Stoische Philosophie als Medizin der Seele

Das menschliche Leben ohne Philosophie ist von Sorgen geplagt, weil der Mensch aufgrund eines Irrtums Dinge begehrt, die keine echten Güter sind, etwa Lust oder Geld.

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    Was ist eigentlich Philosophie? Das ist keine einfache Frage, und es gibt zahlreiche mögliche Antworten. Eine dieser vielen Antworten soll in diesem Beitrag diskutiert werden. Ganz kurz lautet sie: Die Philosophie kümmert sich um die Gesundheit der Seele.

    In diesem Beitrag soll diese Idee im Kontext der stoischen Philosophie betrachtet werden.1 Es wäre vielleicht vorschnell, zu behaupten, die Stoiker hätten die Philosophie insgesamt als Medizin der Seele betrachtet. Will man sich aber diesem Verständnis der Philosophie annähern, so findet man in den stoischen Schriften interessante Anhaltspunkte dazu.

    In der antiken Welt war die Psychologie noch nicht von der Philosophie getrennte Wissenschaft. Insofern bestand kein Konkurrenzverhältnis. Die Philosophen konnten sich um die Seele kümmern, und diese Tätigkeit musste nicht weiter gerechtfertigt werden. Dementsprechend schrieb Cicero selbstbewusst:

    „Das aber halte fest, dass es, wenn die Seele nicht geheilt ist, was ohne die Philosophie nicht geschehen kann, kein Ende der Leiden geben wird“.2

    Diese Formulierungen sind nicht bloss rhetorische Übertreibung. Sie sind ganz ernst gemeint: Der Philosoph ist ein Seelenarzt (ἰατρός τῆς ψυχῆς, iatros tes psyches, wörtlich: „Arzt der Seele“),3 die Philosophenschule ein Krankenhaus, ein Ambulatorium (ἰατρεῖον) für die Seele.4 Das Interesse des Philosophen ist die Gesundheit der Seele, und wer Behandlung für seelische Leiden in Anspruch nehmen will, sollte sich an diese weisen Männer wenden.5

    Nur, weshalb eigentlich? Was hatten die denn zu bieten?
    Negativ geantwortet: Nicht dasselbe, was Psychologinnen und Psychiaterinnen heute für Leiden aller Art im Angebot haben. Wir sollten uns aber davor hüten, zu glauben, dass die Psychiatrie der antiken Philosophie allzu viele Gemeinsamkeiten mit ihrem heutigen Pendant habe. Um einige sehr bedeutende Unterschiede zu beleuchten, soll erneut eine Schilderung Ciceros untersucht werden. Dieser fragt rhetorisch:

    „Gibt es für die, die sich von Gier nach Geld, die sich von Lust der Vergnügungen treiben lassen, deren Seelen so verwirrt werden, dass sie nicht weit vom Wahnsinn entfernt sind (was auf alle Törichten zutrifft), keine Behandlungsmöglichkeiten?" 6

    Natürlich gibt es sie. Um sie wissen die Philosophen. Er führt dann weiter aus:

    "[Die seelischen Krankheiten] sind gerade deswegen unangenehm, weil sie sich auf die Seele erstrecken und sie in Unruhe versetzen, und ‚eine kranke Seele‘, wie Ennius sagt, ‚irrt immer und kann weder etwas erdulden noch ertragen, und sie hört niemals auf zu begehren.‘“7

    In den Augen Ciceros sind also diejenigen wahnsinnig, die nach Geld gieren und nach Lust streben.8 Wir sehen an dieser Aussage, dass die antike Philosophie seelische Krankheiten mit fehlerhaften evaluativen Urteilen in Verbindung bringt: Wer die falschen Dinge für wertvoll oder begehrenswert hält, gilt als psychisch krank.


    Das aber ist nicht alles: Schliesslich wird darüber hinaus gesagt, dass diese Menschen, die sich im Irrtum befinden und daher pausenlosem Begehren ausgesetzt sind, auch nichts erdulden oder ertragen können. So wie Menschen mit einem angeschlagenen Immunsystem leichter krank werden.

    Umgekehrt gilt: Wer die Welt sieht, wie sie wirklich ist, und so den wahren Wert der Dinge erkennt, ist gesund. Geld und Lust etwa sind nicht wirklich wertvoll, und wer meint, sie seien es, liegt falsch und verursacht sich so selbst seelische Schmerzen.
    Wer dagegen gesund ist, wird nicht weiter von Begehren geplagt, und vermag einiges zu erdulden und zu ertragen. So erweist sich diese seelische Gesundheit auch als Resistenz gegen all dasjenige, was herkömmlicherweise als Unglück bezeichnet wird

    Seneca beschreibt diesen Zustand der seelischen Gesundheit:

    „Was ist Grösse [im Menschenleben]? Unglück mit heiterem Herzen ertragen zu können, was kommen mag so hinnehmen, als entspräche es deinem Wunsch […] Ein Herz, tapfer und trotzig gegen alles Unglück, nicht nur Gegner, sondern Feind der Genusssucht.“9

    Diese Beschreibung zeigt in gewisser Weise die Umkehrung der ersten: Wer die Genusssucht, die Lust, verachtet, ist gegen alles, was herkömmlich als Unglück erscheint, gefeit. Die Seelenruhe einer solchen Person ist nicht zu stören, und damit ist ihre seelische Gesundheit gesichert.

    Was also macht den ganzen Unterschied zwischen Krankheit und Gesundheit?
    Es gibt eine Ursache aller Arten seelischer Beunruhigung – den Irrtum. Das menschliche Leben ohne Philosophie ist von Sorgen geplagt, weil der Mensch aufgrund eines Irrtums Dinge begehrt, die keine echten Güter sind, etwa Lust oder Geld.

    Das klingt vielleicht nicht plausibel. Weshalb sollte man denn nicht nach Lust (oder Geld, oder Macht) streben? Die Antwort der Stoiker lautet: Diese bloss vermeintlich wertvollen Dinge sind flüchtig: Sie sind schwierig zu erreichen, und wenn sie einmal erreicht sind, sind sie niemals gänzlich sicher. In jedem Augenblick kann man sie verlieren. Das beunruhigt.Wer sich also um diejenigen Dinge kümmert, um die sich die meisten kümmern, verfehlt daher das Glück. Ruhm und Ehre, um Vermögen oder weltliche Besitztümer reichen zum Glück nicht aus.10 Es könnte ja sein, dass sich die öffentliche Meinung wendet, dass man in Ungnade fällt, dass Besitztümer verloren gehen oder zerstört werden. Wenn das eigene Glück von diesen Dingen abhängt, ist es stets in Gefahr. Wer „sein Herz an Unverfügbares hängt“, muss unglücklich sein.11 Für den unwissenden Menschen ist nichts schwieriger, als glücklich zu leben, weil er nicht erkannt hat, wie einfach das denn wäre. Der Mensch im Irrtum wird von den eigenen Bedürfnissen und Ängsten versklavt, er ist stets beunruhigt, stets getrieben, er strebt stets nach bloss vermeintlichen Gütern. Er kann so niemals glücklich leben.12

    Einmal angenommen, das stimmt. – Der törichte, wahnsinnige Mensch, der nach vermeintlichen, weil flüchtigen Gütern strebt, leidet an der Seele und führt ein unglückliches Leben. Wie heilt man ihn?

    Die Antwort ist einfach: Man befreit ihn vom Irrtum. Wer glücklich und seelisch ruhig/gesund sein will, muss Philosophie und Naturwissenschaften betreiben, um zwischen wahrhaft wertvollen und bloss vermeintlich wertvollen Dingen zu unterscheiden.


    Wertvoll ist, so wird man finden, die Erkenntnis, dass die Welt durch und durch gut und vernünftig ist, und alles, was geschieht, mit Notwendigkeit geschieht. Zeus hat die bestmögliche Welt geschaffen, und wem es gelingt, die basalen menschlichen Bedürfnisse soweit abzuschütteln, dass man die Welt aus einer vernünftigen (und damit göttlichen) Perspektive betrachten kann, wird glücklich und gesund sein. Das kommt daher, dass diese Perspektive es erlaubt, ein naturgemässes und tugendhaftes Leben zu führen, ein Leben also, das nicht nur die Vernünftigkeit der Welt erkennt, sondern ihr auch zustimmt.13

    Zu erkennen, was wertvoll ist und was unwert, welche Güter man erreichen und dauerhaft besitzen kann, bildet also die Grundlage eines glücklichen Lebens.14 Es ist die Aufgabe der Philosophie, diese Erkenntnisse zu gewinnen.

    Es gibt ein praktisches Ziel: die Gesundheit der Seele. Es gibt ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen: die Erkenntnis.
    Wer die Welt in der richtigen Weise wahrnimmt, wer die Wirklichkeit erkennt, lebt glückselig. So wie der Irrtum unglücklich macht, macht die Erkenntnis glücklich. Wissen beruhigt und heilt die Seele.

    Was also kann Philosophie sein? – Eine Disziplin, die es dem Menschen durch den Gewinn von Wissen und Erkenntnis erlauben soll, die eigene Seele von ihren Leiden und vom Irrtum zu heilen.


    Quellen:

    In deutscher Übersetzung:

    1. Cicero: De natura deorum. Über das Wesen der Götter. Lateinisch/Deutsch, übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister. Stuttgart: Reclam 2011.

    2. Cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum. Lateinisch/Deutsch, übersetzt von Ernst Alfred Kirfel. Stuttgart: Reclam 2008.

    3. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übersetzt von Otto Apelt. Hamburg: Meiner 2015.

    4. Epikur: Ausgewählte Schriften. Übersetzt und herausgegeben von Christof Rapp. Stuttgart: Kröner 2010. (Alternativ: Rapp, Christof: Epikur. Ausgewählte Schriften, Stuttgart: Kröner 2010.)

    5. Marc Aurel: Wege zu sich selbst. Übersetzt von Carl Cless. Frankfurt am Main: Fischer 2009.

    6. Platon: Apologie des Sokrates. Ἀπολογία Σωκράτους. Griechisch/Deutsch, übersetzt von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1986.

    7. Seneca: Naturales quaestiones. Naturwissenschaftliche Untersuchungen. Lateinisch/Deutsch,übersetzt von Otto und Eva Schönberger. Stuttgart: Reclam 1998.

    8. Seneca: Philosophische Schriften. Übersetzt von Manfred Rosenbach. 5 Bände. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999.

    In englischer Übersetzung:

    1. Epictetus: Discourses, Books 3-4. Fragments. The Encheiridion. Griechisch/Englisch, übersetzt von W. A. Oldfather. Loeb Classical Library 218. Cambridge, MA: Harvard University Press 1928.

    2. Galen: De placitis Hippokratis et Platonis. On the doctrines of Hippocrates and Plato. Griechisch/Englisch, übersetzt von Phillip de Lacy. Teil 1, Bücher 1-5. Berlin Akademie Verlag 1978.

    Sekundärliteratur:

    1. Hossenfelder, Malte: Stoa, Epikureismus und Skepsis, in: Wolfgang Röd (Hg.): Die Philosophie der Antike, Band 3, München: Beck 1995.


    Abkürzungsverzeichnis

    Cicero:
    Tusc. Gespräche in Tuskulum (Tusculanae disputationes)

    nat. deor. Über das Wesen der Götter (De natura deorum)

    Epiktet:
    Diss. Gespräche/Discourses (Dissertationes)

    Epikur:
    Men. Brief an Menoikeus

    Diogenes Laertius:
    DL Leben und Meinungen berühmter Philosophen (Vitae philosophorum; φιλοσόφων βίων καὶ δογμάτωνσυναγωγή)

    PHP Über die Lehren des Hippokrates und Platons (De placitis Hippokratis et Platonis)

    Platon:
    apol. Apologie des Sokrates (Ἀπολογία Σωκράτους)

    Seneca:
    nat. Naturwissenschaftliche Untersuchungen (Naturales quaestiones)
    de tranq.
    Von der Seelenruhe (De tranquilitateanimi)


    1 Dieses Verständnis des Begriffs „Philosophie“ findet sich nicht nur bei den Stoikern, sondern bei allen hellenistischen Philosophenschulen. Es sei hier nur ein weiteres Beispiel genannt: Epikur: Men. 122.

    2 Cicero: Tusc. 3.13. Ganz ähnlich auch 3.6.

    3 Vgl. Galen: PHP 5.2.23. Der Philosoph ist wortwörtlich Psych-iater. Siehe zum Beispiel auch: Seneca: de tranq.1.1-2.4. Serenus wendet sich mit einer Beschreibung seiner seelischen Leiden an Seneca, damit dieser eine Diagnose stellen, und ihm bei der Behandlung helfen kann. Seneca gibt ihm daraufhin Ratschläge, was zu tun sei.

    4 Vgl. Epiktet: Diss. 3.23.

    5 Hinweis zur geschlechtergerechten Sprache:Die Philosophie war in der Antike eine Angelegenheit, mit der sich vor allem Männer beschäftigten. Natürlich können Frauen genauso gut Philosophie betreiben wie Männer. Und es gab tatsächlich einige wenige Frauen, die Philosophie betrieben haben, man denke z.B. an Leontion, die Epikureerin, die immerhin so wichtig war, dass sich Cicero Jahrhunderte später noch genötigt fühlt, sich herablassend über sie zu äussern (vgl. Cicero: nat. deor. 1.93). Oder man denke an Hipparchia, die kynische Philosophin und FrauKrates‘, der Diogenes immerhin ein eigenes Kapitel widmet (vgl. DL 6.96-98). Wenn man den Werktiteln glaubt, haben auch die Stoiker schon früh angenommen, dass Frauen genauso vernunftbegabt sind, wie Männer (vgl. DL 7.175). Diese Philosophinnen bilden aber eine Aussnahme. Philosophie war ein von Männern dominiertes Feld. Das zeigt sich auch am Vokabular: Die Vergleiche, mit denen die Tätigkeit des Philosophen beschrieben wird, sind historisch an von Männern dominierten Gesellschaftsbereichen orientiert. Der Philosoph ist Arzt, Ringer, Soldat. Er kämpft, er rüstet sich, er hält Wache. Es sei mir in Anbetracht dieser historischen Realität verziehen, wenn ich über Philosophen, nicht über Philosophinnen schreibe.

    Cicero: Tusc. 3.4.

    7 Cicero: Tusc. 3.5.

    8 Man kann als Philosoph auch reich sein, nur sollte man keinesfalls glauben, dass Reichtum echten Wert hat. Vgl. Seneca: De vita beata 23.1. Es gibt auch antike Philosophen, die ein in bestimmter Weise kultiviertes Streben nach Lust für wesentlich gesünder halten, als das stoische Streben nach einem naturgemässen/tugendhaften Leben. Zu ihnen gehört etwa Epikur.

    9 Weshalb „Grösse“ statt „Gesundheit“? – Der Begriff, der hier mit „Grösse“ übersetzt wurde, lautet im Latein„praecipuum“, was man vielleicht neutraler als „bevorzugt“, bzw. „die bevorzugte Verfassung“ übersetzen könnte. Dann verschwindet die begriffliche Spannung.

    10 Vgl.auch: Platon: apol. 29 d-e.

    11 Hossenfelder 1995, S. 24.

    12 Vgl zur Sklaverei seiner selbst erneut. Seneca: nat. 3.16-17.

    13 Diese Makroperspektive auf die Welt und die Zusammenhänge, die in ihr regieren findet sich schön dargestellt in Senecas naturales quaestiones.

    14 Schöne Darstellungen der Untersuchung des Wertes einzelner Gegenstände finden sich bei Marc Aurel. Ein bemerkenswertes Beispiel stellt sicherlich 6.13 dar.