Die Ethik des Boycotts

Konsumethik: Vom Recht und der Pflicht zum Boykott

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    Aufgrund der ungewöhnlichen Härte, mit der Gutsverwalter Charles Boycott in der irischen Grafschaft Mayo die von ihm abhängigen Pächter behandelte, kam es nach einer Missernte 1880 zu einem Konflikt mit der Irish National Land League, einer Interessenvertretung landloser Bauern. Sie sorgte dafür, dass Boycotts Angestellte und Pächter sich weigerten, weiter für ihn zu arbeiten und die Händler aufhörten, seine Waren abzunehmen. Selbst die Post stellte Boycott keine Briefe mehr zu. Als die London Times einen Leserbrief Boycotts abdruckte, in dem er sich über seine Behandlung beklagte, prägte sich in der anschließenden Debatte der Begriff des Boykottierens für die Weigerung ein, aus Protest mit jemandem in Geschäftsbeziehungen zu treten.

    Auch wenn die Idee nicht neu ist und schon lange vor Charles Boycotts bestand, haben sich insbesondere für private Konsumenten Boykotte erst in den letzten Jahrzehnten zu einem gängigen Marktverhalten entwickelt. Sie sind inzwischen zu einem ökonomisch ernst zu nehmendem Faktor geworden.

    Da es bei Boykotten darum geht, andere für ihr Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen oder gar eine Verhaltensänderung zu erzwingen, drängen sich eine Reihe ethischer Fragen auf. Auf zwei Probleme möchte ich näher eingehen: 1. Sind individuelle Konsumenten (die Rolle staatlicher Akteure lasse ich hier beiseite) immer berechtigt, ein Produkt oder eine Firma zu boykottieren, oder kann ein Boykott auch moralisch falsch sein? 2. Gibt es Fälle, in denen man zum Boykott verpflichtet ist?

    Zunächst möchte ich jedoch klären, was unter dem Begriff des Boykotts zu verstehen ist. Allgemein handelt es sich um eine negative Konsumentscheidung, bei der man bewusst auf den Kauf eines Produkts verzichtet. Dies betrifft aber auch Fälle, bei denen kein Boykott vorliegt: So mag ich eine bestimmte Uhr nicht kaufen, weil sie mir zu teuer ist oder meinen Geschmack nicht trifft. Das Unterscheidungsmerkmal gegenüber finanziell oder ästhetisch motivierten Kaufentscheidungen ist nun die Überzeugung, dass am Produkt der Makel des Unmoralischen haftet. Erst dieser moralische Grund lässt negative Kaufentscheidungen zu Boykotten werden. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Grund auch zutrifft: Ich kann mich z.B. darin täuschen, dass ein Pullover das Produkt von Kinderarbeit ist. Und selbst wenn ich etwas als moralisch wertvoll betrachte, das nicht wertvoll ist (wie beim Nazi, der nicht bei Ausländern kaufen möchte), handelt es sich immer noch um einen Boykott. Auch zielen keineswegs alle Boykotte darauf ab, eine Änderung hervorzurufen. Vielen Menschen ist bewusst, dass ihr Beitrag zu marginal ist, um einen Unterschied zu machen (wenn man etwa nicht bei Amazon kauft, um gegen die dortigen Arbeitsbedingungen zu protestieren); hier geht es einfach darum, die eigene Ablehnung zum Ausdruck zu bringen.

    Sind Boykotte nun unter allen Umständen moralisch erlaubt? Zunächst könnte man so denken, denn aus welchem Grund sollte es verboten sein, etwas nicht zu kaufen? Dagegen spricht aber, dass einige Fälle von Boykott klar unmoralisch sind. So war es beispielsweise moralisch verwerflich, sich 1933 am sogenannten „Judenboykott“ der Nazis zu beteiligen. Das wirft die Frage auf, ob es ein allgemeines Kriterium gibt, um zulässige von unzulässigen Boykotten abzugrenzen: So darf ein Boykott etwa niemanden seiner Grundfreiheiten berauben. Es gibt jedoch zwei Komplikationen: Erstens müssen von diesem Prinzip Fälle ausgenommen werden, in denen das Ausüben der Grundfreiheiten selbst unmoralisch ist. Sollte jemand etwa seine Redefreiheit dazu nutzen, um Mitglieder bestimmter Religionsgruppen herabzusetzen, scheint es legitim zu sein, seine Rede zu boykottieren. Zweitens muss sich das Prinzip auch auf Fälle erstrecken, in denen zwar niemand seiner Grundfreiheiten beraubt wird, dies aber das Ziel des Boykotts darstellt. Andernfalls könnte nicht erklärt werden, warum der Judenboykott selbst dann unmoralisch gewesen wäre, wenn er sein Ziel verfehlt hätte.

    Daneben lässt sich nach einer möglichen Pflicht zum Boykott fragen. Hier kann man unterscheiden zwischen Fällen, in denen ein solches Gebot alle Menschen betrifft und Fällen, in denen nur bestimmte Menschen dazu verpflichtet sind. Zum ersten Fall einer allgemeinen Boykottpflicht: Auch hier wird die Meinung vertreten, dass der Bereich des Marktes frei von moralischen Forderungen sein sollte, solange die Grenzen der Gesetze beachtet werden. Wären Konsumenten verpflichtet, bei moralischen Verstößen aller Art einem Boykott beizutreten, beträfe dies einen Großteil unseres wirtschaftlichen Tuns: kaum ein Großunternehmen ist ohne Skandal, fast jedes Produkt trägt zum Klimawandel bei, und viele unserer Einkäufe werden unter ethisch fragwürdigen Bedingungen produziert. Eine Pflicht zum Boykott, die Konsumenten nicht moralisch überfordert und auch ohne radikale Revision unseres Lebens umgesetzt werden kann, muss sich daher darauf beschränken, schwere Verstöße in den Blick zu nehmen, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Die Begründung einer solchen Pflicht besteht darin, sich nicht zum Komplizen bestimmter Übel machen, auch wenn unser eigener Beitrag kausal kaum oder gar nicht ins Gewicht fällt. Dies umfasst Übel, die so schwerwiegend sind, dass wir alles tun müssen, uns davon zu distanzieren. Während sich die meisten Boykottpflichten auf alle Konsumenten erstrecken, gibt es möglicherweise auch Pflichten, die nur einige Menschen betreffen. So dürfte es für einen überzeugten Vegetarier unmoralisch sein, Fleisch aus Massentierhaltung zu konsumieren, auch wenn diese Pflicht nicht unterschiedslos allen Menschen zukommt. Es wäre heuchlerisch, sich leidenschaftlich gegen Massentierhaltung einzusetzen, sein eigenes Handeln aber davon auszunehmen. Allgemein scheinen unsere Projekte, vordergängigen Verpflichtungen und vielleicht sogar unsere Gruppenzugehörigkeit einen Einfluss darauf zu haben, wie wir uns als Konsumenten verhalten sollten.

    Was bedeuten diese Überlegungen für unser Handeln? Auch als Konsumenten unterliegen wir in mehrfacher Hinsicht moralischen Pflichten: Erstens dürfen wir mit unseren negativen Kaufentscheidungen nicht die Grundrechte anderer beinträchtigen. Zweitens besteht in schwerwiegenden Fälle die Verpflichtung zum Boykott bestimmter Produkte. Der Umfang dieser Pflicht hängt davon ab, welche „schwerwiegenden Übel“ es gibt. In einer Welt, in der gerade in ärmeren Ländern die Rechte und das Wohl von Arbeitern wenig gelten und der Schutz der Umwelt oft kaum Beachtung findet, geht selbst diese Pflicht viel weiter, als uns möglicherweise lieb wäre.

    Anmerkung: Dieser Text basiert auf einem Manuskript, bei dem Christian Blum mitgewirkt hat.

     

    Frage an die Leserschaft

    Finden Sie, dass der Boykott eine salonfähige Art des Protestes ist?

    Gibt es gute Beispiele für "Pflicht zum Boykott"?