Der gerechte Tyrann, Wertekulturen und Verfassungen

Dass ein Tyrann gerecht sein kann, ist eine ungewöhnliche Vorstellung für Menschen, die mit politischen Vorstellungen der Moderne aufgewachsen sind.

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    Heute verstehen wir unter einem Tyrannen einen autoritären Alleinherrscher, dem man Recht, Demokratie und den Kampf um Gerechtigkeit entgegensetzen muss. Griechische Geschichtsschreiber dagegen priesen gerechte Tyrannen, zum Beispiel den Tyrannen Kleobulos von Lindos/Rhodos (6. Jhd. v. Chr.), der zu den Sieben Weisen der griechischen Antike zählt.

    In Platons Schrift Politeia nun findet sich ein Zusammenhang von Individuum, Begehren und politischer Gemeinschaft entwickelt, der erklären hilft, welches Potential in der Figur eines gerechten Tyrannen steckt. Hier wird verständlich, warum eine jede autoritäre Tyrannei unabdingbar an der Gerechtigkeit scheitern muss, was geradewegs die Vergeblichkeit despotischer Agitationen vor Augen führt, auch wenn diese kurz- oder mittelfristig erfolgreich sein können. Ferner wird erkennbar, dass das „Tyrannische“ tatsächlich eine neutrale Größe selbst in demokratischen Verhältnissen darstellen kann, eine, die diese sogar regelrecht brauchen. Für eine Zeit wie die unsere, die wieder zunehmend mit Despoten zu tun hat, außerdem mit solchen, die demokratisch gewählt werden, und zwar von Menschen, die nicht alle unbedingt die Demokratie abschaffen wollen, liefert Platons Ansatz also wichtige Einsichten. Zugleich eröffnet er Perspektiven dafür, was es heißen kann, Gerechtigkeit als Leitprinzip von gerade auch solchen Entwicklungen im Blick zu behalten.

    Platons Schrift ist der Gerechtigkeit gewidmet, genauer gesagt dem Begehren einer Seele, die nicht-getrieben ist und darum, so Sokrates alter Freund Kephalos, Gerechtigkeit erstrebt. „Seele“, „Begehren“ und „Gerechtigkeit“, mit diesen drei Größen ist eine Anthropologie des Men­schen umrissen, die den Menschen als soziales, moralisch-politisches Wesen versteht: als ein Wesen, in dem Inneres und Äußeres in Form dieser drei Momente aufeinandertreffen.

    Gerechtigkeit verkörpert dabei das moralisch-politische Außen, nämlich das moralische und politische Scheitern oder Gelingen der menschlichen Verhältnisse. Die Seele wiederum ist die innere Instanz, in der die Kräfte des Begehrens, der Vernunft und des Mut miteinander darum ringen, das Innere, das Äußere und ihr Aufeinandertreffen zu verarbeiten; dabei kann sie entweder getrieben sein oder mithilfe von Begehren, Vernunft und Mut dem Verlangen nach Ge­rechtigkeit folgen. Das Begehren nun zieht Verbindungen zwischen dem eigenen Wollen und den Impulsen des Außen. Was nun die Beurteilung eines Tyrannen betrifft, so ist damit schon eine erste Unterscheidung eingeführt: Ein Tyrann kann getrieben oder aber nicht getrieben sein. Ist er nicht getrieben, kann er sich daran ausrichten, gerechtere Verhältnisse zu verwirklichen. Daran hat er Platon zufolge auch ein eigenes Interesse. Als Teil seiner Gemeinschaft will er auch selbst gut regiert werden und muss sich und andere darum gut regieren.

    Um einem Missverständnis vorzubeugen: Platon bildet nicht einfach eine Analogie zwischen der Seele und dem Staat/der Stadt, sondern diskutiert ausdrücklich ihre Wechselbeziehung. So fragt Sokrates im Verfassungsteil der Politeia danach, wie es einer Seele, die nach Gerechtigkeit strebt, ergeht, wenn sie in einem Gemeinwesen lebt, dessen Leitwert

    a. der Ehrgeiz ist, sie also in einer Oligarchie lebt;

    b. die Angst ist, dabei handelt es sich um eine Timokratie;

    c. die Vielen sind, sie ist Teil einer Demokratie;

    d. die Tugendhaftigkeit und Besonnenheit ist, dabei handelt es sich Platons Verständnis zufolge um eine Aristokratie;

    e. der Wille eines Einzelnen ist, sie lebt in einer Tyrannei.

    Platon argumentiert nun ungewöhnlicherweise nicht, dass die eine Verfassung besser als die andere sei, womit sich sein Ansatz grundlegend von unseren modernen politischen Bewertungsgewohnheiten unterscheidet. Denn betrachtet man die genannten Leitwerte genauer, so lässt sich gegen keinen einzelnen etwas einwenden: Ehrgeiz, Angst, die Vielen, Besonnenheit und Tugendhaftigkeit sind ebenso wie der Wille des Einzelnen wichtige, das moralische und politische Leben leitende Größen. Dass der Wille des Einzelnen, das die Tyrannei konstituierende Moment also, wichtig genommen wird, ist eine Errungenschaft, die wir des Gleichen in Form des modernen Individualismus zu praktizieren versuchen. Wenn wir in westlichen Gesellschaften das Individuum wertschätzen, tun wir folglich etwas für das Tyrannische. Aber, und das ist Sokrates Einwand, den Wille des Einzelnen hochzuhalten wird dann politisch problematisch, wenn dieser den einzigen leitenden Wert bildet. Dann gibt es nämlich nur viele, viele Einzelwillen, und diese prallen unmittelbar aufeinander. Dies wird in einem Machtkampf münden, im Falle der absoluten Tyrannei wird der Wille des anderen dem eigenen unterworfen. Eine Gemeinschaft wird destabilisiert (ähnliche Dynamiken lassen sich auch für die anderen Leitwerte ausformulieren).

    Damit eine solche Dynamik nun nicht in Gang kommt, braucht ein Leitwert eine passgenaue Ergänzung. Erhält er eine solche Ergänzung, ist er in eine Wertekultur eingegliedert. Er gilt weder isoliert noch absolut, vielmehr rückt seine Verarbeitung in den Mittelpunkt. Damit wird er als Moment einer spezifischen moralischen Kultur verstanden und praktizierbar. Zu dem Leitwert „Wille des Einzelnen“ schlägt Sokrates darum den folgenden Ergänzungswert vor:

         Wille des Einzelnen <–>    Reziprozität  (statt Kampf um die Macht und Gewalt).

    Was das Tyrannische betrifft, so heißt es zu verstehen, dass ein Einzelwille in reziproke Beziehungsverhältnisse einzubetten ist. Hierdurch wird seine Bezogenheit sichtbar und bekommt seinen Rahmen: seine Begrenzung, aber auch seinen Wirkungsraum und letztlich seinen Sinn.

    Andersherum, jemand, der despotisch handeln möchte, wird versuchen, all das außer Kraft zu setzen, was seinen Einzelwillen beeinträchtigt. Letztlich schaufelt er sich so aber sein eigenes Grab, weil es nur noch seinen Willen gibt. Denn wenn es nur noch ihn selbst und seinen Willen gibt, dann gibt es nicht einmal mehr ihn selbst, denn ein Wille ist immer auch Effekt des Begehrens und folglich einer Innen-Außen-Eigenes-Fremdes-Differenz. Anderes zum Eigenen, Fremdes auszuschalten, verabschiedet letztlich die Erfahrung der Innen-Außen-Eigenes-Fremdes-Differenz und damit das Begehren selbst.

    Um diese hingegen zu erhalten, muss Fremdes gewürdigt werden. Es als feindlich oder böse – neuerdings: „terroristisch“ – zu vereindeutigen, würdigt es nicht. Um das eigene Begehren le­bendig zu halten, muss Fremdes integriert werden, ihm Gerechtigkeit wiederfahren. Dazu muss es gerecht zugehen.

    Was also mit dem Willen eines Einzelnen geschieht, hängt von der Wertekultur ab, in der er praktiziert wird, und damit von der Verfassung, die ihn moralisch ins Spiel mit anderen bringt. Das Handeln von „Tyrannen“ derart zu situieren, erlaubt es, ihrem Wirksamkeitsbestreben mit moralischen Maßstäben und politischen Ambitionen zu begegnen. Als Teil der menschlichen Gemeinschaft ist es die Aufgabe eines jeden, die entsprechende moralische Er­gänzung zu seinem Willen zu praktizieren. Wie man mit dem den eigenen Willen Ergänzendem umgeht, damit gibt man sich als Teil einer Gemeinschaft kund und bewährt sich in einer moralischen und politischen Kultur – oder aber nicht. Ohne sich und ihr Begehren nicht selbst zu vernichten, können Tyrannen nicht „tyrannisch“ sein. Sie müssen letztlich der Gerechtigkeit Tribut zollen, so oder so. – Die Figur des gerechten Tyrannen benennt also eine Spannung, die belebt werden muss, ob einer will oder nicht: die zwischen dem Willen des Einzelnen und der Gerechtigkeit.