Beitrag in freiem Stil von Thomas Telios

Die Heimat gibt es nicht, ich habe aber mehrere…

Sobald es mich gibt, gehöre ich – so wurde es mir immer vermittelt – einer Heimat.

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    Jedoch wer hat mir schlussendlich die Welt beschert, der ich fortan gehören sollte? Gehöre ich dem Leib meiner Mutter, dem Sperma meines Vaters, den Händen der Hebamme, oder den Brillen des Arztes, der sich über die offenen Beine meiner Mutter beugt?

     

    Die Heimat gibt es nicht, ich habe aber mehrere…

     

    Gehöre ich den Wehen meiner mir noch unbekannten Trägerin, dem Lachen der Geburtshelferin, ihren Händen, die mich als erste in diese Welt tragen, den Falten ihres Gesichts, die sich, angespannt durch Müdigkeit und schlecht bezahlter Arbeit, durch meinen Anblick entspannen, oder dem Tuch, mit dem sie mich umwickelt?

     

    Die Heimat gibt es nicht, ich habe aber mehrere…

     

    Ist dieses Tuch, das mich aufnimmt (noch bevor die Brustwarze meiner Mutter mich erobert, einnimmt und mich lebenslang an sie bindet), die Gegenleistung investierter Versicherung, die sozialstaatliche Errungenschaft von fleißig einbezahlten Krankenkassenbeiträgen, oder Produkt vom Schweiß eines_r Billiglohnarbeitenden aus einem fernen Land, dem_r ich die Wärme meiner ersten Momente zu verdanken habe? Gehöre ich der Versicherungsfirma, die im Tuch ihren vertraglichen Verpflichtungen entgegenkommt, der Krankenkasse, die mich durch das Tuch willkommen heißt, dem Präsidenten des „Krankenhaus AG“, der an diesem Tuch seine erworbene kaufmännische Tugend beweist, oder dem Großhändler, der es geliefert hat?

     

    Die Heimat gibt es nicht, ich habe aber mehrere…

     

    Gehöre ich anhand des Tuches dem Gesetzgeber des Staates, auf dessen Boden ich zuerst die Welt erblickte, zwischenstaatlichen Zusammenarbeitsverträgen, die Ausbeutungen etablieren, damit – offensichtlich mir zugunsten – solche Tücher zu den denkbar niedrigsten Preis hergestellt werden können, den Händen der Arbeitenden, die sie produziert haben, der Not ihrer Kinder, die diese Arbeitenden – falls sie doch selber keine Kinder sein sollten – zu einer solchen Arbeit gezwungen hat, den Rücken derjenigen, die die Wolle gesammelt oder die Chemikalien gemischt haben, damit dieses Tuch zustande kommt, oder den atemlos arbeitenden Nähmaschinen, den riesigen Ernte- und Sämaschinen, den schäbigen Wänden, die die Teilprozesse des ganzen Produktionsprozesses und Arbeitsverlaufs still beherbergt und überwacht haben und hinter denen sich weitere solche Verhältnisse verstecken?    

     

    Die Heimat gibt es nicht, ich habe aber mehrere…

     

    Und nachdem ich meine erste Milch getrunken habe, werde ich nach Hause gebracht und lasse mich mit rosa oder blauen Klamotten anziehen, damit ich einem gewissen Gender angehöre; lasse ich mich von bestimmten Bezugspersonen erziehen, damit ich einer Familie angehöre; gehe zu bestimmten Schulen, damit ich einer distinktiven Klasse zugehöre; werde mit bestimmten Idealen gefüttert, damit ich einer Religion oder Nationalität zugehöre; bekomme Rechte, damit mir Pflichten zugewiesen werden; und werde selbstständig, ohne jeher mich für irgendwas entschieden zu haben.

     

    Die Heimat gibt es nicht, ich habe aber mehrere…

     

    Und dann begegne ich dir und du fragst mich, woher ich komme. Und ich weiß nicht, warum du fragst. Um dich mir anzunähern? Um mich zu verstehen? Um dich von mir zu distanzieren und dich selbst dadurch zu bestimmen und verstehen? Um zu meinen, jetzt: nach dem du mich ausgeschlossen hast und dadurch zu dich selbst geworden bist und deine eigenen Kriterien und Kategorien erstellt hast, mich erneut entschlüsseln zu können? Um mich mit etwas in Verbindung zu bringen, was du vermeintlich als das Meinige kennst, selbst wenn dies mir – genauso wie dir – von aussen auferlegt und verinnerlicht, ja, verkörperlicht wurde, ohne dass wir – siehst du? Denn wir gehören zusammen – jemals gefragt wurden, den Meinigen oder den Deinigen anzugehören und an welchem Punkt wir uns zum ersten Mal tatsächlich treffen?

     

    Die Heimat gibt es nicht, ich habe aber mehrere…

     

    Und dann sprichst du von deinen Seen und meinem Meer, von Flüssen und hügeligen Landschaften, von gewissen Ordnungen und Mentalitäten, von Lebensweisen und Moralprinzipien, von Sozialisationsarten und Grundrechten, von Symbolen, Paraden und heroischen Geschichtsseiten, von Partizipationsformen und Öffentlichkeitsstrukturen, von kollektiven Staatsformen und individuellen Selbstverständnissen, von pünktlichen Zügen und aktualisierten Busfahrplänen, von Essens, Trink- und Kaffeekultur, von Schönheitsidealen und attraktiven Körpertypen, vom Modegeschmack und ästhetischen Urteilsregeln, vom Wahnsinn der Andersheit und von der Rationalität der Eigenheit, von militanter Toleranz und in Grenzen gehaltener Differenz, von Offen- und Geschlossenheit; schließlich von all denen, die in dir eine bequeme, vertraute, bereichernde, heimische und sehnsüchtige Gemütlichkeit generieren, die dir erlaubt, nicht frei zu werden oder zu sein (denn genauso wie die Heimat gibt es die Freiheit auch nicht), sondern dich freiwillig bestimmen zu lassen. Und ich sehe dich an und erblicke, dass du, in dir, alle diese unerfahrbaren Relationen, denen ich – dank deiner Frage, woher ich komme – durch deine Vorsondierung, die du durch diese Frage unternommen hast, besser als du verstehe, da du mich durch diese Frage ausgestoßen hast, Anteil nehmen durfte. Und – da bin ich mir sicher – dir geht es bei der Frage, woher ich komme, nicht darum, zu wissen, welcher Galaxie oder welchem Kontinent ich angehöre, welchem fernen oder nahen Land ich mir zugehörig fühle, aus welchem Dorf, Viertel oder Bezirk ich stamme, welche soziale Herkunft, sexuelle Verortung, religiöse Einstellung, politische Positionierung ich für mich beanspruche. Denn du bist ebenfalls in diesem Κykeon von Identifikationsmodellen angeheftet, denen du  – so wenig wie ich – auch nicht entgehen kannst und deren Produkt du – genauso wie ich – bist. Und darin treffen wir uns zum zweiten Mal. Aber weder ich noch du sind uns dessen bewusst. Denn das dürfen wir nicht. Denn die Heimat soll es geben.

     

    Die Heimat gibt es aber nicht, ich habe aber mehrere…

     

    Ich gebe aber nach und gehe auf dein Gedankenspiel ein, es gäbe so etwas wie die Heimat. Welcher Heimat würden wir denn beide gehören? Denn nicht mal Geschwister können derselben Heimat gehören. Die Heimat der Söhne ist eine privilegiertere als die Heimat der Töchter, die Heimat der Erstgeborenen eine traditionellere als die der Jüngeren, die der Anständigen eine ruhigere und glattere, als die der Unartigen. Genauso wie die Heimat der Besitzenden eine reichlichere als die der Abhängigen ist, die der Obrigkeit eine glänzendere als die des Populus, die der jeweils Einheimischen eine vielversprechendere als die der jeweils Fremden, die der Richtigen, eine überlegenere als die der Falschen, die der Wahren, eine echtere als die der Besonderen und im Rahmen eines Heimatskonzepts, das sich an der Gleichheit misst, nur die Gleichgeschlechtlichkeit bei der Liebe wird verworfen, verboten und verfolgt. Und damit nicht zu Ende. Die Heimat der Männer ist eine andere als die der Frauen, die der Tragenden eine anstrengendere als die der Zeugenden, die der Arbeitenden eine sicherere als die der Arbeitslosen, die der Älteren eine bevorrechtigte als die der Jüngeren und die der Weißen eine breitere als die der Farbigen, selbst wenn beide den selben Passen teilen und unabhängig davon, ob der Farbigen der Pass der offizielle ist. Und nicht mal die sakrosankte Bürokratie kann sich nicht objektiv als unsere gemeinsame Heimat hervortreten. Nicht alle können sich ähnlich verteidigen lassen und manche können leichter von höheren Gerichtsbarkeitsinstanzen für sie Gerechtigkeit sprechen lassen. Manche können es sich leisten, zu kandidieren und für ‚unsere‘ Heimat politisch zu engagieren. Und diese, angeblich unsere, Repräsentant_innen werden dann bestimmen, wie unsere hügeligen Landschaften aussehen werden; welche Schiffsgesellschaften unser Meer befahren werden; welche Unternehmen, die Tücher herstellen und einliefern werden, worin wir – und unsere Kinder – gewickelt werden. Diese Repräsentant_innen werden auch durch Tarifverträge den Stundenlohn der Hebamme bestimmen, die Honorare der Ärzte festlegen und meiner Mutter ermöglichen, ein besseres oder schlechteres „Krankenhaus AG“ in Anspruch zu nehmen. Sie werden auch bestimmen, ob ich zwei Mütter oder Väter haben darf, ob ich mit einer Person anderer Hautfarbe zusammenkommen darf, ob ich weiterhin prekär arbeiten werde, während Parasiten weiterhin parasitieren dürfen, ob die Produkte meiner Arbeit mir weiterhin enthalten werden, während Profite weiterhin gesammelt und gezockt werden dürfen und ob ich als Opfer von Kriegen, die sie durchführen zugunsten von Interessen, die weder die Meinigen, noch die Deinigen und umso weniger die unsrigen sind, weiterhin zur Verfügung gestellt werde.
    Und da fällt mir plötzlich ein, dass du es eigentlich bist, der_ie diese Repräsentant_innen gewählt hast, die alle Aspekte dessen, was als Heimat gelten soll, determinieren. Und dadurch wird mir klar, dass du mir eine andere Heimat bescheren könntest, wenn du wirklich wolltest, dass ich eine Heimat habe, dass ich – so wie angeblich du – auch eine Heimat habe, gar dass wir dieselbe Heimat haben. Und ich vergegenwärtige, dass du es offensichtlich nicht willst, sondern dass du es brauchst, dass wir unterschiedlichen Heimaten angehören, denn dadurch glaubst du – fremdbestimmt wie du bist – durch meine Ausgrenzung zum einen bestimmten Etwas dich hocharbeiten zu können. Und du siehst nicht ein, dass du der konstitutive Faktor von all denen bist, welche als meine Heimaten fungieren. Und dass du in deinem Körper – und nicht mal das gehört dir, sondern selbst dein Körper wurde dir gestaltet und geliefert – alle Landschaftsbilder und Mentalitäten, alle Lebensweisen und Moralprinzipien, alle Sozialisationsarten und Grundrechte, alle Symbole, Paraden und heroische Geschichtsseiten, alle Partizipationsformen und Öffentlichkeitsstrukturen, alle Staatsformen und Selbstverständnisse, alle Organisationsstrukturen und Freizeitkulturen, alle Schönheitsideale und ästhetischen Urteilsregeln, alles was als wahnsinnig oder rational, fremdes oder eigenes gilt, trägst und dass es dir überlassen ist, sie mit mir und für uns zu ändern. Und die Heimat gibt es nicht, denn ich habe mehrere, genau weil ich sowohl dem Leib meiner Mutter, dem Sperma meines Vaters, den Händen der Hebamme, und den Brillen des Arztes gehöre. Und ich gehöre gleichwertig den Wehen meiner Mutter, den Händen der Geburtshelferin und den Falten ihres Gesichts. Meine Heimaten sind die Tücher, die ausgebeuteten Arbeitenden in Drittweltländern für mich hergestellt haben, sowie die Kinder dieser Arbeitenden, die schreiend hungrig zu Hause warten. Meine Heimaten sind Tarifverträge, genauso wie der Schweiß des Geschlechtsverkehrs, der mich in die Welt brachte, oder der Schweiß der schlecht bezahlten Arbeitskräfte, der an meinen Klamotten haftet. Und all das bestimmst du und ich bin dir dankbar für die Frage, woher ich komme. Jetzt kapiere ich es endlich:

     

    Die Heimat gibt und es bist Du.