Kann man zu reich sein?

Gerechtigkeit (auch) am oberen Rand der Einkommens- und Vermögensverteilung1

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    Man kann zu arm sein. Kann man auch zu reich sein? Die Relevanz dieser neuen philosophischen Perspektive wird in einer aktuellen Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) klar (Cf. Dinklage et al., 2020): Reichtum (in der Studie als Vermögen aufgefasst) ist deutlich ungleicher verteilt als bisher angenommen. Rund 35 % der gesamten Vermögen entfallen in Deutschland auf das reichste Prozent der Bevölkerung. Noch dramatischer ist die Schieflage der Verteilung an ihrem unteren Rand: Die ärmsten 50 % der deutschen Bevölkerung besitzen lediglich 1,4 Prozent der Vermögen. Bildlich könnte man sich dies so vorstellen: In einer Familie mit 100 Kindern und 100 Spielsachen gehören mehr als ein Drittel dieser Spielsachen einem einzigen Kind. 50 Kinder hingegen müssen sich ein einziges Spielzeug teilen. Ist das gerecht? Im Folgenden werde ich skizzieren, dass nur wenige philosophische Theorien informative und plausible Antwortvorschläge liefern.

    Eine Bemerkung vorweg: Wer sich solche Fragen stellt, denkt über Verteilungsgerechtigkeit nach. Der Begriff „Verteilungsgerechtigkeit“ wurde vom griechischen Philosophen Aristoteles geprägt, welcher in seiner Nikomachischen Ethik zwischen der Verteilungsgerechtigkeit („iustitia distributiva“) und der Tauschgerechtigkeit („iustitia commutativa“) unterscheidet. Die Verteilungsgerechtigkeit bezeichnet dabei jene moralischen Prinzipien, welche das Verhältnis einzelner Menschen zu Kollektiven regeln – also beispielsweise die Beziehung von Bürgerinnen zum Staat. Seit der Veröffentlichung von John Rawls einflussreichem Hauptwerk „A Theory of Justice“ (1971) hat die Verteilungsgerechtigkeit in jüngerer Zeit verstärkt Beachtung gefunden. Die Auseinandersetzung mit den Ideen von Rawls hat eine Vielzahl konfligierender Gerechtigkeitstheorien hervorgebracht. Wie unterscheiden sich diese Theorien in der moralischen Bewertung von Reichtum? Im Folgenden werden sechs paradigmatische Gerechtigkeitstheorien und deren Implikationen für die Verteilung von Reichtum vorgestellt: Der Egalitarismus und Zufallsegalitarismus, der Utilitarismus und Prioritarismus, sowie abschließend der Suffizientarismus und das Rawlssche Differenzprinzip. Nur der Suffizientarismus und das Differenzprinzip scheinen dabei begründete und informative Ergebnisse zu liefern: Reichtum kann in der Tat ungerecht sein – wenn auch nur indirekt.

    Egalitaristinnen fordern eine strikt gleiche Verteilung von Reichtum. Jede Bürgerin soll also gleich viel verdienen bzw. gleich viel Vermögen besitzen. Bezogen auf die oben erwähnte Familie mit ihren 100 Kindern würden Egalitaristinnen fordern, dass jedes Kind genau ein Spielzeug erhält. Im Gegensatz dazu zielen Utilitaristinnen auf die Maximierung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens („utility“) ab. Jede Verteilung von Reichtum, die mit diesem Ziel kompatibel ist, ist für Utilitaristinnen gerecht – auch wenn manche Menschen in Armut leben. Kann man ein Kind mit zusätzlichem Spielzeug besonders glücklich machen, ist es für Utilitaristinnen gerecht, wenn dieses Kind mehr Spielsachen erhält als seine Geschwister. Existierender Reichtum ist für beide Theorien ungerecht, da er weder gleichverteilt noch nutzenmaximierend ist. Durch Umverteilung könnte also mehr Gleichheit geschaffen und mehr Nutzen gestiftet werden. Leider ist dies ein schwaches Resultat. Die Ungerechtigkeit von Reichtum im Egalitarismus und Utilitarismus folgt direkt aus basalen und nur schwer einzulösenden Prämissen der jeweiligen Theorie: Wieso sollten Güter überhaupt gleichverteilt sein? Wieso sollte die Maximierung gesamtgesellschaftlichen Nutzens, ohne Blick auf dessen Verteilung, ein distributives Ziel darstellen? Dass Reichtum für Egalitaristinnen und Utilitaristinnen ein moralisches Problem ist, dürfte also weder überraschen noch überzeugen.

    Eine mögliche Antwort auf solche Bedenken ist der Zufallsegalitarismus (Cf. Lippert-Rasmussen, 2016): Menschen können durchaus unterschiedlich reich sein, solange dieser Unterschied beispielsweise auf persönliche Entscheidungen zurückgeführt werden kann. Lediglich zufälliger Reichtum soll gleich verteilt werden. Selbst gebasteltes Spielzeug dürfen Kinder also behalten, selbst wenn sie dadurch mehr Spielsachen besitzen als ihre Geschwister. Zufällig auf der Straße gefundenes Spielzeug allerdings sind sie verpflichtet zu teilen. Zufallsegalitaristinnen müssen eine Reihe komplexer Fragen beantworten: In welchem Maße ist Reichtum ein Zufallsprodukt? Vor allem: Wie lässt sich die abstrakte Grundüberzeugung des Zufallsegalitarismus sinnvoll in ein institutionelles Rahmenwerk (z.B. ein Steuersystem) übersetzen? Klare Antworten ist der Zufallsegalitarismus bisher schuldig geblieben. Ähnliches gilt für den Prioritarismus (Cf. Parfit, 1997). Bei diesem handelt es sich um eine Erweiterung des utilitaristischen Modells. Maximiert werden soll nicht mehr der Nutzen selbst, sondern dessen moralischer Wert. Eine zentrale Annahme von Prioritaristinnen ist dabei, dass der moralische Wert einer zusätzlichen Nutzeneinheit größer ist, je schlechter eine Person gestellt ist. Somit genießen schlechter gestellte Personen eine gewisse Priorität im Nutzenkalkül. So ist es gerecht, einem Kind mehr Spielsachen zu geben, je glücklicher es mit diesen ist und je weniger Spielzeug es bisher erhalten hat. Die arithmetische Komplexität des Prioritarismus lässt dessen Anwendung außerhalb wissenschaftlicher Fachdiskurse allerdings fraglich erscheinen. Kurzum: Auch komplexe Erweiterungen egalitaristischer und utilitaristischer Theorien liefern bisher wenig brauchbare Ansätze für eine überzeugende moralische Analyse von Reichtum.

    Deutlich mehr Potenzial bietet der Suffizientarismus (Cf. Frankfurt, 1987): Suffizientaristinnen betonen die Bedeutung bestimmter Suffizienzschwellen („sufficiency thresholds“). Für sie ist es kein Problem, wenn manche Menschen sehr reich sind. Ungerecht ist vielmehr, wenn Menschen zu arm sind. Ungerecht ist, wenn ein Kind zu wenig Spielsachen besitzt. Die praktische Bedeutung bestimmter Schwellenwerte (z.B. der absoluten und relativen Armut) lässt eine Gerechtigkeitstheorie, welche sich ebenfalls an Schwellenwerten orientiert, plausibel erscheinen. Eine weitere Kandidatin für die verteilungstheoretische Analyse von Reichtum ist das Differenzprinzip (Cf. Rawls, 1971). Dieses ist Teil von John Rawls einflussreicher Gerechtigkeitstheorie „Justice as Fairness“: Ungleichheiten im Reichtum sind laut Rawls nur gerecht, wenn sie das Wohlergehen der am schlechtesten Gestellten („the worst off“) in einer Gesellschaft maximieren. Vereinfacht gesagt: Das Kind mit den wenigsten Spielsachen sollte so viel Spielzeug wie möglich besitzen. Begründet ist das Differenzprinzip in einer hypothetischen Übereinkunft rationaler Individuen: Ohne spezielles Wissen über ihre spätere Position in der Gesellschaft (z.B. ohne Wissen über ihren Reichtum) scheint eine Verständigung auf das Differenzprinzip einigermaßen plausibel. Da jedes Individuum zu den Ärmsten gehören könnte, liegt es nahe, deren Wohlergehen zu maximieren2. Das Differenzprinzip und der Suffizientarismus ähneln sich in der indirekten bzw. funktionalen Analyse von Reichtum sowie in ihrem Fokus auf das untere Ende der Einkommens- und Vermögensverteilung. Welche Theorie überzeugender ist, hängt von der Bedeutung ab, die der Position der am schlechtesten Gestellten in einer Gerechtigkeitstheorie zukommt: Sollen die ärmsten Menschen so gut wie eben möglich gestellt sein oder reicht es schon, wenn sie nicht unter ein bestimmtes Niveau fallen? Reichtum kann indirekt zu einem moralischen Problem werden, wenn er mit der Verletzung (eines) dieser Ziele einhergeht: Reichtum ist ungerecht, wenn die Ärmsten schlechter als nötig (oder zumindest zu schlecht) gestellt sind3.

    Ist existierender Reichtum gerecht? In liberalen Demokratien übernehmen Marktwirtschaften (oft komplementiert von umfangreichen Sozialsystemen) die zentrale Verteilungs- und Allokationsfunktion. Doch verteilen Märkte Reichtum auch so, dass Menschen nicht zu schlecht gestellt sind? Oder maximieren sie sogar das Wohlergehen der Ärmsten? Und falls nein – sind alternative Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, die in dieser Hinsicht bessere Resultate versprechen, überhaupt denk- und umsetzbar? Die moralische Bewertung von Reichtum hängt somit nicht nur vom theoretisch Denkbaren, sondern auch vom gesellschaftlich Möglichen ab. Dem Differenzprinzip genügen tatsächliche Verteilungen von Einkommen und Vermögen wahrscheinlich nicht. Suffizientaristische Ansprüche befriedigen sie, zumindest in Marktwirtschaften mit ausreichenden sozialen Sicherungssystemen, schon eher. Zuletzt muss angemerkt werden, dass selbst gerechter Reichtum immer noch ein moralisches Problem darstellen könnte. Der Fokus auf Verteilungsgerechtigkeit ist schließlich nur ein möglicher philosophischer Blickwinkel. Aktuell werden beispielsweise individuelle Selbstachtung (Cf. Neuhäuser, 2018), politische Gleichheit (Cf. Robeyns, 2016) oder auch die Autonomie reicher Menschen (Cf. Zwarthoed, 2018) als moralische Werte genannt, die durch Reichtum möglicherweise verletzt werden.

    Prinzipiell kann Reichtum also ein moralisches Problem darstellen. Ob dies allerdings auf die großen materiellen Ungleichheiten zutrifft, die wir innerhalb liberaler Demokratien und auch global beobachten, bleibt eine noch zu beantwortende Forschungsfrage.


    Referenzen

    Dinklage, F., Ehmann, A., Faigle, P., Vu, V., Blickle, P. & Stahnke, J. (2020, July). Das obere Prozent. Die Zeit. Abgerufen auf https://www.zeit.de

    Frankfurt, H. (1987). Equality as a Moral Ideal. Ethics, 98 (1), 21-43

    Lippert-Rasmussen, K. (2016). Luck Egalitarianism. London: Bloomsbury Academic

    Neuhäuser, C. (2018). Reichtum als moralisches Problem. Frankfurt (Main): Suhrkamp

    Parfit, D. (1997). Equality and Priority. Ratio, 10(3), 202-221

    Rawls, J. (1971). A Theory of Justice. Cambridge (Mass.): Harvard University Press

    Robeyns, I. (2016). Having Too Much. In Knight, J. & Schwartzberg, M. (Eds.), NOMOS LVI: Wealth. Yearbook of the American Society for Political and Legal Philosophy (pp. 1-44). New York: New York University Press

    Zwarthoed, D. (2018). Autonomy-Based Reasons for Limitarianism. Ethical Theory and Moral Practice, 21, 1181–1204


    1 Für Hinweise und Kommentare danke ich Sandro Räss, Julius Koschnick und Rudolf Schüßler.

    2 Der Einfachheit halber wird Rawls abstrakte Formulierung der „am schlechtesten Gestellten“ („the worst off“) hier mit „den Ärmsten“ gleichgesetzt. Dies ist nicht korrekt und dient lediglich einer ersten Näherung an die Rawlssche Theorie.

    3 Etwas genauer ausgedrückt: Reichtum ist ungerecht, wenn er die beschriebenen Probleme verursacht oder nicht zu ihrer gerechten Behebung beiträgt (Ich danke Rudolf Schüßler für diese Formulierung).