Vom Wert privater Sphären für Liebe und soziale Beziehungen

"Nur wenn man Informationen über eigene Handlungen, Ansichten, Emotionen oder Intimes nicht mit beliebigen anderen teilen muss, können Liebes- und Freundschaftsbeziehungen ent- und bestehen."

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    Ohne private Sphären im Sinne der Möglichkeit, dem Zugang anderer nicht ausgesetzt zu sein oder zumindest kontrollieren zu können, wer Zugang nehmen kann, fällt es schwer, für ein gutes Leben wichtige Beziehungen einzugehen oder aufrechtzuhalten. (Näheres zum Verständnis privater Sphären siehe Siegetsleitner 2001 und Solove 2008.)

    Dies betrifft zunächst und sehr zentral Freundschafts- und Liebesbeziehungen, zumindest von der Art, wie wir sie bislang kennen. In diese Richtung argumentierte Charles Fried bereits Ende der 1960er-Jahre (Fried 1968 und 1970) in für die Debatte seither grundlegenden Arbeiten zum Wert privater Sphären. Nur wenn man Informationen über eigene Handlungen, Ansichten, Emotionen oder Intimes nicht mit beliebigen anderen teilen muss, können Liebes- und Freundschaftsbeziehungen ent- und bestehen. Denn diese Beziehungen sind zum Teil dadurch bestimmt, eben auf dieses grundsätzlich zugestandene Vorenthalten zu verzichten. In solchen persönlichen Beziehungen wird enthüllt, was nicht jedem oder jeder zugänglich gemacht werden will. Nicht zuletzt deshalb sind die Normen, das Offenbarte nicht nach außen zu tragen, besonders stark. Umso größer ist das Entsetzen und umso tiefer der Verrat, wenn dies trotzdem passiert. Zudem lassen sich nur mit dieser gewährten Kontrolle verschiedene Grade von Intimität und Freundschaft aufbauen. Was zugestandene Möglichkeiten, dem Zugang anderer nicht ausgesetzt zu sein oder zumindest kontrollieren zu können, wer Zugang nehmen kann, hier schützen, sind persönliche Beziehungen und keinesfalls ein selbstgenügsames, egoistisches Individuum.

    James Rachels hat darüber hinaus herausgearbeitet, dass erst private Sphären im Sinne derartiger Kontrolle ermöglichen, verschiedene soziale Beziehungen auseinanderzuhalten. Denn Beziehungen zu Freundinnen oder Freunden, Kollegen oder Kolleginnen sowie Fernstehenden definieren sich nicht zuletzt dadurch, welche Arten der Zugangsgewährung ihnen entspricht. Erst dadurch ist bestimmt, was jemanden angeht und was nicht.

    Selbiges gilt für den Staat. Winston Smith, der ein Zimmer, das vermeintlich nicht überwacht wird, als sein Paradies betrachtet (2017, 256), kann sich in Georg Orwells 1984 nach einer Zeit, „als es noch eine Privatsphäre, Liebe und Freundschaft gab“ (2017, 55), nur noch schmerzlich sehnen.


    • Fried, Charles 1968: “Privacy”, in: The Yale Law Journal 77, 475–493.
    • Fried, Charles 1970: An Anatomy of Values: Problems of Personal and Social Choice. Cambridge/Mass., London: Harvard University Press.
    • Orwell, George 2017: 1984. Übersetzt von Michael Walter. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Berlin: Ullstein.
    • Rachels, James 1975: “Why Privacy is Important”, in: Philosophy and Public Affairs 4: 323–33.
    • Siegetsleitner, Anne 2001: E-Mail im Internet und Privatheitsrechte. Freiburg, München: Alber.
    • Solove, Daniel J. 2008: Unterstanding Privacy. Cambridge/Mass., London: Harvard University Press.

    Vortrag der Autorin zu „Post-Privacy? Sinn und Wert der Privatheit“: https://www.youtube.com/watch?v=99AgshEv9Xc