Menschenwürde: Sammelbegriff oder Substanz?

Im Spielkeller der Theorie gibt es viele Varianten, wie das Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrechten gedacht wird.

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    Als Berufstätiger in Sachen Menschenrechte mit philosophischem Hintergrund sehe ich das Verhältnis pragmatisch: Die Menschenrechte sind im internationalen Recht kodifiziert, man kann sie genau bezeichnen und auflisten, obwohl sie durchaus in einem dynamischen Prozess der Rechtsauslegung und Rechtsentwicklung stehen.

    Die Menschenrechte haben den Zweck, bestimmte grundlegende Interessen aller menschlichen Individuen vor den Zumutungen irgendwelcher kollektiven Mächte zu schützen. Der Inbegriff dieser geschützten allgemeinmenschlichen Interessen wird als „Menschenwürde“ bezeichnet. Diese ist also ein zusammenfassender Sammelbegriff der menschenrechtlich geschützten Güter. Und weil die Menschenrechte per definitionem unveräusserlich sind, so ist dies auch die Menschenwürde. Kurzum: Der Begriff beinhaltet die Synthese dessen, was der internationale Konsens zu einem bestimmten Zeitpunkt als die menschenrechtlich zu schützenden einzelmenschlichen Interessen anerkennt.

    Zwei Punkte trüben diesen klaren Befund. Beide entspringen dem Hang des menschlichen Verstandes, Begriffe zu verdinglichen, so auch die Menschenwürde. Zum einen geschieht dies a) auf anthropologischer Ebene, zum andern b) im rechtlichen Bereich.

    a) Die Anthropologie lebt davon, irgendwelche Eigenschaften zum Wesen des Menschen zu erklären. Wegen ihrer herausragenden Stellung im Menschenrechtsdiskurs bietet sich die Menschenwürde für diese Funktion der menschlichen Essenz geradezu an. Hat sie einmal diese Position inne, so ist die Verkehrung naheliegend, die Menschenwürde zum substanziellen Grund zu verdinglichen, von dem die Menschenrechte abgeleitet werden. Dies ist eine unnötige Komplizierung der Dinge.

    Denn jetzt ist man versucht, diese seltsame Essenz, die Menschenwürde, mit jener anderen Würde, wie wir sie aus dem Alltagsdiskurs kennen, zu vermischen. Im Alltag kann jemand sich durchaus unwürdig verhalten, seine Würde aufs Spiel setzen, sie gar einbüssen. Ob und wieviel Würde einer Person in dieser Bedeutung zukommt, ist von vielen Faktoren abhängig. Denn im alltäglichen Sprachspiel ist die Zuschreibung von Würde eine komplexe Resultante aus sozialer Rolle, moralischen Standards, individuellem Verhalten, und der Psychologie der Selbstachtung.

    Wenn nun diese psychosoziale Auffassung mit dem menschenrechtlichen Synthese-Begriff der Menschenwürde vermischt wird, so entstehen eine Menge unnötiger und irreführender Fragestellungen, z.B. ob jemand aufgrund seines bösartigen schändlichen Verhaltens seiner Würde verlustig geht? Da gibt es dann zwei Antworten: Moralisch lautet sie vielleicht ja, menschenrechtlich aber sicher nein, denn was wären die Menschenrechte wert, wenn ihr Schutz vom moralischen Habitus eines Menschen abhängig gemacht würde?

    b) Art. 7 der Bundesverfassung lautet: „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.“ Hier wird also die Menschenwürde in ihrer verdinglichten Form zur eigenständigen Rechtsposition. Das ist ein Unsinn, denn es bedeutet, nebst der Garantie der einzelnen Grund- und Menschenrechte, die in der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen, auch noch deren Sammelbegriff zu garantieren. Das ist ein Kategorienfehler, an welchem die Verfassungsrechtler tatsächlich tüchtig herumrätseln und –fantasieren.

    Diese Art rechtlicher Verdinglichung führt mitunter zu absurden Fragestellungen. Zum Beispiel äusserte sich das Bundesgericht bei der Anwendung des Art. 12 BV „Recht auf Hilfe in Notlagen“ schon mehrmals dazu, was die Kriterien für ein „menschenwürdiges Dasein“ seien. Dabei wurde das Niveau im Zuge der Verschärfungen der Regelungen im Asylbereich hinuntergeschraubt bis zum gegenwärtigen „Nothilferegime“, bei dem das „menschenwürdige Dasein“ negativ definiert wird als Vermeidung einer Bettelexistenz. D.h. Alle staatlich garantierten Lebensbedingungen, die eine Person nicht zum Betteln zwingen, werden als menschenwürdig aufgefasst.

    Nur schon deshalb wäre es besser, auf den Rechtsbegriff der Menschenwürde ganz zu verzichten, auch in anderen Rechtsbereichen, etwa bei der Beurteilung von Diskriminierungsfragen oder von Situationen der „unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung“ (EMRK, Art 3). Überall gibt es die Gefahr eines Missbrauchs des Konzepts der Menschenwürde aufgrund eines viel zu grossen Ermessensspielraums, das dieser vage Begriff als Rechtsposition den rechtsanwendenden und den rechtsprechenden Instanzen einräumt.