Beitrag von Erika Eschebach

Gedanken zur ostpreußischen Heimat

Ich habe den Text ausgewählt, weil die Erinnerung von Siegfried Lenz an seine ostpreußische Heimat mir von Kindheit an vertraut war. Meine Mutter und ihre Familie stammen aus Danzig, die Familie meines Vaters kommt aus Wehlau in Ostpreußen. Die Erzählung beider Familienstränge machte mir von klein auf deutlich, dass Niedersachsen, wo ich geboren bin, nur ein Zufallsprodukt des Zweiten Weltkrieges gewesen ist, dass die Heimat sich eigentlich ganz woanders befand. Die Stadt Danzig an der Ostsee und die ostpreußische Landschaft am Pregel waren Sehnsuchtsorte – auch für mich. Diese frühkindliche Prägung ist nie ganz verloren gegangen.

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    So habe ich mich für Siegfried Lenz´ Liebeserklärung an seine ostpreußische Heimat (Masuren) entschieden, nämlich aus Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken, Hamburg 1955

    Schlussbemerkung: Diskrete Auskunft über Masuren

    „Im Süden Ostpreußens, zwischen Torfmooren und sandiger Öde, zwischen verborgenen Seen und Kiefernwäldern waren wir Masuren zu Hause – eine Mischung aus pruzzischen Elementen und polnischen, aus brandenburgischen, salzburgischen und russischen.

    Meine Heimat lag sozusagen im Rücken der Geschichte; sie hat keine berühmten Physiker hervorgebracht, keine Rollschuhmeister oder Präsidenten; was hier vielmehr gefunden wurde, war das unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft: Holzarbeiter und Bauern, Fischer, Depotarbeiter, kleine Handwerker und Besenbinder. Gleichgültig und geduldig lebten sie ihre Tage, und wenn sie bei uns miteinander sprachen, so erzählten sie von uralten Neuigkeiten, von der Schafschur und vom Torfstechen, vom Vollmond und seinem Einfluss auf neue Kartoffeln, vom Borkenkäfer und von der Liebe. Und doch besaßen sie etwas durchaus Originales – ein Psychiater nannte es einmal die >unterschwellige Intelligenz<. Das heißt: eine Intelligenz, die Außenstehenden rätselhaft erscheint, die auf erhabene Weise unbegreiflich ist und sich jeder Beurteilung nach landläufigen Maßstäben versagt. Und sie besaßen eine Seele, zu deren Eigenarten blitzhafte Schläue gehörte und schwerfällige Tücke, tapsige Zärtlichkeit und eine rührende Geduld.

    Die hier vorliegenden Geschichten und Skizzen sind gleichsam kleine Erkundungen der masurischen Seele. Sie stellen keinen schwermütigen Sehnsuchtsgesang dar, im Gegenteil: diese Geschichten sind zwinkernde Liebeserklärungen an mein Land, eine aufgeräumte Huldigung an die Leute von Masuren. Selbstverständlich enthalten sie kein verbindliches Urteil – es ist mein Masuren, mein Dorf Suleyken, das ich hier beschrieben habe.

    Suleyken, wie es hier vorkommt, hat es natürlich nie und nirgendwo gegeben; es ist eine Erfindung, so wie die Geschichten auch zum größten Teil Erfindung sind. Aber ist es von Wichtigkeit, ob dieses Dörfchen bestand oder nicht? Ist es nicht viel entscheidender, dass es möglich gewesen wäre? Gewiss, dass ist zugegeben, wird in diesen Geschichten ein wenig übertrieben  - aber  immerhin, es wird methodisch übertrieben. Und zwar in der Weise, dass das besonders Eigenartige hervorgehoben wird und das besonders Charakteristische zum Vorschein kommt. Insofern steht das bewährte Mittel der Übertreibung ganz im Dienst der Wahrheitsfindung. Aber das ist, alles in allem, auch von geringer Bedeutung, wenn wir uns nur einig wissen in unser grübelnden Zärtlichkeit zu Suleyken.“