Die Möglichkeit der Liebe bei Martin Buber und dessen Atomismus im Personalen

Zur Aktualität von Ich und Du

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    Gleich zu Beginn des gut als eines seiner Hauptwerke zu bezeichnenden Ich und Du (erstmals erschienen 1923) stellt Martin Buber zwei Sphären des Menschseins heraus, die er bis zur gegenseitigen Ausschließlichkeit unterscheidet: das „Ich-Es“ und das „Ich-Du“. Die Sphäre des „Ich-Es“ ist die des „Erfahrens und Gebrauchens“ (Ich und Du, passim), die der Empirie und theoretischen Rationalität sowie der Technik. Im „Ich-Du“ findet eigentliche Beziehung, Begegnung statt.

    Das „Ich-Es“ ist räumlich-zeitlich und durchgehend kausal bedingt strukturiert, es ist gegenständlich (vgl. S. 4, 11, 29–33). Das „Ich-Du“ hat diese Strukturen nicht: Es fordert keinen Raum, ist unzeitlich, und die Kausalität hat darin keinen Bestand (vgl. S. 9, 30, 32f.); es ist unbedingt und ungegenständlich sowie der eigentliche Ort der Freiheit (vgl. S. 49–56). Das „Ich-Du“ ist dem „Ich-Es“ transzendent, es ist für Erfahrung und Gebrauch „nichts“ (S. 5, 11). — Dabei ist der Mensch allerdings nicht „Bürger zweier Welten“, mal in der einen, mal in der anderen Sphäre beheimatet, sondern „Ich-Es“ und „Ich-Du“ sind zwei stets präsente abstrakte Aspekte seines jeweiligen, konkreten Vollzugs (vgl. S. 12).

    Im „Ich-Es“-Aspekt ist das bewusste Ich des Menschen das erkennende und gebrauchende „Subjekt“ (S. 60) der Empirie, der theoretischen Rationalität sowie der Technik, umgeben von gegeneinander abgegrenzten Objekten (vgl. S. 4). Im „Ich-Du“ ist das bewusste Ich „Subjektivität (ohne abhängigen Genitiv)“ (S. 60), offen für die Beziehung zum grenzenlosen Du (vgl. S. 4). In den zwei unterschiedenen Seinssphären tritt also jeweils ein anderes „Ich“ hervor (vgl. S. 3): Das Ich des „Ich-Es“ ist in der Erscheinung „Eigenwesen“ (S. 60), in seiner Weise unersättlich, es hat notwendig immer Objekte zum „Erfahren und Gebrauchen“. „Das Ich des […] Ich-Du erscheint als Person“ (S. 60) und ist individuelle, je einzelne Bereitschaft und Offenheit für die Fülle der Beziehung.

    Die Ich-Du-Beziehung kann sich nach Buber an drei Arten von Gegenüber entfalten: an Naturdingen, an Mitmenschen, und an „geistigen Wesenheiten“ (vgl. S. 6f.). — Wollen wir nun ergründen, wie sich die Ich-Du-Beziehung am menschlichen Gegenüber entfaltet, und was diese Ansicht mit sich bringt.

    Die Struktur der Beziehung zum „Menschen-Du“ (S. 15) ist ihrem Wesen nach Liebe. Schon an der von Buber gewählten Bezeichnung „Menschen-Du“ ist ersichtlich, wo diese Liebe ihren Ort hat: Sie ist ausschließlich im „Ich-Du“, in der Sphäre der Beziehung und Begegnung, nicht im „Ich-Es“ — sie ist der Erfahrung transzendent. Damit besteht sie nicht in (auch noch so wonnig empfundenen) Liebes- und/oder Verliebtheitsgefühlen (vgl. S. 15, 34) — oder, so mag man Buber heute ergänzen, in irgendwelchen diesen Emotionen zugrundeliegenden neurobiochemischen Prozessen —, die sämtlich als gegenständlich, zeitlich, bedingt und begrenzt, ihren Ort im „Ich-Es“ haben. Liebe ist nicht ein unipolares Objekt, nicht ein Bewusstseinsinhalt unter vielen des Subjekts, sie ist vielmehr „zwischen Ich und Du“ (S. 15, Hervorh. i. Orig.). Sie „wirkt“ (nicht kausal gedacht, sondern in der Freiheit des „Ich-Du“) ausschließlich (vgl. S. 15) und „schöpferisch“ (S. 52) zwischen den beiden geeinzelten Polen von Ich und Du.

    Liebe, so verstanden, ist eine grundsätzliche Haltung in der Relation zum Gegenüber, nicht eine wie auch immer geartete private Emotion im Subjekt (vgl. S. 15). Sie will nicht unersättlich „erfahren und gebrauchen“, nimmt das Gegenüber nicht als Objekt der Empirie (vgl. S. 9) oder gar der Technik wahr. (Hier ist Buber gänzlich unmodern: Man bedenke nur die gegenwärtige Anzahl der „Psycho-Techniken“, die den Gegenstand „Liebe“ zu raffinieren suchen — die diesbezügliche Ratgeberliteratur, nur als Beispiel, ist mannigfach). „[D]as metaphysische und metapsychische Faktum der Liebe“ (S. 15) nach Buber ist vielmehr „ein welthaftes Wirken“ (S. 15), das in einem ganz bestimmten Sinne Sein-lassen ist: nicht als eine am Wesen unbeteiligte Gleichgültigkeit, sondern die Liebe lässt das geliebte Wesen frei in sein eigenes Sein — sie (be‑) zwingt nicht, sondern sie befreit. Liebe ist der unbedingte, engagierte, hingegebene und entschiedene (zur Entschiedenheit vgl. S. 50) Wille zum Sein des anderen. So kann der liebende Mensch an seinem Gegenüber „wirken, kann helfen, heilen, erziehen, erheben, erlösen.“ (S. 15).

    Damit ist Buber vor dem Hintergrund von Ich und Du in einem gewissen Sinne Atomist im Personalen: Beziehung ist stets nur zu einem einzelnen Du möglich. Geliebt wird, in der Sphäre der menschlichen Begegnung, je ein einzelner Mensch, nicht eine Gruppe, nicht eine Masse und nicht eine Sozietät. — Doch kennt Buber durchaus die Gemeinschaft, und zwar unterschieden nach den zwei Aspekten des Menschseins: In der Sphäre des „Ich-Es“ gibt es die „Einrichtungen“ des öffentlichen Lebens, in denen der Mensch als abgetrenntes Eigenwesen „arbeitet, verhandelt, beeinflußt, unternimmt, konkurriert, organisiert, wirtschaftet, atmet, predigt“ (S. 41). Und im „Ich-Du“ ist der/die Liebende zwar einzig, aber nicht einsam: „Liebe ist Verantwortung eines Ich für ein Du: hierin besteht […] die Gleichheit aller Liebenden“ (S. 15) — ein ideelles, diesen Gemeinsames, in dessen einzelnen Begegnungsereignissen eine verbundene Gemeinschaft von Personen wurzeln kann. (vgl. S. 52).

    Mit dem Konzept des „Ich-Du“ ist Buber imstande, in intellektuell befriedigender Weise die schöpferische, engagierte und befreiende Kraft und Fülle der Liebe nicht-reduktionistisch zu denken. So bietet er eine ernstzunehmende Alternative zum gegenwärtig so modernen Neurobioempirismus, der seinen eigenen Voraussetzungen gemäß (vom Buberschen Standpunkt aus gesehen) alles im „Ich-Es“ verortet, und in dessen Gegenstandsbereich die Bubersche Begegnung konsequenterweise keinen Platz hat. Daher ist Ich und Du beinahe ein Jahrhundert nach seinem ersten Erscheinen (da ich diese Zeilen schreibe, im Jahre 2017) noch immer — und vielleicht gerade jetzt— von höchster Aktualität.


    Literatur

    Buber, Martin: Ich und Du, Stuttgart: Reclam 1995 (Reclams Universal-Bibliothek 9342). [Ich habe eine wohlfeile Ausgabe verwendet, da die Buber-Gesamtausgabe, die den Text ebenfalls enthält, teuer und selten ist.]