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Die Wissenschaft in der Krise. Die Wissenschaft in der Krise?

Was wir von den empirischen Wissenschaften (nicht) erwarten können.

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    Die Coronakrise war und ist mit individuellen Erfahrungen und Situationen verbunden, die man mit guten Gründen als aussergewöhnlich bezeichnen kann. Viele Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten des Alltags, im Beruf, im sozialen wie im öffentlichen Leben sind plötzlich nicht mehr oder nur mit grossen Einschränkungen möglich. Dies betrifft jedoch nicht nur jeden Einzelnen, auch Gesellschaft, Wirtschaft und Politik werden in der Krise besonders strapaziert und auf die Probe gestellt.

    Und die Wissenschaften?

    Ihnen ergeht es nicht anders: Die so genannten Lebenswissenschaften, insbesondere die Virologie und Epidemiologie, erleben eine ungeahnte Konjunktur und das aus verständlichen Gründen: Erforschen sie doch das virale Geschehen aus naturwissenschaftlicher Perspektive und versuchen, Entstehung und Herkunft, Übertragung und Verbreitung, und zusammen mit der Medizin Symptomatik und typische Verläufe von Erkrankungen in wissenschaftlichen Theorien zu beschreiben und zu erfassen. Ihre Erkenntnisse und Prognosen sind für die politisch Verantwortlichen eine Orientierung für Art und Umfang der zu erlassenden Massnahmen, für Beschränkungen wie für spätere Lockerungen, und dienen mit dem Verweis auf Triage- und Überlastungsszenarien in anderen Ländern zugleich als deren Rechtfertigung.

    Auch wenn man davon ausgehen kann, dass bei den Beratungen der Regierungen Sachverständige verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen und Mitglieder unterschiedlicher Interessensgruppen vertreten sind, lässt sich – zumindest im Ergebnis und in der öffentlichen Wirksamkeit – ein Primat der Naturwissenschaften, insbesondere der genannten Lebenswissenschaften, nicht leugnen. Ihre Kennzahlen dienen als Indikator für den Erfolg der ergriffenen Massnahmen und werden damit zum Kulminationspunkt, auf den die Öffentlichkeit ihre Hoffnungen auf Lockerungen fokussiert. Dies umso mehr, je plakativer diese Zahlen zur Rechtfertigung der Einschränkungen eingesetzt wurden. Dass es sich dabei häufig um nicht direkt beobachtbare Grössen handelt, sondern um solche, die von zahlreichen Annahmen abhängen, insbesondere von der Anzahl der durchgeführten Tests sowie der aktuell praktizierten Teststrategie, und daher statistisch geschätzt werden, wird in der öffentlichen Kommunikation zwar regelmässig erwähnt, tritt aber zu schnell wieder in den Hintergrund. Inwieweit welche konkrete Kennzahl geeignet ist, das virale Geschehen adäquat abzubilden, scheint selbst einer Dynamik unterworfen zu sein. War zu Beginn vor allem von der Verdopplungszeit die Rede, wurde diese mit der Zeit von der Reproduktionsrate abgelöst, die im weiteren Verlauf durch eine geglättete Variante ihrer selbst ersetzt wurde.

    Auf den ersten Blick entsteht hier ein diffuses, wenn nicht sogar ein bizarres Bild. Einerseits werden mathematische Grössen präsentiert, die das epidemiologische Geschehen beschreiben, und deren auf Nachkommastellen ermittelten Werte ein Höchstmass an Genauigkeit suggerieren; andererseits scheint man den Zahlen dann doch nicht zu trauen und sie werden modifiziert oder verworfen, wenn sie nicht mehr in das Gesamtbild passen. Wo der erste Blick verwirrt, lohnt ein weiterer: Man muss den Wissenschaften zu Gute halten, dass es sich bei SARS-CoV-2 um ein neuartiges, gerade erst vor einigen Monaten entdecktes Virus handelt. Weder konnten sorgfältig geplante repräsentative epidemiologische Studien durchgeführt werden, noch gibt es etablierte Ergebnisse Virus-spezifischer Laborforschung, auf die jene gründen könnten. Ganz im Gegenteil, die rasanten Verbreitungszahlen mit zum Teil massiven Folgen erzeugen einen enormen Erwartungsdruck, Forschungsergebnisse schnellst möglich zu erzielen und zur Verfügung zu stellen. Wie Schiffer auf offener See – um das aus einem anderen Kontext bekannte Bild Otto Neuraths zu modifizieren – manövriert die Wissenschaft ein ihr unbekanntes Schiff, ohne seine Baupläne sorgfältig studiert und in ruhigen Gewässern hinreichend Erfahrung gesammelt zu haben.

    Wenn Epidemiologen und Virologen öffentlich über erste Erkenntnisse informieren, dann lassen sie uns an einem Erkenntnisprozess teilhaben, der sonst vorwiegend innerhalb der Wissenschafts-Community stattfindet. Es werden Vermutungen und Hypothesen aufgestellt, die später zum Teil verfeinert, modifiziert oder sogar korrigiert werden; Formulierungen wie «Nach derzeitigem Kenntnisstand» oder «Es besteht eine Evidenz» sind nicht Ausdruck einer Unsicherheit, sondern bezeugen gerade das, was empirische Wissenschaft ausmacht. Es gibt keine absolute Gewissheit, erst nach zahlreichen Studien und Forschungsprojekten bildet sich ein in gegenseitigen Begutachtungs- und Diskussionsprozessen erlangtes hinreichend stabiles Gesamtbild aus. Für die Politik entsteht dabei eine Dilemmasituation, ist sie doch zeitnah auf verlässliche Informationen angewiesen, um ihr Handeln nicht nur zu rechtfertigen sondern ihm auch Nachhaltigkeit zu verleihen und damit Planbarkeit zu erzielen. Ein Zurücknehmen zu starker Einschränkungen oder gar Verstärken erlassener Massnahmen aufgrund revidierter wissenschaftlicher Evidenzen wäre der Bevölkerung schwer vermittelbar, führte zum Autoritätsverlust und gefährdete die Handlungsunfähigkeit der Politik.

    Daher ist es geboten, dass die Beteiligten öffentlich über die aktuelle Situation informieren und dabei das richtige Mass an Allgemeinverständlichkeit finden, ohne die Komplexität zu stark zu vereinfachen. Dies gelingt nicht immer, besonders dann nicht, wenn die unterschiedlichen Rollen der Beteiligten von Seiten der Medien missachtet und diese reisserisch als Kontrahenten ausserhalb des wissenschaftlichen oder politischen Diskurses inszeniert werden.1

    Der vorliegende Beitrag thematisiert eine Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis der Lebenswissenschaften und der öffentlichen Erwartung an diese, wie sie besonders in der aktuellen Krisensituation transparent wird. Aus prinzipiellen Gründen können diese die Mechanismen eines neuartigen Virus nicht gleichzeitig erforschen und jederzeit absolut sicher erfassen. Neben dieser wissenschaftsinternen gibt es im Krisenkontext noch eine andere, mindestens ebenso wichtige Relativierung: Als wissenschaftliche Fachdisziplinen thematisieren sie das virale und epidemiologische Geschehen und lassen von vornherein politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte aussen vor. Es gilt als unbestritten, dass frühzeitige Tests und zügiges an den Kennzahlen orientiertes entschlossenes Handeln viele Länder vor Überlastungen des Gesundheitssystems und den bekannten Triage-Szenarien bewahrt haben. Ein weiteres Fokussieren allein auf die unmittelbaren Erkrankungsfolgen wird jedoch zu einer Schieflage führen, die Gesamtsituation verkennen und die Krise in ihrer eigentlichen Dimension nicht lösen.


    1 Ein ähnliches Phänomen beschreibt «Der Spiegel» in seiner Ausgabe vom 30.05.2020, wo unter dem Titel «Verehrt und verhasst» vom Glaubenskrieg um den Virologen Christian Drosten gesprochen wird.