Ein Beitrag von Anna W. von Huber

Gedanken zu einem tragischen Leben

Was ist eigentlich ein tragisches Leben? Wie sehr sind Tragik und Determination miteinander verbunden oder voneinander abhängig? Kann ich meiner Tragik entfliehen?

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    [...] und alle spielen, bis der Tod das Spiel beendet, um in einer anderen Welt die größere Wiederholung des gleichen Spiels fortzutreiben.“

     

    (Walter Benjamin, Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.I. Frankfurt am Main 1989, S. 136.)

     

     

    Die folgenden Gedanken befassen sich mit dem tragischen Helden. Was ist eigentlich ein tragisches Leben? Wie sehr sind Tragik und Determination miteinander verbunden oder voneinander abhängig? Kann ich meiner Tragik entfliehen? Was ist der Unterschied zwischen Tragik und Tragödie? Kann ich selbst entscheiden? Verfasse ich meine eigene Geschichte oder bin ich nur der Stift und nicht die Hand, die schreibt?

     

     

    Tragik, Tragödie und Trauerspiel

    Tragik ist das Ereignis, das im wirklichen Leben passiert, welches nicht wie die Tragödie geschrieben werden muss. Ein tragisches Leben kann das meine oder das deine sein. Deine Welt ist allerdings keine Tragödie - dazu fehlt der Autor. Ein tragisches Leben ist ein Leben, dessen Lebender nicht anders kann. Das Tragische in der Tragödie ist die Unentrinnbarkeit des Schicksals - der Tod, der sich in der Ausweglosigkeit des Fatalismus äußert. Tragik also ist etwas, das uns als Menschen in der Realität ergreift. Es kann jeden überfallen und niemand ist der Tragik seines Lebens gewappnet. Niemand kann ihr entfliehen. Denn gerade darin besteht die Tragik – dem Unausweichlichem zu zulaufen - wissentlich oder unwissentlich - und dabei nicht anders zu können. Doch eine Tragödie benötigt mehr als die Realität, mehr als das wirkliche Leben. Sie benötigt ein Publikum, damit sie sich als Kunst entfalten kann und den Zuhörer, den Betrachter, der diese Kunst im Element der Katharsis aufnimmt und bewertet. Die Tragödie als Kunst lebt davon gesehen und erlebt zu werden. Sie lebt davon betrachtet zu werden. Ein tragisches Leben kann, so traurig dies ist, unter Umständen niemals gesehen oder erkannt werden und trotzdem bleibt es ein tragisches Leben und trotzdem widerfährt dem dahinterstehendem Wesen ein tragisches Schicksal. Ein tragisches Leben existiert ohne Bedingungen. Es benötigt keine Bühne, keine Schrift und vorallem benötigt es keinen Autor.

     

    Ein Gedanke in diesem Zusammenhang:

    Vielleicht sollten wir als Menschen in der uns umgebenden Welt immerhin versuchen, die Tragik einzelner Wesen zu sehen und alles daran zu setzen, ihr entgegenzuwirken. Selbst wenn es eine Unausweichlichkeit bedeutet, so verliert sich bereits ein Funken an Traurigkeit, an Tragik, wenn man lernt zu sehen, wenn wir versuchen uns zu verstehen, zu hören und andere Menschen zum Lachen bringen.

     

    Wie schön das ist,

    Wenn dein Mund sich erhebt.

    Wie schön das ist,

    Wenn deine Augen sich verkleinern.

     

    Ich habe entschlossen.

    Es zu versuchen.

    Diesen Ausdruck

    Unendlich zu wiederholen.

     

    Dazu muss ich wohl,

    Üben und üben,

    Um dir zu zeigen,

    Wie schön das doch ist.

     

    Wenn ich dich

    Dabei sehe

    Zeigst du die Wahrheit

    Deines innersten Seins

     

    Und du zeigst mir,

    Dass es sich lohnt,

    Wenn ich für dich

    Versuche zu sein.

     

     

    Und was ist nun eigentlich eine Trägodie? Gemeinsames Element vorallem in der griechischen Tragödie der drei großen Tragödiendichter sind das Pathos der Sprache sowie das übermäßige Leid des Protagonisten. Der Held ist dabei, spätestens nach James Joyce´s Lektüre des Ullysess ein anderer, vielleicht sogar ein Antiheld. Das heroische Motiv lebt kurze Zeit mit Autoren und Komponisten wie Nietzsche und Wagner auf, stirbt aber schnell ab. In der griechischen Tragödie sind die zentralen Begriffe der Tragödie elos (Mitleid), phobos (Furcht) und katharsis (Reinigung). Katharsis wird als die seelische Reinigung des Zuschauers von bestimmten Affekten begriffen. Hierzu bietet es sich an Aristoteles´ Poetik zu lesen.

     

    Der Unterscheid zwischen Tragödie und Mythos, beziehungsweise Epos besteht darin, dass die Tragödie ein Geschehen darstellt, welches nicht abgeschlossen ist und in einem eigenen Zeitverhältnis innerhalb eines eigenen Kosmos abläuft. Die Zeit in der Tragödie ist nicht zwangsweise linear, im Epos und dem Mythos schon. Der Mythos erzählt eine Geschichte, die einen linearen Zeitablauf verfolgt. Sie kann weitererzählt werden. Sie ist ausgedehnt. Die Tragödie verläuft in ihrer eigenen Zeit. Sie spielt in einer anderen Sphäre. Walter Benjamin unterscheidet dabei zwischen einer messianischen Zeit und einer tragischen Zeit. (vgl. dazu Walter Benjamin, Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.I. Frankfurt am Main 1989, S. 134)

     

    Aristoteles schreibt in seiner Poetik dazu folgendes:


    Die Epik stimmt mit der Tragödie insoweit überein, als sie Nachahmung guter Menschen in Versform ist; sie unterscheidet sich darin von ihr, daß sie nur ein einziges Versmaß verwendet und aus Berichten besteht. Ferner in der Ausdehnung: die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen; das Epos verfügt über unbeschränkte Zeit und ist daher anders. (Poetik, 1449b, 10)

     

     

    Weiterhin gibt es in der Tragödie keinen Abschluss im linearen Verständnis. Wie bereits betont, muss das Verständnis der Tragödie auf einem anderen Verständnis für Zeit beruhen, um zu verstehen. Der Held stirbt nicht als Erlösung. Er stirbt nicht zufällig, noch an einer Krankheit. Er stirbt nicht aus Gerechtigkeit, noch aus absoluter Ungerechtigkeit. Er stirbt nicht eigenverschuldet, noch stirbt er ohne jede Beteiligung seines Todes. Er stirbt an Unsterblichkeit. Die Zeit ist unendlich und es ist kein beendetes Spiel, vielmehr scheint es, als entfalte sich die Zeit innerhalb der Tragödie und nimmt dafür einen zentralen Stellenwert ein.

    Weiterhin ist die klassische Tragödie dafür kennzeichnend, dass sie eine Fallhöhe in der Ständeklausel des Helden beschreibt. Diese Fallhöhe ist für das tragische Element entscheidend. Ödipus, Orestes, Hamlet, Maria Stuart alle sie haben gemeinsam, dass sie einer höheren Klasse angehören und mit dieser zum Abgrund fallen. Außerdem nennt die Tragödie im Gegensatz zur Komödie Namen. Es geht um die Handlung von Individuen. Sie sind keine Stereotypen wie beispielsweise der Geizige von Molière.

     

    Nun gibt es noch die Entdeckung des Trauerspiels im 18. Jahrhundert, welches unglücklicherweise verhäuft mit der Tragödie verwechselt wurde. Das Trauerspiel, welches sich im 18 Jahrhundert besonders mit den Autoren wie Dennis Diderot und Lessing entfaltet, löst diese Fallhöhe auf. Es entfaltet sich im Zeichen der Emanzipationsbewegung des Bürgertums und unterscheidet sich zudem vom Melodram.

     

    Das Trauerspiel ist in sich ungeschlossen, auch liegt die Idee seiner Auflösung nicht mehr innerhalb des dramatischen Bezirks. Und dies ist der Punkt, an dem sich – von der Analyse der Form aus – der Unterscheid zwischen Trauerspiel und Tragödie entscheidend ergibt. Der Rest des Trauerspiels heißt Musik.

    (Walter Benjamin, Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.I. Frankfurt am Main 1989, S. 137)

     

    Das tragische Element in einem Schicksal ist dasjenige, dass das Geschehen grundsätzlich hätte anders verlaufen können, aufgrund der Handlungen des tragischen Helden es jedoch nicht dazu kommt. Er kann nicht. Er kann ihm nicht entrinnen. Er findet das Zeichen nicht...

     

     

    Der tragische Held

     

    Harold assumed his watch was simply on the fritz and never even considered that it might be trying to tell him something. In fact, Harold had never once paid attention to his watch other to find out the time. […] And so, on this particular Wednesday evening as Harold waited for the bus his watch stopped. […] Thus Harold´s watch thrust him into the immitigable path of fate. Little did he know that this simple seemingly innocuous act would result in his imminent death. (Marc Forster, Stranger than Fiction, 1:32:16 min.)

     

     

    Was passiert mit dem tragischen Helden, der am Ende mit seinem Tode weiterleben wird? Wo verliert sich die Zeit? Sind wir dem Schicksal ergeben? Für Walter Benjamin jedenfalls ist das der tragische Held. Er verliert sich in seiner eigenen Wiederholung des immerwährend Gleichen. „Er stirbt an Unsterblichkeit Der Tod ist eine ironische Unsterblichkeit; das ist der Ursprung der tragischen Ironie.“ (Walter Benjamin, Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.I. Frankfurt am Main 1989, S. 134-135)

     

    Ansichten eines tragischen Lebens führen dazu, dass man die Unausweichlichkeit des Helden betrachtet. Der tragische Held sieht den Weg, den er nicht beschreiten soll, als einzigen Weg. Je weiter er sich in sein Schicksal bewegt, desto weniger vermag er zu sehen und desto mehr dreht er sich in einem Kreis um sich selbst. Harold vermag es nicht zu begreifen, dass eine kleine Änderung des Alltags für sein weiteres Handeln entscheidend ist und sein Leben zu verändern vermag. Es ist als würde er der Sphäre des Daseins erdrückt vom eigenen Kreis der Wiederholung gegenüberstehen. In diesem Spiel verliert er selbst das Auge zur Welt. Ob er nun den Weg, der ihn zur Fortbewegung führt, beschreiten wird oder nicht, spielt keine Rolle, da er sich selbst noch nicht im Spiegel des scheinenden Spiels zu erkennen vermag. Er wurde hinter Spiegeln des Scheins gestellt, die er nun eigenverschuldet immer größer zu einer unendlichen Mauer errichtet. In diesem Fall tritt Ironie ein. Er verliert die Macht seiner Zeit, indem er immer wieder zurück zu seinem Missglück verfällt und somit der Unendlichkeit ausgeliefert zu sein scheint. Er sieht zwar, wie der Stein rollt und schneller ist als er. Doch er kann es nicht lassen, ihm entgegen zu laufen und zu versuchen. Der Schritt der Erkenntnis und der Änderung fehlt und somit auch seine Möglichkeit der Flucht in eine neue Zeit. „Die Zeit ist für das empirische Geschehen nur eine Form, aber was wichtiger ist, eine als Form unerfüllte.“ (Walter Benjamin, Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.I. Frankfurt am Main 1989, S. 134)

     

     

    Schuld und Schuldlosigkeit des Helden

     

    So bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemanden der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers – bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen, wie Ödipus und Thysestes und andere hervorragende Männer aus derartigen Geschlechtern. (Aristoteles 1452b)

     

    Für Aristoteles ist der tragische Held jemand, der zwar die Verantwortung seiner Handlungen trägt und somit schuldig ist, dennoch aber zugleich seiner eigenen Motivation nicht entfliehen kann und damit schuldlos wird. Er ist schuldlos schuldig oder schuldig schuldlos.

     

     

    Ferner kann man handeln, ohne die Furchtbarkeit der Handlung zu erkennen, und erst später Einsicht in das Naheverhältnis erlangen, wie es beim „Ödipus“ des Sophokles der Fall ist. [...] Außerdem gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Die Person beabsichtigt aus Unkenntnis, etwas Unheilbares zu tun, erlangt jedoch Einsicht, bevor sie die Tat ausführt. (Aristoteles, 1453b)

     

     

    Der Held lebt sein Leben in einer Unendlichkeit der Schuld, welche er besonders in Unachtsamkeiten des Alltags umarmend empfangt. Die Schuld ist eine Schuld, die ihm zugeteilt worden ist und nicht gerecht für ihn zu sein scheint. Zugeteilt wird sie vom Autor selbst, in der Matrix vom Architekten. Doch in beiden Fällen ist er eine erdichtete Person, dieser tragische Held. Er ist schuld an seiner eigenen Handlung und kann dieser dennoch nicht entgegentreten.

     

     

    [...] Auch, wenn wir die Ehebrecher

    Zu ewiger Qualen verbannen,

    So haben wir Sympathie für sie.

    Denn wahre Liebe kann nicht verurteilt werden.

    Sie bleibt ein unstillbares Verlangen. [...]

     

     

    Der tragische Held wird zu einer Ironie. Stellt man sich die Frage, woher diese Unausweichlichkeit kommt, so gibt es zwei Antworten: Zum einen sei es der vom Wesen aus unausweichlich unabänderlicher Zug und zum anderen die bereits vor unserer Zeit vorgegebene Unausweichlichkeit, welche wir nur im Rahmen einer Perspektivenbetrachtung formen, doch niemals ändern können. Das Tragische liegt nun am Niemals – Ändern - Können, an der Unausweichlichkeit der eigenen Person, an der Unmöglichkeit sowohl von der Flucht vor sich selbst, sowie von der Veränderung vor sich selbst. Ein Beispiel dazu...

     

     

    Eines Tages betrachtete sich Lukas in einem Spiegel und beschloss sein Leben in seine eigenen Hände zu nehmen. Er beschloss seiner Innerlichkeit aus dem Weg zu gehen und selbst zu entscheiden, welche Personen er zu lieben hatte, welchen Menschen er zukünftig Aufmerksamkeit schenken wollte. Er beschloss dem bis dahin unausweichlichen Drang nach Selbstauflösung durch das Aufrichten einer anderen Person zu beenden. Er war guten Mutes an diesem Tag und war voller Tatendrang, endlich dem eigenen Ich, den Drang danach der Retter unglücklicher Menschen zu sein, aufzugeben und selbst gerettet zu werden. Lukas war kein Mann von Unverständnis. Er ahnte sehr wohl, woher dieser Wind wehte. Es war wohl der Drang danach, sich selbst aufzugeben und der Welt Dankbarkeit zu erteilen und gerade darin lag letztendlich sein Scheitern. Er konnte die Liebe, die er erhalten hatte, niemals zurückgeben und fühlte sich in der Schuld sich selbst für andere Menschen aufzugeben. Es fühlte sich für ihn nicht richtig an, wenn er sich mitteilte. Er hatte kein Recht darauf und aus diesem Grund sollte er sich selbst verlieren, indem er anderen Menschen ein neues Leben schenkte. Doch letztlich war gerade diese Selbstaufgabe seine Tragik, die ihn in immerwährend gleiche Wiederholungen des Schmerzes und der Verzweiflung und immer größer werdenden Selbstverlorenheit auflöste. An diesem Tag war es anders. Er wollte sich selbst neu entdecken. Er wollte ein neues Ich kreieren und dieses Wesen hinter sich lassen, es vergessen, nicht analysieren. Es beenden.

    Zuhause wieder angekommen am Abend dieses Tages plante Lukas ein Konzert für einen wunderbaren traurigen und unglaublich begabten Menschen, der ihm an diesem Tag in einem Café begegnete, der es als Musiker selbst nicht schaffen konnte.

     

     

    Ist dieser Mensch tragisch? Handelt es sich um ein tragisches Leben?

     

     

    Fast paradox erscheint die Deutlichkeit dieser Funktion im Augenblick der völligen Passivität des Helden, da gleichsam die tragische Zeit wie eine Blume aufbricht, aus deren Kelch der herbe Duft der Ironie steigt. (Walter Benjamin, Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.I. Frankfurt am Main 1989, S. 135)

     

     

    Wie kann man dem tragischen Leben entrinnen? Kann man ihm entrinnen?

    Ich weiß es nicht. Ich kann keine Antwort darauf geben. Nicht sollte dieser Gedanke eine Antwort sein für die Frage des tragischen Lebens.

    Es soll vielmehr selbst anregen weiter zu denken, sich inspirieren zu lassen und vorallem aber zu versuchen die Welt in der wir leben besonders im Schweigen zu sehen.

     

    Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen.“

    (Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.I. Frankfurt am Main 1989, S. 286)