Philosophie jenseits der Ratio?

Menschliches Transformationspotential im Spiegel des Strebens nach Künstlicher Superintelligenz

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    Die Grundidee des Forschungsfeldes Künstliche Intelligenz (KI) ist es, Software zu kreieren, die intellektuelle Aufgaben ohne den und an Stelle des Menschen lösen kann.1 Viele Theorien und Methoden der KI-Forschung basieren auf Theorien des menschlichen rationalen Denkens.2 Einige sind gar an die Struktur des menschlichen Gehirns angelehnt.3 Das KI-Forschungsfeld sucht also Wege, wie die Menschheit eine bis anhin ihr eigene Fähigkeit – das rationale Denken – der Technologie offerieren kann. Deshalb könnte man das KI-Forschungsziel auch eine Imitation des rationalen Denkens nennen. Das Ziel vieler Forscher ist es, das menschliche rationale Denken komplett zu imitieren. Diese sogenannt ‘Starke KI’ könnte jede intellektuelle Aufgabe so lernen und verstehen wie ein Mensch.4 Überstiege die künstliche gar die menschliche Intelligenz, spräche man von Künstlicher Superintelligenz (KS).5 Starke KI und KS sind hypothetische Zustände, über deren Realisierbarkeit die Wissenschaftler streiten.6 Vor allem die KS tun viele als Scifi ab.

    Ob KS je existieren wird, steht hier nicht zur Debatte. Man kann eine Welt mit KS heute nicht beobachten und soll hier nicht über Scifi-Szenarien fantasieren. Die Basis der nachfolgenden Gedanken ist eine andere Beobachtung: Die KI-Forschung strebt nach KS. In anderen Worten: Der Endzweck der KI-Forschung ist KS. Denn die Forschung will rationales Denken immer besser künstlich herstellen. Diese immer bessere Kreation von KI würde der Idee nach nur da gestoppt, wo diese KI so gut wird, dass sie als ‘Starke KI’ oder dann als KS das Kreieren selbst übernehmen würde.

    Die Beobachtung dieses Strebens nach KS scheint legitim: Neugier und Forschungstrieb des Menschen sind nicht neu. Sie haben schon vor dem Ausprobieren der Atombombe nicht halt gemacht. Auch die KI-Forschung hat mit hoch automatisierten Kampfdrohnen-Schwärmen die Kriegspraxis von investitionskräftigen Staaten inzwischen im Griff.7 Die Forschung schreitet auch enorm rasant voran und wird kräftig finanziert. Experten schätzen die globalen KI-Investitionen per 2025 auf 180 Milliarden Franken.8 Diese Beobachtungen werfen eine wichtige Frage auf:

     

    Welches Licht wirft das Streben nach KS auf den Menschen?

    Seine rationale Denkfähigkeit hat dem Homo sapiens einen herausgehobenen Status der Evolution beschert.9 Deshalb ist seine Spezies auf der Erde bis jetzt fast nur mit sich selbst konfrontiert.10 Mit KS würden die Menschen intellektuell, eventuell gar physisch und biologisch,11 aber etwas kreieren, wogegen sie womöglich verlieren würden. Ein Streben nach KS wäre also ein Streben nach Veränderungen der Konkurrenzbedingungen der menschlichen Spezies. Diese Veränderungen wären derart, dass das Merkmal ‘Ratio’, welches den Menschen höchst adaptiv und kaum angreifbar macht, sein Überleben wohl nicht mehr garantieren könnte. Der Mensch müsste sich also verändern, um zu überleben. Und diese Veränderung müsste von seiner Ratio unabhängig sein. Die Frage ist also Folgende:

    Gibt es für den Menschen neue Entwicklungsmöglichkeiten, die nichts mit rationalem Denken zu tun haben? Bildlich gesprochen wäre es so: Wenn das Streben nach KS ein Spiegel wäre, in dem sich der Mensch betrachten wollte, könnte er dann in sich selbst neue, vom rationalen Denken unabhängige Entwicklungsmöglichkeiten erkennen? Könnte der Mensch biologisch und intellektuell so verharren, wie er ist, und über sein rationales Denken hinauswachsen? Könnte er eine Art Intellekt erwerben, der sich qualitativ vom rationalen Denken unterscheidet?

    Und, wenn ja, wie? Wäre es ein Weg der Evolution, auf welchem der Mensch ein neues biologisches Merkmal entwickeln könnte? Leider kann man das im Voraus kaum beantworten. Denn neue Merkmale entstehen stets nur zufällig.12 13 Die Evolution ist kein kreativer Prozess. Sie hat kein Ziel. Hier wird aber ganz klar nach einer möglichen Entwicklung hin zu einem Ziel – dem Transzendieren des rationalen Denkens – gefragt. Wenn dieser Entwicklungsweg existiert und beschritten werden soll, muss also der Mensch irgendwie tätig werden. Deshalb wäre es kein Weg der Evolution, sondern eher einer der ‘gewollten Transformation’ des menschlichen Wesens.

    Die Frage, wie der Mensch über sein rationales Denken hinauswachsen könnte, muss man also aktiv angehen. Eine grosse Hürde ist Folgende: Kann der denkende Mensch überhaupt über diese Frage nachdenken? Einerseits sollte die Existenz eines a-rationalen Entwicklungswegs rational denkend zumindest annehmbar sein. Sonst wäre dieser Text selbst unsinnig. Aber andererseits: kann man denn einen a-rationalen Entwicklungsweg rational denkend beschreiten?

    Damit dies möglich wäre, müsste der Mensch aus seinem rationalen Denken herauskommen können, indem er rational denkt. Ist das machbar, oder kann der rationale Mensch stets nur an der ‘Wand seines rationalen Denkens’ entlang denken? Müsste der Mensch über sein rationales Denken vielleicht nicht rational nachdenken, sondern sein Denken auf eine andere Art und Weise betrachten? Wie käme er aber dahin? Müsste das rationale Denken vielleicht einer Art intuitivem Transformationswillen Platz machen? Ist ein solcher im Menschen selbst schon verborgen angelegt und er müsste sich diesem gegenüber ‘lediglich’ öffnen? Oder müsste der Mensch diesen Willen selbst kreieren? Und wie könnte man ein solches neues geistiges Element, wenn es denn gefunden wäre, in eine global verständliche Sprache übersetzen? Wer wäre der Übersetzer?

    Eine Kaskade von Fragen – aber soll man sie sich stellen? Man könnte das Transformationsproblem mit der Begründung, dass KS wohl sowieso nie existieren wird, ja auf die lange Bank schieben oder als Spielerei abtun. Gleichzeitig könnte eine Auseinandersetzung mit dieser Frage aber auch ein grosses Potential für den Menschen und die Menschheit haben:

    Es scheint plausibel zu sagen, dass das heutige menschliche Selbstverständnis ein globales Zusammenleben kreiert hat und noch immer kreiert, das viele Krisen hervorbrachte14 und immer noch hervorbringt. Natürlich täte man ihm unrecht, wenn man den Menschen auf sein rationales Denken reduzieren würde. Er besitzt auch eine hohe emotionale und körperliche Intelligenz.15 Aber an einer ganzheitlichen Wahrnehmung und einem (Aus-) Schöpfen all dieser Merkmale scheint doch etwas im Weg zu stehen. Denn würde der Mensch in Anbetracht dieser ausserordentlichen intellektuellen Eigenschaften mit sich selbst und anderen sonst nicht respektvoller umgehen?

    Vielleicht wäre der Weg der Transformation, den die Menschen im Hinblick auf die angestrebte KS einschlagen könnten, eine Möglichkeit für eine ganzheitlichere Eigen- und Fremdwahrnehmung? Vielleicht bietet die angestrebte KS dem Menschen eine Chance, in eine zufriedenere Vernünftigkeit, gar in eine kultivierte Einsicht, wachsen zu können?16

     

    Was wäre in diesem Zusammenhang die Rolle einer gelungenen Philosophie?

    Vorab müsste man ein klares Argument dafür aufstellen, dass man ein solches menschliches Potential einfach mal in Betracht ziehen sollte. Dazu kann man vorweg nur anführen, dass das Recht zu behaupten, dass dieses Potential nicht existiert, nicht stärker ist als das Recht zu behaupten, dass es existiert.

    Dann könnte die Philosophie den Menschen auf diesem Weg auch begleiten und unterstützen, indem sie die oben skizzierten Fragen systematisch aufwirft, bearbeite, und Antworten sucht. In diesem Sinne wäre gelungene Philosophie gleichzeitig ein tiefes Ernstnehmen einer aktuellen Epoche und ein reflexives Instrument auf dem Weg eines menschlichen ‘Werdens’ zu einer allenfalls neuen Manifestation des menschlichen ‘Seins’.

    Diese Auseinandersetzung mit dem beschriebenen Spiegelbild könnte dann vielleicht auch für die Frage, ob KS je existieren wird, aufschlussreich sein. Wer weiss, womöglich würde ein neues menschliches Selbstverständnis den Drang zum Immer-Besser ein wenig relativieren?

     


    1 Heute kann KI, z.B., fast passgenaue Filmvorschläge generieren (z.B. Netflix), medizinisch wichtige von weniger wichtigen Körperwerten unterscheiden, siehe z.B. Amisha et al., ‘Overview of Artificial Intelligence in Medicine’, Journal of Family Medicine and Primary Care 8, no. 7 (July 2019): 2328–31, https://doi.org/10.4103/jfmpc.jfmpc_440_19, fotorealistische Bilder und Videos erschaffen, siehe z.B. Generative Adversarial Networks: Antonia Creswell et al., ‘Generative Adversarial Networks: An Overview’, IEEE Signal Processing Magazine 35, no. 1 (January 2018): 53–65, https://doi.org/10.1109/MSP.2017.2765202. oder menschliche Sprache analysieren und kreieren, siehe z.B. Natural Language Processing: K. R. Chowdhary, ‘Natural Language Processing’, in Fundamentals of Artificial Intelligence, ed. K.R. Chowdhary (New Delhi: Springer India, 2020), 603–49, https://doi.org/10.1007/978-81-322-3972-7_19.

    2 Stuart J. Russell and Peter Norvig, Artificial Intelligence: A Modern Approach, Prentice Hall Series in Artificial Intelligence (Englewood Cliffs, N.J: Prentice Hall, 1995), 6-7.

    3 Das menschliche Gehirn dient als Inspirationsquelle von sogenanntem ‘Deep Learning’. Siehe z.B. Ian Goodfellow, Yoshua Bengio, and Aaron Courville, Deep Learning, Adaptive Computation and Machine Learning (Cambridge Massachusetts, London England: The MIT Press, 2016).

    4 Russell and Norvig, Artificial Intelligence., 29.

    5 Nick Bostrom, ‘Ethical Issues in Advanced Artificial Intelligence’, in Machine Ethics and Robot Ethics, by Wendell Wallach and Peter Asaro, ed. Wendell Wallach and Peter Asaro, 1st ed. (Routledge, 2020), 69–75, https://doi.org/10.4324/9781003074991-7. Der Moment, in dem KI die menschliche Intelligenz übertrifft, wird oft als Technologische Singularität bezeichnet, ‘TECHNOLOGICAL SINGULARITY by Vernor Vinge’, accessed 18 September 2020, https://frc.ri.cmu.edu/~hpm/book98/com.ch1/vinge.singularity.html.

    6 Berühmte Singularisten sind, z.B., Raymond Kurzweil: Ray Kurzweil, The Age of Spiritual Machines: When Computers Exceed Human Intelligence, A Penguin Book (London: Penguin Books, 1999)., Ray Kurzweil, The Singularity Is near: When Humans Transcend Biology (New York: Penguin books, 2006).oder Bill Joy: ‘Why the Future Doesn’t Need Us | WIRED’, accessed 18 September 2020, https://www.wired.com/2000/04/joy-2/. Skeptiker sind Jaron Lanier, Chefstratege by Microsoft, Mitch Kapor, Gründer von Mozilla, Microsoft-Mitbegründer Paul Allen, oder Jaan Tallin, Mitbegründer von Skype. Für eine gute Diskussion und Gegenüberstellung von Singularisten und Skeptikern siehe z. B. Kurt Andersen, ‘Enthusiasts and Skeptics Debate Artificial Intelligence’, Vanity Fair, accessed 18 September 2020, https://www.vanityfair.com/news/tech/2014/11/artificial-intelligence-singularity-theory.

    7 V.a. die Türkei machte mit ihren kürzlich erworbenen Schwarmdrohnen des Typs ‘Kargu’ kürzlich Schlagzeilen: STM, ‘STM - KARGU’, STM, accessed 18 September 2020, https://www.stm.com.tr/kargu-autonomous-tactical-multi-rotor-attack-uav.

    8 ‘Global AI Investment to Top £150 Billion by 2025’, Outside Insight (blog), 31 July 2019, https://outsideinsight.com/insights/global-ai-investment-150-billion-2025/.

    9 ‘Evolution des Geistes: Wie der Mensch das Denken lernte’, accessed 18 September 2020, https://www.spektrum.de/magazin/wie-der-mensch-das-denken-lernte/828592.

    10 Der Kampf zwischen Menschen und Mikroben scheint allerdings noch nicht entschieden. Gleichzeitig scheint es auch plausibel zu sagen, dass die menschliche Ratio den Menschen gegen Erreger nicht schlecht ausrüstet, hat er doch in der Geschichte der Epidemien bis jetzt einige nennenswerte Erfolge erzielt (z.B. Pest-Impfung, erfolgreiche Eindämmung der Cholera-Pandemien, Impf- und Bekämpfungsprogramme von Pocken).

    11 Mithilfe von Tissue Engineering oder ‘Gewebezucht’ wird biologisches Gewebe künstlich hergestellt, siehe z.B. Aldo R. Boccaccini et al., ‘A Composites Approach to Tissue Engineering’, in 26th Annual Conference on Composites, Advanced Ceramics, Materials, and Structures: B: Ceramic Engineering and Science Proceedings (John Wiley & Sons, Ltd, 2008), 805–16, https://doi.org/10.1002/9780470294758.ch90.

    12 Neue Merkmale sind stets eine Art Nebenprodukt von ‘Fehlern’, die bei der Weitergabe von Erbgut von Generation zu Generation auftreten. Wenn die Samenzelle des Vaters und die Eizelle der Mutter miteinander verschmelzen, entsteht die allererste Zelle des neuen Menschen. Sie enthält das Erbgut (Genom). Dieses enthält – verschlüsselt – die gesamte Bauanleitung für den späteren menschlichen Körper, zu dem sie werden wird. Bei jeder Zellteilung wird das gesamte Erbgut kopiert und an die beiden neuen Zellen weitergegeben. Bei dieser Kopie können Fehler auftreten.‘Evolution des Geistes’.

    13 Ideen des sogenannten ‘Transhumanismus’ könnte man vielleicht als eine Art ‘künstliche Evolution’ bezeichnen. Der Transhumanismus diskutiert Ideen, wie der Mensch mittels neuer Technologien künstlich aufgewertet werden und mit potentieller KS in Konkurrenz treten könnte. Bis jetzt werden grob zwei Ideen diskutiert: Entweder der Mensch verschmilzt mit technologischen Implantaten und wird zu einer Art Hybrid-Wesen, das mit KS konkurrieren könnte. Siehe z.B. ‘Elon Musk Unveils Plan to Build Mind-Reading Implants: “The Monkey Is out of the Bag”’, the Guardian, 17 July 2019, http://www.theguardian.com/technology/2019/jul/17/elon-musk-neuralink-brain-implants-mind-reading-artificial-intelligence. Robert M. Geraci, Apocalyptic AI: Visions of Heaven in Robotics, Artificial Intelligence, and Virtual Reality, Reprint Edition (New York; Oxford: Oxford University Press, 2012). Oder der Forschung gelingt es, das menschliche Genmaterial derart zu manipulieren, dass die menschliche Biologie schwieriger auszurotten wäre. Siehe hierzu z.B. Raya Bidshahri, ‘The Power to Upgrade Our Own Biology Is in Sight—But Is Society Ready for Human Enhancement?’, Singularity Hub (blog), 15 February 2018, https://singularityhub.com/2018/02/15/the-power-to-upgrade-our-biology-and-the-ethics-of-human-enhancement/. Diese Ideen bergen jedoch zwei Probleme: Einerseits wären solche Upgrades wohl mit enormen Kosten verbunden, weswegen sie sich nicht alle Menschen leisten könnten. Ein Ungleichgewicht zwischen technisch-biologisch verbesserten Menschen und denjenigen, die es nicht sind, wäre ethisch sehr schwierig zu rechtfertigen. Andererseits bergen vor allem Ideen einer Genmanipulation mit dem Ziel eines stark verlängerten Menschenlebens das Risiko einer Übervölkerung der Erde. Ohne Veränderung im Weltwirtschafts- und Finanzsystem würde dies wohl auf grosse Teile der Erdbevölkerung enormen existentiellen Druck ausüben.

    14 Und manche natürlich wunderbar bewältigte.

    15 Siehe z.B. John D. Mayer, Richard D. Roberts, and Sigal G. Barsade, ‘Human Abilities: Emotional Intelligence’, Annual Review of Psychology 59, no. 1 (January 2008): 507–36, https://doi.org/10.1146/annurev.psych.59.103006.093646.

    16 Da dieses Potential wohl von jedem einzelnen Menschen ergriffen werden könnte, könnte es auch alle nationalen, sozialen, religiösen oder andere Grenzen und Hierarchien transzendieren. Womöglich wäre alles, was aus diesem Potential erwächst, von diesen Grenzen ebenso unabhängig.