Über die Freiheit des Geistes

Ein Plädoyer in Zeiten geistiger Bedrängnis

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    Der Geist weht, wo er will – insofern scheint ihm die Freiheit sozusagen eingeschrieben zu sein. Denn was könnte den menschlichen Geist beschränken? Ist es nicht Kennzeichen des Geistigen, keine Grenze akzeptieren zu müssen, schlechterdings alles denken zu können, selbst das „Undenkbare“? Und ist nicht diese Freiheit die einzige, die einem niemand nehmen kann, im Unterschied zur Freiheit des Körpers, die sehr leicht einzuschränken ist?

    Nun gibt es natürlich auch Angriffe auf die geistige Freiheit, die teils von innen, teils von außen kommen. Ein maroder Körper bspw. kann so dominant werden, dass der Geist sich seiner nicht mehr zu erwehren vermag. Er tritt dann eine Art Sklaverei an, weil er sich in den Sog der Krankheit ziehen lässt und nur noch ihren Imperativen folgt, zu unabhängigem Denken jedoch nicht mehr imstande ist. Eine andere Form von Versklavung des Geistes stellt die Gehirnwäsche dar, die in einer Art Zangenbewegung körperliche und seelische Qualen mit einer geistigen Umprogrammierung verbindet und das Denken auf eine bestimmte Bahn zwingt, die keinerlei Abweichung mehr zulässt. Zwanghaft und damit unfrei ist das Denken auch dann, wenn eine massive seelische Störung vorliegt und die Gedanken auf diese Störung fixiert werden, so dass sie sich nur noch in ihrer Logik bewegen können. All diese Arten von Unfreiheit sind mit irgendwelchen seelisch-körperlichen Defiziten verbunden, die vorgefunden oder, im Fall der Gehirnwäsche, bewusst erzeugt werden. Es sind krank machende Umstände, die auf den Geist übergreifen und ihn in seiner natürlichen Tätigkeit, seiner natürlichen Freiheit beeinträchtigen. Hier ist Gegenwehr schwer, je nach Grad der Beeinträchtigung oft sogar unmöglich.

    Wie sieht es aber mit der Gefährdung der geistigen Freiheit aus, die nicht eigenen körperlich-seelischen Mängeln oder der zwangsweisen Indoktrination seitens eindeutig identifizierbarer politischer oder religiöser Kräfte entspringt, sondern einem gesellschaftlichen Klima, das bestimmte Denkweisen moralisch ächtet? Welche Macht können anonyme Instanzen, deren Legitimation hauptsächlich in ihrer Durchsetzungsstärke besteht, über den Geist gewinnen?

    Im Grunde, dies die im Folgenden auszuführende These, können solche Instanzen nur Macht über den Geist erringen, wenn dieser sich selbst die Freiheit nimmt. Es gibt jenseits persönlichkeitszersetzender Indoktrination keinen Zugriff von außen auf die geistige Freiheit, deren Erfolg nicht auf einer inneren Kapitulation beruhte, die man sich selbst zuzuschreiben hat. Das ist zugegebenermaßen ein hartes Urteil, das nun begründet werden soll. Der Anlass, die Eigenverantwortung bei der Bewahrung der geistigen Freiheit so zu betonen, sind gegenwärtige Tendenzen in unserer Gesellschaft, zunehmend dichotomisch zu denken, d. h. in vielen Fragen nur noch ein Entweder – Oder zuzulassen und auf diese Weise ein Freund-Feind-Schema zu etablieren. Wer in der Klimafrage, der Corona-Pandemie, der Rassismus-Debatte, der Geschlechterfrage etc. nicht der eigenen Seite zugehört, gehört der gegnerischen an. Dazwischen scheint es nichts mehr zu geben, und das übt einen erheblichen Druck aus, sich der richtigen, weil gesellschaftlich geachteten Seite zuzuschlagen. Denn obwohl beide Lager darin übereinkommen, sich gegenüber Argumenten, welche die eigene Position in Frage stellen könnten, zu verschließen, gibt es in der öffentlichen Auseinandersetzung doch eine klare Gewichtung zugunsten eines der beiden Lager. Klimaleugner sind indiskutabel, Fridays for Future-Anhänger sind moralisch hochstehende Menschen.

    Die Moralisierung von Debatten, in denen es eigentlich um Fakten, deren rationale Deutung und die argumentative Begründung des eigenen Urteils ginge, hat zu völliger Unversöhnlichkeit geführt. Gegen ein schwaches Argument kann man mit einem stärkeren angehen; das lässt sich, bei Gutwilligkeit beider Seiten, sogar von der persönlichen Ebene trennen. Gegen die Einschätzung, ein schlechter Mensch zu sein, wenn man anders denkt als der andere, kann man sich dagegen kaum wehren. Wie sollte man das auch tun – mit Argumenten? Das würde auf die Ebene zurückführen, die bewusst und willentlich verlassen wurde, als man anfing, im Andersdenkenden den Gegner und im Gegner den Feind zu sehen. Wer nicht bereit ist, sich dem Konformitätsdruck zu beugen, der im Gefolge einer moralisierten Debatte auftritt, muss damit rechnen, als Person angegriffen und in Zweifel gezogen zu werden. Das hat massive soziale Konsequenzen, besonders wenn man im öffentlichen Raum tätig ist. Denn viele scheuen den Kontakt mit solchen schnell als „umstritten“ geltenden Personen aus Angst vor Kontamination. Es könnte an einem selbst etwas hängenbleiben, wenn man zu große Nähe zu einem sozial Ausgegrenzten erkennen lässt.

    Und genau an diesem Punkt wird die Frage der geistigen Freiheit virulent. Ist Freiheit ein Geschenk, das man ohne eigene Leistung im Empfang nimmt und genießt, oder ist sie etwas, das widrigen Umständen immer wieder aufs Neue abgerungen werden muss und gegen innere wie äußere Anfechtungen zu verteidigen ist? Bietet die geistige Freiheit, so schwer sie auch zu bewahren ist, wenn nicht nur die Position, sondern auch die Person attackiert wird, nicht gerade das Refugium, das bleibt, wenn äußere Sicherheiten wegbrechen?

    Zweifellos verlangt es dem Einzelnen viel ab, sich die Unabhängigkeit des Denkens zu bewahren, wenn der Preis möglicherweise die soziale Isolation ist. Ob man den Preis zu zahlen bereit ist, scheint letztlich eine Frage des Selbstverhältnisses zu sein. Wie stark hängt das Selbst von der sozialen Anerkennung ab? Diverse gegenwärtige Theorien wollen uns glauben machen, dass die Konstitution der Person ganz wesentlich von der wechselseitigen Anerkennung bestimmt ist. Sogar Verfassungskommentare, die sich dem Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes und damit der Menschenwürde widmen, wollen letztere auf die soziale Reziprozität zurückführen. Das bereitet erkennbar logische Schwierigkeiten: Wie kann aus der wechselseitigen Anerkennung von Wesen, die für sich genommen erst einmal nichts zu sein scheinen, ein Etwas werden? Zudem wäre die Würde dann jederzeit von außen zu nehmen – bei ausbleibender Anerkennung. Solche Theorien „entkernen“ den Menschen und nehmen ihm letztlich die Verantwortung für das, was er in sich und durch sich selbst ist.

    Damit ist nicht gesagt, dass der Mensch in reinem Selbstbezug existieren kann und soll. Ganz im Gegenteil ist es die stete Auseinandersetzung mit Welt und Mitwelt, die seinen Geist formt und sein Selbst ausbildet. Deren Maßstäbe durch Anpassung und Unterwerfung zu gewinnen, lässt ihn aber unter seinen Möglichkeiten als Mensch bleiben, als Mensch, der zugleich Individuum ist. Denn das Verhältnis zur Welt, den anderen Menschen und nicht zuletzt zu sich selbst ist um so mehr ein je eigenes, ein individuelles, je mehr man die geistigen Kräfte in sich stärkt, die es ertragen lassen, gegebenenfalls auch ganz alleine dazustehen. Dann ist es der Geist, der trägt, eben weil er eine so unabhängige Substanz gewonnen hat, dass er mit gegenstrebigen Kräften fertig werden lässt: mit der Verachtung der Mitmenschen, die sich durch Andersdenkende selbst in Frage gestellt sehen und deshalb so erbarmungslos zuschlagen, und mit dem inneren Drang, geliebt sein zu wollen und Geborgenheit in der Menge zu suchen, was die Eigenverantwortung auf so angenehme Weise diffundieren lässt. Im Grunde ist es ein Indiz für den fehlenden Glauben an die Kraft des Geistigen, wenn man sich der Möglichkeit begibt, in der geistigen Unabhängigkeit jenen existentiellen Halt zu finden, der die äußeren Anfechtungen gelassen hinnehmen lässt. So scheint der Unterwerfung eine Selbstunterwerfung vorauszugehen. Und diese liegt in der eigenen Verantwortung, da hilft die Berufung auf die Umstände wenig.