Painting showing opisthotonos in a patient suffering from tetanus, Sir Charles Bell, 1809.

 

 

Philosophische Fragen rund um das Phänomen Schmerz

In Bezug auf den Schmerz stellen sich ganz verschiedene philosophische Fragen. [...] Obschon wir wohl alle von frühster Kindheit an wissen, wie es ist, Schmerzen zu empfinden, besteht in vielerlei Hinsicht Unklarheit darüber, was Schmerzen eigentlich sind.

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    In Bezug auf den Schmerz stellen sich ganz verschiedene philosophische Fragen. Eine Auswahl solcher Fragen wird im Folgenden überblicksartig vorgestellt.[1]

    Obschon wir wohl alle von frühster Kindheit an wissen, wie es ist, Schmerzen zu empfinden, besteht in vielerlei Hinsicht Unklarheit darüber, was Schmerzen eigentlich sind. Einerseits ist es naheliegend, Schmerzen als mentale Zustände aufzufassen, da man ihnen gemeinhin Eigenschaften zuschreibt, welche mentalen Zuständen vorbehalten sind: So scheinen Schmerzen nicht nur privat (d.h. nicht mit anderen Personen teilbar) sondern auch subjektiv (d.h. notwendigerweise von jemandem empfunden[2]) zu sein. Mit dieser Kategorisierung der Schmerzen als mentale Zustände schwer zu vereinbaren ist jedoch die Tatsache, dass wir Schmerzen gemeinhin irgendwo im Körper verorten. Dass wir von Schmerzen «im Rücken», «im rechten Bein» etc. sprechen, legt nahe, dass sich Schmerzen – da sie sich so anfühlen, als wären sie irgendwo im Körper – an der nämlichen Stelle (bzw. Körperregion) lokalisieren lassen. Jedoch lassen sich mentale Zustände – im Gegensatz zu physischen Zuständen – nicht im Körper (d.h. ausserhalb des Gehirns bzw. des Geistes) verorten. Die Unvereinbarkeit der mentalen Eigenschaften des Schmerzes mit seiner Lokalisierbarkeit wird in der Literatur als Paradoxon des Schmerzes («paradox of pain») rege diskutiert und aufzulösen versucht.

    Nebst dieser ontologischen Fragestellung ist aus philosophischer Perspektive insbesondere auch das Schlechtsein des Schmerzes interessant. Dass Schmerzen (bzw. zumindest diejenigen Schmerzen, welche als unangenehm empfunden werden[3]) schlecht sind, scheint unbestritten. Interessant ist es dann jedoch, deren Schlechtsein genauer zu spezifizieren. Obschon Schmerzen in einem instrumentellen Sinne sogar gut sein können (indem sie bspw. zu Handlungen motivieren, welche die weitere Schädigung vermindern), sind sie auf eine nicht-instrumentelle Art und Weise schlecht. Das heisst, dass Schmerzen sowohl unabhängig vom Schlechtsein der Körperverletzung, welche sie anzeigen, als auch vom Wert ihrer Konsequenzen (seien sie emotionaler oder auch motivationaler Art) schlecht sind. Sie sind in einem nicht-instrumentellen (oder auch finalen) Sinne unwert, da sie aufgrund dessen, wie sie sich anfühlen (d.h. um ihrer selbst willen), für unwert befunden werden.[4]

    Weiter ist in diesem Zusammenahang auch die Frage, wie der nicht-instrumentelle Unwert des Schmerzes zustande kommt, aus philosophischer Sicht interessant. Manche Erklärungsansätze führen dieses nicht-instrumentelle Schlechtsein auf einen unbefriedigten Wunsch (den Wunsch, dass entweder der Schmerz selbst oder die körperliche Schädigung, die er anzeigt, nicht aufträte) zurück. Evaluativistinnen hingegen verstehen Schmerzen als Zustände mit einem physischen Zustand als repräsentationalem Gehalt, welcher als schlecht für das ensprechende Subjekt repräsentiert wird.

    Aber auch in der praktischen Philosophie spielt der Schmerz eine Rolle. So ist er insbesondere von grosser Bedeutung für die normative Ethik und spielt in allen der drei zentralen normativ-ethischen Herangehensweisen eine wichtige Rolle: Aus konsequentialistischer Sicht ist der Gesichtspunkt der Leidvermeidung zentral. Klassische Tugendethiken wiederum führen Mitleid und Wohltätigkeit als Tugenden. Aber auch deontologische Pflichtenkataloge (wie z.B. Ross’ Liste der prima facie Pflichten) enthalten nebst der rein deontologischen Pflichten (wie z.B. derjenigen, Versprechen zu halten) auch die Pflicht zur Vermeidung von Schaden und die Pflicht, für das Wohl anderer zu sorgen.

    Wenn es also aus normativ-ethischer Sicht Schmerzen zu vermeiden gilt, stellt sich umgehend auch die Frage, wer denn überhaupt Schmerzen empfinden kann. Die Frage nach Kriterien zur Schmerzzuschreibung ist besonders im Hinblick auf nicht-menschliche Tiere interessant, da von diesen keine sprachlichen Schmerzäusserungen vorliegen. So gilt es zunächst empirisch festzustellen, ob bzw. welche nicht-menschlichen Tiere über Schmerzrezeptoren (sogenannte Nozizeptoren) verfügen. Dabei handelt es sich um Rezeptoren, welche schädliche (noxische) Reize mechanischer, thermischer oder chemischer Art feststellen können. Der Nachweis eines Apparates zur Schmerzrezeption ist jedoch noch kein hinreichender Grund zur Annahme, dass die jeweiligen Tiere auch tatsächlich ein Schmerzerleben haben. Der Übergang von der Feststellung der nozizeptiven Erfassung von schädlichen Reizen zur Annahme eines Schmerzerlebens ist keineswegs trivial. Zur Stützung des Übergangs müssen weitere Kriterien erfüllt sein; erstens müssen die vorhandenen Nozizeptoren durch ein Zentralnervensystem mit dem Hirn verbunden sein und zweitens müssen die nozizeptiven Signale in höheren Hirnarealen verarbeitet werden. Weitere Hinweise auf ein Schmerzerleben bestehen im Ausschütten von endogenen (d.h. körpereigenen) Opioiden (zur Schmerzunterdrückung im Rahmen einer Stressreaktion) und einer positiven Reaktion auf extern bereitgestellte Schmerzmittel. Auf der Ebene des Verhaltens stellen das Erlernen von Vermeidungsverhalten und die Suspension normaler Verhaltensroutinen im Falle einer Gewebeschädigung weitere Hinweise auf ein Schmerzerleben dar. Fischen beispielsweise sprach man fälschlicherweise sogar lange ab, über Nozizeptoren zu verfügen. Gemäss dem aktuellen Forschungsstand erfüllen sie jedoch alle der obigen Kriterien, sodass wir davon ausgehen können, dass auch Fische Schmerzen erleben. Der Analogieschluss anhand des obigen Kriterienkatalogs wird durch eine besondere strukturelle Gemeinsamkeit plausibilierst; nämlich die Art der Konzentration der kognitiven Verarbeitung im Gehirn. Dieser im Bereich der Wirbletiere robuste Analogieschluss wird jenseist der Wirbeltiere jedoch schwierig zu ziehen.

    • [1] Inhaltlich basiert dieser Beitrag hauptsächlich auf den Vorträgen, welche im Frühlingssemester 2016 im Rahmen der von Studierenden organisierten Ringvorlesung «Philosophie des Schmerzes» an der Universität Zürich gehalten wurden. Da die Inhalte der Vorträge jedoch grösstenteils (noch) nicht publiziert sind, ist es leider nicht möglich, die Quellen durch einen Hinweis auf entsprechende Publikationen zu belegen. Es wird auf den Inhalt der Vorträge von Kevin Reuter, Joachim Schulte, David Bain, Sascha Benjamin Fink, Christoph Halbig, Markus Wild, Peter Schaber und Olivier Massin zurückgegriffen. Am Ende des Beitrags wird zusätzlich auf weiterführende Literatur verwiesen.
    • [2] So wären wir kaum bereit, jemandem zuzugestehen zwar Schmerzen zu haben, diese jedoch nicht zu empfinden.
    • [3] Diese Einschränkung ist notwendig, da es mit Schmerzasymbolikerinnen Personen zu geben scheint, welche (häufig aufgrund einer Hirnverletzung) zwar Schmerzen wahrnehmen, diese jedoch nicht als unangenehm empfinden.
    • [4] Da es sich beim Schmerz damit um einen (möglicherweise gar um den einzigen) klaren Kandidaten für etwas einfach Schlechtes zu handeln scheint, ist das Schlechtsein (d.h. der negative Wert/der Unwert) des Schmerzes für die allgemeine Werttheorie (Axiologie) von besonderem Interesse.

    Weiterführende Literatur:

    Aydede, Murat: Introduction. A critical and quasi-historical essay on theories of pain. In: Murat Aydede (ed.): Pain. New Essays on its Nature and the Methodology of its Study. Cambridge, MA: MIT Press 2005.
    Corns, Jennifer (Hg.): The Routledge Handbook of Philospohy of Pain. Erscheint im Februar 2017 bei Routledge.
    Tambornino, Lisa: Schmerz. Über die Beziehung physischer und mentaler Zustände. De Gruyter: Berin 2013.