Warum es lohnt, in der Psychologie phänomenologisch zu sein

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    Zu behaupten, der Psychologie fehle etwas bzw. sie sei in irgendeiner Hinsicht defizitär, ist ein Topos, der diese Wissenschaft eigentlich schon immer begleitet hat. Dafür sind schon die ersten berühmten Krisendiagnosen aus dem 20. Jahrhundert Beleg,[1] sie sind auch heute im Zuge der behaupteten Reproduktionskrise nicht verstummt. Was gleichwohl als Symptom der jeweiligen Krise zu gelten hat, ist umstritten. Ein häufiger und wichtiger Vorwurf allerdings lautet, dass sich die Psychologie als methodisch ausdifferenzierte und naturwissenschaftliche operierende Wissenschaft von ihrem Gegenstand – dem Menschen und seinem Seelenleben – weitestgehend entfernt hat. Der Mensch als Mensch kommt in den Begriffen und Konzepten, mit denen die Psychologie arbeitet, nicht mehr vor, kann nicht mehr vorkommen. Solche Vorwürfe sind freilich in Teilen wohlfeil, denn sie lassen sich mit guten Gründen gegen jede Wissenschaft richten. Auch der Germanistik wäre demgemäß vorzuhalten, dass sie vor lauter strukturalistischen, hermeneutischen, grammatischen, lexikalischen usw. Zugriffen auf einen Roman diesen als spezifische Ganzheit gar nicht mehr erfasse. Und so manch ein(e) Student(in) der Germanistik mag dann womöglich auch deshalb das Fach aufgegeben haben. Allerdings gewinnen derartige Einwände durchaus an Gewicht, wenn hinter ihnen tatsächlich sachliche Probleme liegen. Genau solche Vorwürfe versucht die Phänomenologie an die Psychologie zu richten.

    Dass die Phänomenologie allgemein als Wissenschaftskritikerin und speziell Kritikerin der Psychologie hervorgetreten ist, war historisch von ihrem Gründungskontext her nicht unbedingt zu erwarten. Edmund Husserl, seines Zeichens (auch) Mathematiker, entwickelt die Phänomenologie als einen methodischen Weg, Philosophie nach dem Vorbild der Mathematik zu einer strengen Wissenschaft zu machen.[2] Es ging um möglichst apodiktische Einsichten in Wesenszusammenhänge. Allerdings schon Husserl selbst wurde ob dieses Zieles zunehmend skeptischer, vollends aufgegeben haben es seine Schüler – namentlich vor allem Martin Heidegger. Die Phänomenologie kam nämlich dahin, die Naturwissenschaften als gesellschaftlichen Leitinstanzen der Moderne kritisch zu begegnen. Es wurden Verlustrechnungen aufgemacht, nach denen der methodische Zugriff der etablierten Naturwissenschaften zwar möglich, jedoch nur begrenzt zulässig und mit hohen Folgekosten belastet war. Die Wissenschaften verloren, indem sie sich dem Primat der Methode anheimgaben, den genuinen Gegenstand ihres Interesses aus den Augen. So meint denn Heidegger gegen Husserls Mathematik-Ideal gewendet: „Diese Einsetzung eines Vorbildes ist unphänomenologisch, vielmehr ist aus der Gegenstandsart und der ihr angemessenen Zugangsart der Sinn für die Strenge der Wissenschaft zu erheben.“[3] Es geht um den Vorrang der Sache vor der Methode – oder umgekehrt: Der Psychologie (und anderen Wissenschaften, die sich am mathematischen Modell orientieren) wird vorgeworfen, die methodisch gewonnenen Einsichten mit den eigentlichen Erkenntnisgegenständen zu verwechseln. In den Worten eines gegenwärtigen Kritikers der de facto bestehenden Psychologie wäre zu sagen, dass die „[…] modernen Wissenschaften unsere Alltagserfahrung so in Frage gestellt haben, dass ihre Unangemessenheit mit Hilfe der Alltagserfahrung selbst nicht mehr eingesehen werden kann.“[4] Indem die Naturwissenschaften methodisch zugerichtete Artefakte dank der ihnen gesellschaftlich zukommenden Deutungsmacht als das „Eigentliche“, „Wirkliche“ ausgeben, sind auch die Erlebnisse der Menschen selbst desavouiert und taugen nicht mehr als Korrektiv. Um dies an einem Beispiel festzuhalten, sei auf die heute ganz selbstverständliche Rede davon erinnert, dass einem das Adrenalin eingeschossen sei. Diese Aussage meint aber gar nicht das Auftreten eines bestimmten Hormons im Organismus, sondern ein bestimmtes Erlebnis. Allerdings haben die Menschen gelernt, letztere wissenschaftliche Erklärung an die Stelle ihrer eigenen Erfahrung zu setzen.

    Die Verwechslung der wissenschaftlich gewonnenen Artefakte mit den Erfahrungen ist für den Alltag der Menschen problematisch, aber eben auch für den Behandlungskontext in der Psychiatrie oder Psychotherapie. Allzu leicht wird der epistemische Gehalt der Erfahrungen zugunsten etablierter Deutungen übersehen. Freilich führt, auch für die Phänomenologie, kein Weg an dem Ausbilden solcher Artefakte und Konstrukte vorbei, allerdings ist deren Stellenwert kritischer zu bedenken, als dies der wissenschaftliche Mainstream tut.[5] Es bleibt phänomenologische Prämisse, dass nur die Lebenswelt „ursprüngliche Evidenzen“ ermöglicht, die eine „höhere Dignität der Erkenntnisbegründung gegenüber derjenigen der objektiv-logischen“[6] Sphäre haben.

    Wenn man diesem Gedanken folgt, dass also eine un- oder unterreflektierte Beziehung zwischen methodisch-wissenschaftlich gewonnenen Artefakten und den Erfahrungsgegenständen eine Ursache von Defiziten in der Psychologie darstellt, wäre zu fragen, welche Korrektur die Phänomenologie vorschlägt. Husserl, der übrigens selbst eine Psychologie zu entwickeln versuchte,[7] hat im Wesentlichen das Verfahren der phänomenologischen Reduktion vorgeschlagen. Indem all das, was an einem Erlebnis anders sein könnte, was akzidentelle Qualität hat, gestrichen oder ausgeklammert wird, bleibt am Ende das sachliche Phänomen übrig. In diesem Sinne schält Phänomenologie also den Kernbestand frei, sie ist ein archäologisches Unterfangen. Um zu solchen freigelegten Phänomenen zu kommen, wird die Erfahrung nach Möglichkeit von allen impliziten und expliziten weltanschaulichen, ideologischen und theoretischen Zutaten – was auch solche methodisch bedingten Hypothesen beinhaltet, die erst überhaupt wissenschaftliche Empirie ermöglichen – zu reinigen. Es ist selbstverständlich, dass auf diese Weise kein „reines Urphänomen“ oder dergleichen gewonnen wird – so etwas ist unmöglich –, aber die reduktive Reinigung gestattet eine Evaluation der bis dahin als selbstverständlich genommenen Konstrukte.

    Die Phänomenologie wird geleitet vom Anspruch, als Verteidigerin der Erfahrungswelt zu agieren. Eine zwar überzeichnete, aber der Tendenz nach zutreffende Interpretation von Phänomenologie würde sie verstehen als „[…] eine ganz und gar empirische Wissenschaft, die sich auf dem Boden der Lebenserfahrung erhebt, nur daß sie diesen Boden selbst in Augenschein nimmt und nicht nur, wie die positiven empirischen Wissenschaften, die vielfältigen und wechselnden Gebilde, die als wirkliche gelten, weil sie auf dem Boden der Tatsachen stehen.“[8] Damit kommt ihr eine „Wächteraufgabe“[9], sie ist „[…] nicht der absolutistische Gesetzgeber, sondern der Wächter über die Offenhaltung des Gesichtskreises […].“[10] Der Phänomenologie, so kann man Hans Blumenberg folgen, ist der kritische, aber unbeteiligte Zuschauer der kulturellen wie wissenschaftlichen Konstruktionsbildung: „Er ist nicht der Nachfolger des ‚edlen Wilden‘, der noch nicht in die Kulturverbindung abgetrieben sein sollte, sondern eher der Spätling des Kulturüberdrusses, der die Last der Konventionen nicht mehr erträgt und in die Wüste geht. Er ist eine Figur der Katharsis, nicht der Ursprünglichkeit.“[11] Die Wüste ist dabei Sinnbild für die Einsamkeit der Besinnung, die nötig wird, wenn man sich gegen den etablierten Status quo stellt, aber gewonnen wird damit gerade potentiell neue Reichhaltigkeit und Fülle, jedenfalls jedoch mindestens ein Reservoir an Alternativen und Korrekturmöglichkeiten.

    Dass Phänomenologie helfen kann, etablierte Standardperspektiven der Wissenschaften aufzubrechen, methodische Einseitigkeiten anzusprechen und zu korrigieren, ist schon häufiger beobachtet worden. Es gab fruchtbare Interaktionen in dieser Hinsicht etwa zwischen Heidegger und dem Psychiater Medard Boss, es gab Auswirkungen der Phänomenologie auf Ludwig Binswanger, Wolfgang Blankenburg, Wolfgang Metzger und andere.[12] Besonders verdient gemacht um eine differenzierte Integration hat sich zudem Carl Friedrich Graumann.[13] Zuletzt eindringlich hervorgetreten sind auf diesem Feld jedoch Thomas Fuchs und Alexander Nicolai Wendt. Fuchs nutzt Phänomenologie, um die Erfahrung psychisch Kranker für die psychiatrische Arbeit und psychologische Begriffs- und Theoriebildung nutzen zu können.[14] Ebenfalls partiell phänomenologisch operiert er auch, um den exklusiv neurowissenschaftlichen Zugang zum Menschen zu korrigieren, indem er das vermeintliche „Zentralorgan“ des Menschen, das Gehirn, insgesamt als ein Organ mit und in Relationen zur Welt versteht. Dabei meint er, dass „phänomenologische[s] Denke[n]“ jenes Denken sei, „das […] unserer lebensweltlichen Erfahrung und damit der Grundlage aller wissenschaftlichen Tätigkeit am meisten entspricht […].“[15] Phänomenologie dient dazu, den Menschen insgesamt als Lebensform zu sehen, seine Erfahrungen – auch die pathologischen – zu beachten und so einen neuen, therapeutisch wirksamen Zugang zu erschließen.[16] Wendt wiederum bekennt sich zur Phänomenologie bzw. ihrem Impuls, die Methode dem Gegenstand unterzuordnen und gerade nicht umgekehrt (wie gemeinhin in der Psychologie verfolgt),[17] betont aber, dass deren Ansatz, jedwede Quantifizierung kritisch zu sehen, wenig hilfreich sei. Es müsse die kritische Perspektive der Phänomenologie auf einseitige methodische Zugänge und unberechtigte Ausweitung einzelwissenschaftlicher Geltungsansprüche vielmehr zusammengebracht werden mit dem Anspruch, „die Psychologie als empirische Wissenschaft zu verändern.“[18] Wendt geht es darum, die bestehenden methodischen Angebote und konzeptuellen Deutungsrahmen nicht pauschal zu verwerfen,[19] sondern phänomenologische Angebote in den bestehenden – vor allem experimentalpsychologischen – Diskurs zu integrieren. Dafür bedürfe es neben phänomenologisch-philosophischer Diskurse auch in der Psychologie vor allem einer „[…] Umgestaltung der psychologischen Methodologie.“[20] Hier wird die Phänomenologie nicht mehr als extra-psychologisches Korrektiv verstanden, wie noch bei Heidegger, sondern als innerpsychologische (experimental-)psychologische Alternative oder Bereicherung.

    Wie auch immer man zu diesen Initiativen stehen mag, sie belegen doch, dass die Phänomenologie historisch wie aktuell als Korrektivum der Psychologie angesehen wurde und wird. Ihr Stärke liegt darin, die Abstraktionsbasis – also die oft unbemerkten kulturell, gesellschaftlich, disziplinär, methodologisch usw. zugrunde gelegten Hypothesen – thematisieren und kritisieren zu können. Sie gestattet einen nicht-naiven Alternativblick, der die Erfahrungen aus der Perspektive der ersten Person sowohl rehabilitieren als auch wissenschaftlich adäquat einzuordnen gestattet. Damit ist Phänomenologie zwar kein Allheilmittel, sie hat ihre spezifischen Grenzen, aber sie hilft, das eigene (wissenschaftliche) Tun im Sinne intellektueller Redlichkeit auf dessen Stärken, Schwächen und Grenzen hin zu bedenken. Darin liegt ihr Nutzen für die Psychologie. Dass dabei im Titel des Essays bewusst die Rede davon war, phänomenologisch zu sein, betont die habituelle Eigenart des Phänomenologischen. Phänomenologie ist kein bloßes Werkzeug, das nach Belieben in Einsatz zu bringen ist, sondern recht verstanden öffnet sie einen neuen Standpunkt zur Welt insgesamt, der alles weitere Tun – auch und gerade das psychologische – verändert kontextualisiert. Phänomenologie lernt, neu zu sehen und zu sprechen. Ihr Nutzen liegt daher letztlich auch darin, die Psychologie anders – und hoffentlich: besser – zu machen.


    [1] Vgl. K. Bühler: Die Krise der Psychologie. Jena 1929.

    [2] Vgl. E. Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft. Frankfurt 1965 (zuerst 1911).

    [3] M. Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (=GA Bd. 63). Frankfurt 1995, S. 72 (zuerst 1925).

    [4] J. Disse: „Zur Methode einer philosophischen Psychologie“, in: H. Werbik, U. Wolfradt, A. Lailach-Hennrich, L. Allolio-Näcke (Hrsg.): Historische Entwicklung und aktuelle Perspektiven des Verhältnisses von Philosophie und Psychologie. Würzburg 2021, S. 265-279, hier S. 275.

    [5] Vgl. für einige solche phänomenologische Überlegungen H. Schmitz: „Was ist ein Phänomen?“, in: D. Schmoll, A. Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen. Freiburg, München 2005, S. 16-28.

    [6] E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg 1976, S. 130 (zuerst 1935).

    [7] Vgl. E. Husserl: Phänomenologische Psychologie. Hamburg 2003 (zuerst 1925).

    [8] Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1995, S. 40f. [Herv. S.K.].

    [9] Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. S. 36.

    [10] Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999, S. 194.

    [11] Hans Blumenberg: Zu den Sachen und zurück. Frankfurt 2002, S. 30.

    [12] Für einige Hinweise zur Geschichte der disziplinären Verwicklungen von Phänomenologie und Psychologie vgl. T. Fuchs, S. Thoma: „Psychologie und Psychiatrie“, in: E. Alloa, T. Breyer, E. Caminada (Hrsg.): Handbuch Phänomenologie. Tübingen 2023, S. 316-332; H. M. Emrich, J. Schlimme: „Heidegger in Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychotherapie. Wider das ‚Gestell‘ des Psychologischen“, in: D. Thomä (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart, Weimar 2003, S. 486-492 sowie A. N. Wendt: Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. Freiburg, München 2022, v.a. S. 157-193.

    [13] Vgl. z. B. C. F. Graumann: „Phänomenologische Analytik und experimentelle Methodik in der Psychologie. Das Problem der Vermittlung“, in: K.-H. Braun, K. Holzkamp (Hrsg.): Subjektivität als Problem psychologischer Methodik. 3. Internationaler Kongress Kritische Psychologie 1984. Frankfurt 1985, S. 38-58.

    [14] Vgl. etwa T. Fuchs: Randzonen der Erfahrung. Beiträge zur phänomenologischen Psychopathologie. Freiburg, München 2021.

    [15] Vgl. dazu T. Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart 2008, S. 9f.

    [16] Dafür sei als Parallelentwicklung aus dem anglophonen Sprachraum auf die auch psychologisch und psychiatrisch bedeutsame Studie von Matthew Ratcliffe hingewiesen, der hintergründige affektive Stimmungen phänomenologisch als an der Wurzeln von Depression und derartigen Zuständen sitzend ansieht. Vgl. M. Ratcliffe: Feelings of being. Phenomenology, psychiatry, and the sense of reality. Oxford 2008.

    [17] Vgl. A. N. Wendt: „Phänomenologische Psychologie“, in: G. Mey, M. Kruck (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden 2020, S. 101-124, hier S. 103.

    [18] A. N. Wendt: Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. S. 8.

    [19] Er schreibt in diesem Sinne: „Erst wenn die phänomenologische Psychologie von der Kritik der Metrisierung und Mathematisierung zu ihrer Anerkennung übergeht, ist ein produktiver Dialog […] möglich.“ (A. N. Wendt: Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. S. 324f.)

    [20] A. N. Wendt: Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. S. 249.