Kontextualismus mit Realitätssinn

Inwiefern der Neue Realismus sich selbst missversteht und warum das nicht schlimm ist

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    1 Diagnostisches Intro

    Wissenschaften sind permanent fortschreitende Experimente rein intellektuell interessierter Subjekte – so lautet die Hoffnung, die allerdings so falsch wie sinnlos ist. Zahlreiche Einflüsse wirken auf die Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs und das sind zuweilen ganz praktische oder politische. Das ist in der Philosophie nicht anders und zeigt sich an der seit einiger Zeit laufenden Debatte um den Realismus. Hier drängen sich mindestens zwei Aspekte auf, die in die zeitgenössische „Wiedergewinnung des Realismus“ einfliessen: Erstens haben wir es mit branchen-typischen Wellenbewegungen zu tun, sodass einem Trend der komplementäre Gegentrend fast notwendig folgt; waren bis vor einigen Jahren nicht- oder anti-realistische Positionen auf dem Vormarsch, weil es ‚die‘ Realität nicht gäbe oder weil kulturell-synchrone wie auch temporal-diachrone Differenzen die Rede von einer von uns unabhängigen Wirklichkeit nicht zuliessen, hat sich das Blatt längst gewendet. Die Einwände gegen drohende Relativismen häuften sich und die Intuition, wirklichen Kontakt mit der Lebenswelt herstellen zu können, waren stark. Zweitens kamen insbesondere politische Versuche hinzu, die Bedingungen des Diskurses in Form von Wahrhaftigkeit, Nachsichtigkeit, Überprüfbarkeit aufzuweichen, sodass die proto-klassischen Wendungen wie ‚fake news‘ und ‚alternative facts‘ in Umlauf gerieten. Um deren Zirkulation zu stoppen, sind stärker realistische Positionen viel erfolgversprechender.

    Die Konjunktur des Neuen Realismus geht womöglich nicht auf ihre philosophischen Vorzüge zurück, als vielmehr auf einen programmatischen (Gegen)Trend sowie die Erosion des politischen und gesellschaftlichen Diskurses.

     

    2 Realismus, traditionell

    Die Grundthese des Realismus lautet bekanntlich:

    1. Ein Sachverhalt x ist unabhängig davon, dass und wie x erkannt wird.

    Mit dieser Behauptung soll die idealistische Position abgewiesen werden, wonach das Sein von x identisch mit dem x-Denken sei; doch der Mont Blanc existiert, ohne dass ich mich auf ihn in irgendeiner Weise beziehe. Existiert hingegen ein Kunstwerk, ohne dass es von jemandem rezipiert wird? Oder greift die Physikerin nicht in ein System ein, indem sie es erforscht? Offenbar verhält sich (i) unterschiedlich, je nach dem, was für x eingesetzt wird. Der Realismus kennt meistens noch eine weitere These:

    1. x kann so erkannt werden, wie x ‚wirklich‘ ist.

    Selbst wenn man (i) zustimmt, bliebe die Möglichkeit, dass man x nur als eine Chimäre erfassen könnte; und diese Möglichkeit reicht, um skeptische Positionen zuzulassen. (ii) soll dem einen Riegel vorschieben.

     

    3 Der Neue Realismus – Version 1: Sinnfeldontologie

    Der „Neue Realismus“ ist die Selbstbeschreibung einer Position, welche in Kontinuität zum traditionellen Realismus steht, aber in wiederum unterschiedlichen Versionen vorgetragen wurde. Der Philosoph Markus Gabriel hat unter anderem in seinem Essay Warum es die Welt nicht gibt jenem Ansatz eine programmatische Form gegeben. Drei Kernthesen lassen sich daraus destillieren. (A) Gabriel meint, dass alles nur existiert, in dem es in einem Kontext vorkommt. Diese Kontexte werden „Sinnfelder“ genannt. Zu existieren meint also, in einem Sinnfeld vorzukommen. So kommen Hexen im Sinnfeld der literarischen Gattung der Märchen vor, Nano-Teilchen im Zusammenhang der Feinkörperphysik und Gottes Existenz ist ein Aspekt religiöser Praxis.1 Dies hat den weitreichenden Effekt, dass es keine ‚nackten‘ und isolierten Gegenstände x mehr geben könne, sondern diese x-se innerhalb bestimmter Medien auftauchen (236). (B) Dennoch verteidigt Gabriel die Möglichkeit, die Welt, wie sie ‚wirklich‘ ist, zu erkennen (64, 222). Allerdings gehöre zu dieser Einsicht zugleich jene, dass es die eine Welt gar nicht gebe. Vielmehr gibt es zahlreiche, die wiederum viele Überlappungen aufwiesen (87). Wichtig sei, dass wir in den Wissenschaften nicht die Welt untersuchten, sondern Kontexte, in denen Wirkliches vorkomme, also Sinnfelder (265). (C) Nun gelte aber auch, dass es tatsächlich alles – Einhörner, Atome, Hexen, Gefühle, Schmerzen, Objekte – gebe, nur die Welt nicht; denn um zu existieren (so folgt aus (A)) müsste die Welt in einem Sinnfeld vorkommen, aber die Welt soll ja als „Bereich aller Bereiche“ (18) fungieren, der alle Sinnfelder beinhaltet. Nur in der Welt kann es etwas geben, sodass die Welt in der Welt als Sinnfeld nicht vorkommen kann, weil das ein schlichter Widerspruch wäre (96).

     

    4 Der Neue Realismus – Version 2: In-der-Welt-Sein

    Was in Gabriels Neuem Realismus noch vorausgesetzt bleibt, ist die sog. Kontaktthese, wie es die amerikanischen Philosophen Hubert Dreyfus und Charles Taylor nennen. Dabei handelt es sich um die Idee, wir müssten überhaupt erst mit der Welt eine Verbindung herstellen, um uns auf sie beziehen zu können. Beide Autoren treten dagegen für eine „Wiedergewinnung des Realismus“ ein, die diesen Dualismus zwischen der Welt und uns sowie den daraus folgenden Kontaktversuch unterlaufen möchte. Demnach leben wir nicht der Welt gegenüber, sondern unsere Existenz ist von einem „In-der-Welt-Sein“ (so schon Heidegger) gekennzeichnet, wie sich in Formen der Verkörperungen, der alltäglichen Routinen und einem durch und durch pragmatistischen Eingebundensein in die weltlichen Zusammenhänge zeige.2 Beide Autoren reichern die obige Umschreibung des Realismus folglich um eine dritte These an:

    1. Wir repräsentieren die Welt nicht, sondern sind schon immer im vorbegrifflich-praktischen Kontakt mit ihr, indem wir Teil von ihr sind und in ihr leben.

     

    5 Kontextualismus mit Realitätssinn

    Zwar ist es so, dass man (i) und (ii) ohne (iii) vertreten kann, aber umgekehrt macht (iii) verständlich, warum die Wahl der Sinnfelder nicht einfach arbiträr bleibt und inwiefern wir als Akteure und Partizipanten mit ihnen verbunden sind. Doch reibt sich (iii) mit den Bestimmungen von Gabriel (also (A) – (C)), zumal Dreyfus und Taylor die Rede von der einen Welt zulassen. Der Neue Realismus ist also ein Programm, nicht aber eine konsistente Bewegung. Gewichtiger ist, dass (i) mit (A) sowie (B) mit (C) nicht zusammenpasst, d.h. dass Sinnfelder Einfluss darauf haben, wie wir etwas wahrnehmen oder verstehen, und dass sich die These, die Welt lasse sich an sich erfassen, reibt an der Behauptung, sie existiere gar nicht. Was sich jedoch bei Gabriel andeutet, ist eine Sensibilität für die historisch wie kulturell variierenden Kontexte, innerhalb derer etwas (x) vorkommt. Und Dreyfus & Taylor helfen uns, genauer zu verstehen, was diese Kontexte konkret ausmacht, nämlich unser Involviertsein in eine ganz konkrete Lebenswelt. Damit aber sind die drei Thesen etwas zu revidieren:

    (i*) Ein Sachverhalt x ist unabhängig davon, dass x erkannt wird, aber nicht wie.

    (ii*) x kann so erkannt werden, wie x in einem Kontext (oder unter einer Perspektive) ‚wirklich‘ ist.

    (iii*) Wir sind schon immer im Kontakt mit der Welt als Teil von ihr und repräsentieren sie nur sekundär und kontext-abhängig.

    Die *-Revisionen reichen aus, um die eingangs genannten Versuche, unseren Sinn für Realität und Wahrheit zu untergraben, nun ihrerseits zurückzuweisen; allerdings ohne die Abhängigkeit unserer Erkenntnis und unseres Verstehens von ihren variablen Hintergründen kassieren zu müssen.3 Und daher ist der Neue Realismus weder neu noch dezidiert realistisch. Viel besser wäre er beschreiben als ein Kontextualismus mit ausgeprägtem Realitätssinn.


    Literaturangaben:

    Hubert Dreyfus und Charles Taylor, Die Wiedergewinnung des Realismus. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Berlin 2016.

    Markus Gabriel, Antike und moderne Skepsis, Hamburg 2008.

    ---, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013.

    ---, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018.


    1 Vgl. Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013, 13 und 125; Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Text.

    2 So Hubert Dreyfus und Charles Taylor, Die Wiedergewinnung des Realismus. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Berlin 2016, 101, 159, bes. 192.

    3 Markus Gabriel, Antike und moderne Skepsis, Hamburg 2008, 120; ders., Der Sinn des Denkens, Berlin 2018, 38 und 236.