugnen. Wer kennt es nicht: Der Reiche kann keinen Widerspruch zu den armen Menschen erkennen, der Fussballfan bezweifelt, dass das Foul seiner Mannschaft überhaupt eines war, Christen können sich nicht mit dem Tod Jesu's abfinden und glauben an seine Auferstehung, Nazis leugnen den Holocaust.
c. Ein erster philosophischer Ansatz, wie der Gegensätzlichkeit begegnet werden kann, fanden die Pythagoreer in ihrer Philosophie der "Symmetria", der "Gesetzlichkeit des Gleichmasses". Durch Ausgewogenheit können natürlich Widersprüche reduziert und in Bahnen gelenkt werden: "Sie vermieden daher zornige Aufregung, Niedergeschlagenheit und lärmendes Erregtsein".
Durch ihre Filosofie der Ausgeglichenheit lehrten und lebten sie hohe moralische Werte wie Wohlwollen, Menschenfreundlichkeit ("niemals züchtigte einer von Ihnen einen Sklaven"), Güte ("aus der Art der Zurechtweisung müsse viel Güte und Wohlwollen hervorleuchten"), Gleichberechtigung der Geschlechter, Verbot blutiger Opfer oder Gesetzestreue. Leider waren die gesellschaftlichen Verhältnisse noch nicht reif dazu, dass sie ihre bahnbrechenden sozialen Postulate in einen demokratischen Prozess einzubringen vermochten.
Dies führte dazu, dass die dialektische Harmonie, nämlich "Harmonie ist Einigung von Buntgemischtem und Zusammenstimmung von getrennt Gestimmtem" (Filolaos) z.B. "in der Tonfolge der Musik" durch strenge Reglementierung und Verhaltensregeln innerhalb des Bundes eingeengt wurde und diesen zu einem Geheimzirkelverkommen liess, der in der "gesunden Lebensweise", Schweigen, kurz in der Züchtigung der Begierdereligionsähnliche Vollendung und Vollkommenheit anstrebte.
d. Die philosophische Alternative dazu ist, die Gegensätzlichkeit und Bewegung in unserer Welt schlussendlich zu akzeptieren, sie zuzulassen und aber einen weisen Umgang mit ihr zu finden.
11. Dialektisch denken. Der weise Umgang mit der Widersprüchlichkeit und Veränderung
Die Welt ist eine dialektische Einheit. Wir akzeptieren sowohl Widersprüchlichkeit und Veränderung als auch Einheit und Harmonie.· Wir leben zwischen Gegensatz und Vereinigung.
"Sich verbindend ... Zusammenstrebendes und Auseinanderstrebendes, Zusammenklingen und Verschiedenklingen, und aus allem wird Eines und aus Einem Alles" (Fragment des Herakleitos).Es ist und es ist nicht. Wir sind und sind nicht. Wir erkennen und erkennen nicht. Einseitige andauernde Dogmenverhindern dialektisches Denken.
· Wir fürchten uns nicht vor Neuem und Anderem. Wir freuen uns sogar an Bewegtem und Herausforderndem, im Wissen darum, dass Änderungen – insbesondere das Vergehen – äusserst schmerzvoll sein kann.
· Wir sind froh, dass es das Andere, das Gegenüber gibt. Ohne jenes wären wir nichts. Ohne gegnerisches Sportteam könnte unser Lieblingsteam sich nicht entfalten.
· Im Konflikt und bei stürmischen Auseinandersetzungen bleiben wir starke und umsichtige Navigierende unseres Schicksals.Wir erkennen die Art des Widerspruchs (partiell oder gesamte Existenz-gefährdend), unterscheiden zwischen möglicher Ergänzung oder Koexistenz und vernichtender Ausschliesslichkeit.
Wir wählen je nach Situation bewusst zwischen verschiedenen Reaktionsarten
- Vermeiden/Rückzug (Igel),
- Nachgeben (Teddybär),
- Durchsetzen/Eskalation (Nilpferd) oder
- Konsens (Bonobo)
· Wir sind frei, in widersprüchlichen Situationen Partei zu ergreifen. Als Dialektiker stützen wir uns jedoch nicht nur auf das Gegensätzliche, die Negation und Antithese, sondern suchen die weniger blockierende und weniger zerstörerische Synthese, suchen statt Eskalation einen Mittelweg, den Kompromiss, mit welchem alle Beteiligten leben können.
· Wir bedenken, dass jede Handlung von uns dialektisch wieder auf uns zurückwirkt.
· Die Münze hat immer 2 Seiten. Wir wissen, dass es auch mit unserem Gegner Gemeinsamkeiten gibt. Daran knüpfen wir an. Wir erkennen durch Achtsamkeit immer wieder die Position des Anderen und nützen diese als Brückenkopf der Verständigung.
12. Dialektik gibt dem Leben einen Sinn
Veränderung bringt nicht nur Neues zum Blühen, es zerstört auch Bestehendes, bringt Verderben und sogar das Ende unseres eigenen Lebens mit sich.
Das damit verbundene Leid ist keine Prüfung Gottes, aber das Resultat, wie wir als Einzelne und die Wirklichkeit als Ganzes konstituiert sind: Wir stehen im Fluss der Veränderung, des Entstehens, der Entwicklung und des Vergehens. Verstehen wir das, ist dies im Moment des unlösbaren Konfliktes nur ein schwacher Trost, aber doch ein kleines Licht des Verstehens.
Zum Glück stehen wir in den meisten Fällen nicht immer vor der Frage "Sein oder Nichtsein", sondern vor der Vielfalt unserer Welt. Mannigfaltigkeit, Gegensätzlichkeit und Veränderung zwingen, resp. ermöglichen uns, Entscheide in der einen oder anderen Richtung zu treffen. Genau dadurch treiben wir die Geschichte in eine Richtung weiter, sind wir aktiv beteiligt an der Gestaltung der Wirklichkeit. Gibt nicht genau das uns einen wahren Sinn?
Schon die Existenz eines Gegenübers verleiht dem anderen seinen Sinn: "Krankheit lässt Gesundheit süss empfinden, Übel das Gute, Hunger den Überfluss, Mühsal die Musse" (Herakleitos)
13. Dialektisches Verhältnis von realem Objekt und Erkenntnis darüber
Schlussendlich löst die Dialektik auch die zentrale Frage der Erkenntnis und Erkenntnisfähigkeit, welche die Geschichte der Filosofie seit Anbeginn spaltet: Kann der mensch die Wirklichkeit erkennen oder ist unser Wissen nicht nur eigene Einbildung.
Gegen das erste spricht, dass wir ja ständig neue Erkenntnisse gewinnen, was die alten als "falsch" erscheinen lässt.
Gegen das zweite spricht, dass wir Millionen von Menschen doch meistens zu identischen Einsichten kommen, dass offensichtlich das "Objekt" tatsächlich real - und nicht nur in unserem Kopf - existiert und gedanklich "begriffen", adaptiert werden kann. Auch können wir noch so sehr uns eine andere Realität vorstellen, scheint diese doch eher weniger sich nach unseren Gedanken zu richten. Die Aussenwelt ist also nicht bloss eine Schöpfung unserer Gedanken, sondern existiert im Wesentlichen unabhängig von uns. In unserem Handeln wird unser Wissen stets neu auf die Probe gestellt.
Auch in der Erkenntnistheorie bringt uns die Dialektik weiter: Das Objekt der Betrachtung einerseits und die Erkenntnis darüber andererseits stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis; sie sind verschieden und bilden doch eine Einheit, sie unterscheiden sich und stimmen doch überein.
Auch durch den Zugewinn von Wissen, sind unsere bisherigen Kenntnisse nicht plötzlich alle obsolet. Sie bleiben im neuen Wissen doppelt "aufgehoben": verändert und bewahrt.
14. Zum Schluss nochmals ein paar Highlights der Weisheiten von Herakleitos
"Das Gegensätzliche strebt zur Vereinigung, aus dem Unterschiedlichen (- z.B. Bogen und Leier -) entsteht die schönste Harmonie und der Kampf lässt alles so entstehen" (Fragment)
"Jeder lebt des einen Tod und stirbt des anderen Leben"
"Was du begehrst, nur auf Kosten des Lebens wird es erkauft" (Fragment)
"Wir steigen in dieselben Fluten und tun es doch wieder nicht; denn wir sind und sind nicht"
(Fragment)