Genomeditierung

Genetischer Essentialismus und die Normativität der menschlichen Keimbahn

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    Dem menschlichen Genom kam in den 1990er Jahren große Aufmerksamkeit in der Wissenschaft und Öffentlichkeit zu. Dies war vor allem auf das Human Genome Project zurückzuführen, einem von 1990-2003 durchgeführten internationalen Forschungsprojekts, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, das menschliche Genom vollständig zu entschlüsseln.

    In die Dekodierung des menschlichen Genoms wurden sehr große Erwartungen gesetzt. Das Genom wurde mit dem Bauplan des Menschen („genetic blueprint“) und die Entschlüsselung des Genoms mit der Entschlüsselung des „book of life“ verglichen.[1] Mit dem wissenschaftlichen Prestigeprojekt verbunden war natürlich auch die Hoffnung, dass die Entschlüsselung des „menschlichen Bauplans“ der Humanmedizin neue Werkszeuge oder zumindest Ansatzpunkte zur Diagnostik, Prävention und Therapie schwerer Erkrankungen liefern würde.

    An diese medizinischen Hoffnungen schlossen auch unmittelbar die Befürchtungen derjenigen an, die mit dem genetischen Wissen zugleich die Möglichkeit der genetischen Manipulation des Menschen, insbesondere der menschlichen Keimbahn gegeben sahen. Die dystopischen Befürchtungen wurden im Jahre 1996 durch die Geburt des Schafes Dolly, dem ersten, erfolgreich aus ausdifferenzierten Körperzellen geklonten Säugetiers, weiter bestärkt. Nicht zufällig stammen aus der Zeit des Human Genome Projects viele der nationalen Gesetzgebungen und Regelungen, die (bis heute) gezielte Eingriffe in die menschliche Keimbahn verbieten und unter Strafe stellen (z.B. in der Schweiz oder Deutschland). Gemäß diesem Zeitgeist erklärte die UNESCO im Jahre 1997 das menschliche Genom in einem symbolischen Sinn zum Erbe der Menschheit.[2] Hierdurch wurde die Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass dem menschlichen Genom ein besonderer internationaler Schutz gebührt.

    Seit dem Jahre 2015 steht das menschliche Genom wieder verstärkt im Zentrum der öffentlichen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Grund hierfür ist, dass mit CRISPR/CAS9 ein neues und effektiveres Werkzeug der Genomeditierung zur Verfügung steht. Die Möglichkeit der gezielten Manipulation des menschlichen Genoms ist weiterhin mit einer Reihe von Hoffnungen und Bedenken verbunden. Auffallend ist allerdings, dass vor allem die gezielte Manipulation der Keimbahn auf ethische Bedenken stößt (vgl. die Geburt der genomeditierten Zwillinge im Jahre 2018 in China), während die somatische Genomeditierung bereits in einzelnen Heilversuchen und auch Studien angewandt wird, insbesondere zur Behandlung von Krebspatient*innen. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob und wie sich diese jeweils unterschiedliche normative Einschätzung der Keimbahnintervention und somatischen Genomeditierung begründen lässt?

    Drei mögliche Argumentationsstrategien lassen sich unterscheiden[3]:

    1. der Einwand, dass Keimbahninterventionen ein weitaus ungünstigeres Risiko-Nutzen-Profil aufweisen als die somatische Genomeditierung,

    2. die Befürchtung, dass gezielte Keimbahneingriffe in besonderer Weise individuelle Rechte potentiell Betroffener verletzen könnten,

    3. die Auffassung, dass der menschlichen Keimbahn ein besonderer normativer Status zukommt und gezielte Eingriffe daher prinzipiell als ethisch bedenklich anzusehen sind.

    An dieser Stelle kann nur kurz auf die letzte Möglichkeit eingegangen werden, die – so meine These – eng an die im Human Genome Project verkörperte Vorstellung des Genoms als Bauplan des Menschen und eines hiermit verbundenen „genetischen Essentialismus“ anschließt. Mit einem genetischen Essentialismus ist an dieser Stelle die Auffassung gemeint, dass unser Genom und die gemeinsame Keimbahn ein essentieller und notwendiger Bestandteil der menschlichen Natur oder unserer Identität sind, d.h. in einer grundlegenden Weise uns selbst als Menschen und als Teil der Menschheit bestimmen. Gemäß einer derartigen Auffassung stellen Keimbahninterventionen notgedrungen tiefgreifende Eingriffe in die Natur und das Wesen des einzelnen Menschen oder gar der Menschheit dar.

    In seinem Buch „Dance to the Tune of Life” entwickelt der Biologe Denis Noble die Vorstellung eines „biologischen Relativismus“.[4] Ebenso wie die Menschheit sich einst von der Überzeugung verabschieden musste, dass unser Planet das Zentrum des Universums darstellt, müssen wir uns laut Denis Noble in dem mittlerweile angebrochenen, post-genomischen Zeitalter von der Vorstellung lösen, dass das Genom das Zentrum des Organismus darstellen. Organismen sind laut Noble komplexe Netzwerke, in denen das Genom nur ein Element, eine Betrachtungsebene unter vielen darstellt. Auf der Grundlage eines derartigen biologischen Relativismus lassen sich Keimbahninterventionen nicht so leicht als tiefgreifende Eingriffe in die Natur und das Wesen der Menschen darstellen. Natürlich lassen sich auch unter den Vorzeichen eines „biologischen Relativismus“ noch Sicherheitsbedenken oder Bedenken hinsichtlich der gesellschaftlichen Folgen einer Legalisierung der Keimbahninterventionen anbringen. Derartige Einwände sind aber unter die oben genannten, ersten beiden Argumentationsstrategien zu subsumieren. Ein besonderer normativer Status der menschlichen Keimbahn lässt sich hierauf nicht gründen.

    An diese stark verkürzte Darstellung schließen sich aus philosophischer Sicht natürlich eine Reihe von weitergehenden Fragestellungen an. Zu klären wäre insbesondere, welche Vorstellungen der menschlichen Keimbahn und des uns vererbten Genoms hier jeweils involviert sind. Der Begriff des menschlichen Genoms kann sich zum einen auf das materielle Substrat, d.h. die DNA und Moleküle in unseren Zellen beziehen. Zum anderen kann hiermit auch die Gesamtheit der uns vererbten Informationen gemeint sein, womit vornehmlich die Gene als funktionale Einheiten und die hierauf aufbauenden Genotypen gemeint sind. Weitere Verwendungsweisen in der Humangenetik sowie den biologischen Grundlagenwissenschaften lassen sich hier anschließen.

    Einer schärferen Konturierung bedarf auch der Begriff des genetischen Essentialismus sowie seines Verhältnisses zu benachbarten Begriffen, wie etwas derjenige des genetischen Determinismus und genetischen Reduktionismus. Insofern der genetische Essentialismus durch die Vorstellung begründet ist, dass unser Genom und die gemeinsame Keimbahn einen essentiellen und notwendigen Aspekt unserer Identität, menschlichen Natur oder gar der Menschheit als Ganzes ausmacht, ist auch zu klären, wie dieser sich in Konzepten der Elternschaft, insbesondere im Kontext der assistierten Reproduktion niederschlägt. Ein Großteil der neueren (z.B. Mitochondrien-Transfer) und bereits länger angewandten (z.B. IVF, ICSI, Samen- und Eizellspende, Leihmutterschaft) Techniken der assistierten Reproduktion zielen darauf ab, Paaren und Einzelpersonen die Chance auf ein (zumindest zum Teil) genetisch verwandtes Kind zu geben. Hiermit wird der Keimbahn eine besondere Aufmerksamkeit und besonderer Status zugesprochen, der sich auch in dem weitestgehend anerkannten Recht des Einzelnen auf Kenntnis der eigenen genetischen Abstammung wiederspiegelt.


    Literatur

    [1] New York Times. Reading the book of life. White House remarks on decoding of genome. 21. Juni 2000. https://www.nytimes.com/2000/06/27/science/reading-the-book-of-life-white-house-remarks-on-decoding-of-genome.html, abgerufen am 05.05.2020.

    [2] UNESCO (1997). Universal declaration on human genome and human rights. http://www.unesco.org/new/en/social-and-human-sciences/themes/bioethics/human-genome-and-human-rights, abgerufen am 05.05.2020.

    [3] Engelhardt, T. H. Jr. (1998). Human nature genetically re‐engineered: Moral responsibilities to future generations. In E. Agius & S. Busuttil (Hrsg.), Germ‐line intervention and our responsibilities to future generations (pp. 51–63, p. 53). Dordrecht, Boston, London: Kluwer Academic Publisher.

    [4] Noble, Denis (2016). Dance to the Tune of Life. Biological relativism. Cambridge: University Press.