Pandemie – ein Neuanfang?! Fehlanzeige.

Nur eine ewige Wiederkehr des offenbar Trivialen

·

    Die Pandemie hat vieles gesellschaftlich Virulentes und Evidentes noch einmal klar vor Augen geführt. Noch einmal, das heißt: wieder. Die Katastrophe des Klimawandels oder auch das Abgeschmackte der Massentierhaltung waren vor der Pandemie ebenso evident wie heute. Soll nun COVID-19 als eine Chance verstanden werden, dass die Politik und Gesellschaft, d.h. die Politiker und Bürger, zu wirklich neuem Denken und Handeln motiviert werden?

    Die erste triviale Offenbarung der Pandemie ist: Ohne Wissenschaftler sind Politiker nicht erfolgreich. Dies zeigen eindeutig die Infektionsverläufe in Ländern mit wissenschaftsfernen Regierungen (etwa Brasilien und die USA). Die Wissenschaften leben von Hypothesen, Studien und Modellen, und die Motivation der Wissenschaftler ist es, sich der Wahrheit anzunähern. Mit der Wahrheit ist es aber im Zeitalter des Postfaktischen nicht gut bestellt. Das Wort löst einen Empörungssturm aus, und zwar nicht nur bei sog. Verschwörungstheoretikern. Es heißt gehoben, die Wissenschaftler wüssten es auch nicht, weil Wissen stets fallibel, d.h. unsicher sei. Ist nicht alles letztendlich subjektiv? Kann es überhaupt objektive Wahrheit geben, wo doch eine Letztbegründung nicht möglich ist? Und zu jeder Studie fände sich ja doch stets eine Gegenstudie, usw. Das ist der „Pilz des Postfaktischen“, der fast alle öffentlichen Diskurse infiltriert hat und droht die ganze Zivilisation zu befallen. Es ist geradezu zu einem Prinzip erhoben – dem Prinzip der Meinungsfreiheit ohne Rücksicht auf Verluste. Und das gilt nicht nur für die Bürger, sondern eben insbesondere auch für die Politiker.

    Eine zum geflügelten Wort gewordene „Banalität“ steckt in dieser Entwicklung, weil sich diese ohne Absichten ereignet. Es gibt auch Schurken des Postfaktischen, welche aus strategischen Propaganda- und Desorientierungsgründen Fake News verbreiten. Aber diese Schurken sind kein Massenphänomen. Bei der Meinungsmasse möchte eigentlich niemand das Postfaktische, nicht mal Verschwörungstheoretiker – auch sie möchten Fakten haben, alternative allerdings. Und sogar Wissenschaftler sind nicht immer vor Postfaktizität gefeit, wenn sie im Lichte des methodischen Fallibilismus und des bis heute ungelösten Sein-Sollens-Problems die Macht ihrer Argumente unter den Scheffel stellen. Es gibt nur ein einziges Gegenmittel gegen das Postfaktische: Eine beschleunigte, politisch eingebettete wissenschaftliche Aufklärung. Diese Aufklärung kann nur aus folgenden notwendigen Bedingungen bestehen: dem unermüdlichen Ermitteln des sehr Wahrscheinlichen durch empirischen Studien und regen Aufspüren von Inkonsistenzen in Theorien, sowie einer politischen Institutionalisierung der Macht des Wissens, d.h. des Zwangs der besten Argumente, und nicht zuletzt – einer radikalen Bildungsoffensive.

    Diese futuristische Aufklärung gründet selbst in einem Streben nach Wissen – nicht nach bloßer Meinung. Und Wissen lässt sich heute (im Gegensatz zu Wahrheit und Verstehen) relativ einfach auf den Begriff bringen: Wissen ist dasjenige, was aufbauend auf konsistenten Hypothesen und Theorien trotz seiner relativen – weil berechenbaren – Unsicherheit immer wieder zu treffenden und präzisen Vorhersagen führt.

    Eine wichtige Frage drängt sich in Bezug auf das Verhältnis von Wissen (Sein) und Politik (Sollen) auf: Sind Politiker besser im Entscheiden auf der Basis des Wissens als Wissenschaftler, welche die Politiker beraten? Die Hypothese lautet: Nein. Warum auch? Im Gegensatz zu Wissenschaftlern müssen Politiker zeitnah Entscheidungen treffen, auffällige, wenn es insbesondere um Leben und Tod geht. Was Politiker hier von Wissenschaftlern trennt ist also lediglich der Entscheidungsdruck im Kontext durch die übertragene Verantwortung für die Allgemeinheit. Dennoch, sowohl eine wissenschaftliche Empfehlung für die Politik als auch eine politische Entscheidung selbst muss mit besten Argumenten begründet werden. Woher kommen die Argumente der Politiker, wenn sie nicht auf Faktenwissen und Widerspruchsfreiheit gründen? Aus Intuitionen, Meinungen, Weltanschauungen?

    Ein Eingestehen der Abhängigkeit der Politik von besten Argumenten der Wissenschaften wäre ein echter Neuanfang, der in einer politischen Neugründung münden könnte. Und es bedeutet nicht unbedingt, dass bei diesem Eingestehen kein politisches Entscheiden mehr möglich wäre, etwa wenn zwei sich gegenseitig ausschließende Studien bei der Ausgestaltung eines Gesetzes vorlägen. Aber wie in der Politik gibt es auch in der Wissenschaft Mehrheiten. So sind sich beispielsweise mehr als 90% der Klimaforscher einig, dass es den menschengemachten Klimawandel und ein damit unmittelbar zusammenhängendes und rapides Artensterben gibt.

    Nicht trivial wäre allerdings zu fragen, ob nicht eine derartige Abhängigkeit der Politik von der Wissenschaft in der Bevölkerung heute als ein Kontrollverlust wahrgenommen worden wäre, was eine empirische Frage ist. Die Pandemie zeigte jedoch bereits, dass dies nicht notwendigerweise der Fall sein muss: Das unmittelbare Beratschlagen und gemeinsame Entscheiden der Politiker mit den Virologen wurde von der Mehrheit der Deutschen zunächst einmal als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen, solange allerdings bis die vierte Gewalt, die der medialen Öffentlichkeit, schließlich die Macht der besten Argumente explizit in Frage stellte. Es wurde über die Übertretung der Entscheidungsbefugnisse der Wissenschaftler diskutiert. Wissenschaftler könnten und dürften keine Bestimmer der Politik sein, schließlich folge aus dem Sein kein Sollen (vgl. z.B. „Plötzlich regieren uns Virologen“, Spiegel, 23.03.2020).

    Und dennoch: Die Pandemie offenbarte abermals, wie erfolgreich ein stärkerer Einfluss der Wissenschaften auf die Politik sein kann. Wenn es aber so erfolgreich war, warum nicht bei der Bestimmung aller Gesetze ähnlich vorgehen? Warum bekommen die alarmierenden und robusten Modelle aus der Klimaforschung nicht eine ähnlich bestimmende Kraft wie die Modelle der Epidemiologen und Virologen? Die heutige Klimalage entspricht mit hoher Genauigkeit den bereits vor 30 Jahren gemachten Vorhersagen. Müssten nicht auch hier die entsprechenden Wissenschaftler (etwa Klimaforscher, Energieforscher, Ökonomen, aber auch Psychologen, Soziologen, usw.) einen ähnlichen Einfluss auf die Legislative haben wie die Experten in der Pandemie? Es geht ja um nichts Geringeres als um die Rettung des Lebens auf dem Planeten.

    Die nicht unbedingt inopportunen Empfehlungen der heutigen Leopoldina und ähnlichen von staatlicher Förderung anhängigen wissenschaftlichen Einrichtungen reichen bei weitem nicht aus, weil diese Institutionen nicht transparent und hinreichend demokratisch legitimiert sind. Und die Talk Shows, wo die Wissenschaftler nun öfter eingeladen werden, sind keine sachlich orientierten parlamentarischen Foren. Die gängige Praxis der Politik besteht bis heute darin, die wissenschaftlichen Gutachten zu bestellen, sich die passenden auszusuchen, diese dann bloß zur Kenntnis zunehmen, und, wenn es ethisch heikel wird, einen moralischen Rat vom Deutschen Ethikrat einzuholen. Diese Praxis ist den Problemen der Gegenwart und Zukunft auf groteske Weise nicht angemessen. Die Wissenschaftler warnen, die im Zuge der Klimabewegung und auch der Pandemie beschlossenen Klima- und Sozialgesetze reichen für die Rettung des Lebens auf dem Planeten nicht aus. Hier offenbart sich also abermals der Titanic-Charakter des etablierten Systems, das sich nur scheinbar durch die Pandemie ein Stück an Legitimität zurückgeholt hat. Nur noch aus dystopischer Furcht hält der Bürger an dem etablierten System fest. Eine auf Furcht basierte Legitimität hat keine Zukunft.

    Es wurde also bislang die Chance nicht wahrgenommen, gemeinsam und öffentlich die Frage der Normativität zu diskutieren: Wie soll das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft aussehen? Politik bleibt inkonsistent, wenn sie sich einerseits der wissenschaftlichen Faktizität bei der Erstellung eines konkreten Soll-Seins, d.h. eines Gesetzes, irgendwie bedient, aber anderseits das Sollen vom Sein auf keinen Fall abhängig machen möchte, schließlich gelte ja die Binsenweisheit: Aus dem Sein folge kein Sollen. Und die Wissenschaft macht sich künstlich ohnmächtig, wenn sie sich – wegen falscher humanistischer Reflexe – aus der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Lösung des Sein-Sollens-Problems heraushält.

    Offensichtlich herrscht auf beiden Seiten ein Mangel an hinreichender Motivation, die Verbindung von wissenschaftlicher Faktizität und politischer Normativität theoretisch und pragmatisch zu untersuchen und schließlich die politische Faktizität wissenschaftlicher Normativität zu wagen, d.h. diese Verbindung in einem ‚Parlament der Sachfragen‘ zu institutionalisieren. Und dies ist die zweite triviale Offenbarung der Pandemie: Immer noch siegt die Angst vor der Fremdbestimmung – wenn auch nur durch den Zwang des besten Arguments.